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Mythos und Meilenstein

60 Jahre Antibabypille

Frauen können selbst entscheiden, ob sie beim Sex verhüten möchten. Das war nicht immer so – bis vor 60 Jahren eine kleine weiß-grüne Packung auf den Markt kam. Der Inhalt: Die »Pille«. Welche Rolle spielte sie in der sexuellen Revolution?
dpa
01.06.2021  13:00 Uhr

Im Nachkriegsdeutschland war Sex ein Tuschelthema. Man sprach einfach nicht darüber. Aufklärung und Sexualkunde gab es so gut wie nicht. Wenn Paare miteinander schlafen wollten, war das oft mit Angst besetzt: Was ist, wenn sie ungewollt schwanger wird? Verhütungsmittel waren verpönt. Paare mussten »aufpassen« oder waren auf Kondome angewiesen, wenn sie keine Kinder wollten.

Vor 60 Jahren hielt dann eine bahnbrechende Erfindung Einzug: Am 1. Juni 1961 brachte das Berliner Pharmaunternehmen Schering mit »Anovlar« die erste Antibabypille auf den westdeutschen Markt. In der DDR folgte 1965 »Ovosiston« von Jenapharm.

Heute kaum vorstellbar: Die weiß-grüne Packung »Anovlar« gab es zunächst nur für verheiratete Frauen. Wer sie haben wollte, war auf den guten Willen des Arztes angewiesen, der damals noch mehr »Halbgott in Weiß« war als heute, wie Beate Keldenich erzählt, die als Medizinerin zur Geschichte der Antibabypille in Deutschland geforscht hat.

Mit der Pille war Sexualität endgültig nicht mehr an Fortpflanzung gebunden. Bevor es sie gab, litten viele Frauen, weil sie ungewollt schwanger wurden. Nach ihrer Einführung sei die Zahl der Abtreibungen deutlich zurückgegangen, sagt Keldenich. Und die bis heute häufig einfach als »die Pille« bezeichnete Verhütungsform habe geholfen, das Thema Sexualität in die Öffentlichkeit zu bringen. »Es gab vorher keine Sprache dafür.«

Mit heutigen Pillen nicht mehr vergleichbar

Dass »Anovlar« ein Verhütungsmittel war, war etwas verbrämt. Keldenich liest den Beipackzettel vor: Das Mittel diente demnach der »Suspension der Ovulation unter Gewährleistung der regulären Monatsblutung«, eine Empfängnis sei nicht möglich. An dieser Wirkungsweise hat sich bis heute nichts verändert: Der Eisprung wird verhindert. In der Forschung gab es aber Quantensprünge. Heute ist nur noch ein Bruchteil der Hormone enthalten. Man unterscheidet zwischen kombinierten Pillen (mit Östrogenen und Gestagenen) und reinen Gestagen (Gelbkörper)-Pillen.

Besonders durch Mund-zu-Mund-Propaganda wurde die Pille in Deutschland in den 60er Jahren bekannt. Ihre Gegner fürchteten einen Verfall der Sitten. Papst Paul VI. brandmarkte 1968 Verhütungsmittel und aktive Geburtenregelung in seiner Enzyklika «Humanae vitae» als Sünde. Bis heute ist die Pille strengen Katholiken ein Dorn im Auge.

In den Jahren der Studentenrevolte 1968 war sie ein Teil der sexuellen Befreiung. Die Feministin Alice Schwarzer nannte sie einmal einen »Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation der Frauen«. Die Frauenbewegung der 70er-Jahre haderte aber auch mit dem Eingriff in den weiblichen Körper, nach dem Motto: »Warum ist frau für Verhütung zuständig, wo bleibt die Pille für den Mann?« Die gibt es bis heute nicht auf dem Markt.

Viel ist auch vom »Pillenknick« die Rede, dem Geburtenrückgang nach der Einführung. Beate Keldenich sieht dabei die Pille aber nicht als Hauptursache: Ihrer Meinung nach hat sie als Katalysator Entwicklungen in der Gesellschaft verstärkt, die ohnehin schon da waren. Ost und West unterschieden sich: In der DDR wurde die »Wunschkindpille« offensiv gehandelt, sie gab es ab 1972 kostenlos für Frauen. Vieles war im Osten familienfreundlich. Und es herrschte im Sozialismus ein besonderes Interesse an der Frau als Arbeitskraft.

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