Adipositas als chronische Krankheit ernst nehmen |
Zur Behandlung braucht es ein Konzept aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie. / Foto: Artemenko_Daria
Sie ist eine gefährliche chronische Krankheit und wird doch häufig nicht ernst genommen. Menschen mit Adipositas sind halt Genießer, heißt es dann zum Beispiel. »Oft sagt der Hausarzt, essen Sie weniger und bewegen Sie sich mehr«, weiß Michael Wirtz aus Erfahrung. Doch so einfach sei das Problem nicht in den Griff zu bekommen. Der 50-Jährige engagiert sich in der Adipositas-Selbsthilfe und bloggt rund um das Thema extremes Übergewicht. Wie viele Betroffene ist Wirtz seit seiner Kindheit übergewichtig.
»Schon vor der Corona-Pandemie war Adipositas eine Volkskrankheit, nun dürften mehr Menschen betroffen sein als je zuvor – darauf weisen erste Daten hin«, warnt Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG). Damit aus den Corona-Kilos keine Welle schwerwiegender Folgekrankheiten entstehe, müsse die Therapie gestärkt werden, fordert der ärztliche Leiter am Adipositas-Centrum des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). 13 Krebsformen werden mit Adipositas in Zusammenhang gebracht, zudem unter anderem Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall.
Nach Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) waren bereits vor Pandemiebeginn bundesweit rund 16 Millionen Erwachsene und etwa 800.000 Kinder und Jugendliche von Adipositas betroffen. Als adipös gelten Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30, Übergewicht beginnt bei einem BMI von über 25. Der BMI wird aus Körpergröße und -gewicht berechnet. Alarmierende Zahlen veröffentlichte auch die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrem Europäischen Fettleibigkeitsbericht 2022, demzufolge mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Europa übergewichtig oder adipös sind.
Derzeit beginne die Therapie oft zu spät, kritisiert Wirtz. »Menschen mit Adipositas sind in Deutschland unterversorgt.« Wichtig sei ein individueller Plan, der aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie bestehe. Es müssten auch mögliche psychische Erkrankungen abgeklärt werden. Zudem sei zu entscheiden, ob eine konservative Therapie ausreiche oder ein chirurgischer Eingriff möglich und notwendig sei. Laut Deutschem Ärzteblatt werden bundesweit etwa 20.000 adipositaschirurgische Operationen pro Jahr gemacht. Die am häufigsten angewendeten Verfahren führten zu einem Gewichtsverlust von 27 bis 69 Prozent des überschüssigen Körpergewichts nach mehr als zehn Jahren, hieß es. Allerdings sei eine lebenslange Nachsorge erforderlich.
Die Krankenkassen zahlten häufig erst die chirurgischen Eingriffe, aber keine anderen Programme, bemängelt Wirtz. »Die Folgekosten für die Gesellschaft werden dabei nicht bedacht.« Das Iges-Institut, ein Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen, schätzte die indirekten Kosten der Adipositas bereits 2016 auf 6 bis 33 Milliarden Euro pro Jahr.