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Die Wende kam mit HIV

Antivirale Arzneimittel

Medikamente, die gegen Viren gerichtet sind, werden Virustatika genannt. Sie sind umso wirksamer aber auch umso verträglicher, je gezielter sie sich gegen Strukturen richten, die nur in Viren beziehungsweise in Zellen vorkommen, in die ein Virus eingedrungen ist.
Theo Dingermann
14.05.2020  16:30 Uhr

Viren sind darauf spezialisiert, ihr eigenes genetisches Programm zu schützen und zu transportieren, um es dann mit Hilfe der Biochemie einer gekaperten eukaryontischen Zelle abzurufen und vermehren zu lassen.

Viren sind also keine Lebewesen, ganz anders als Bakterien. Bakterien sind mit einem eigenen biochemischen Apparat ausgestattet, der sich von eukaryontischen Zellen ganz deutlich unterscheidet. Und dies wiederum ist der Grund dafür, dass Antibiotika nur Bakterien schädigen, und nicht (oder nicht wesentlich) den Organismus, den sie infiziert haben.

Die hohe Spezifität der Antibiotika für Bakterien ist auch der Grund dafür, dass bakterielle Erkrankungen wie die Pest, Gonorrhoe und Syphilis oder auch die Cholera, die im Mittelalter Millionen von Menschen dahingerafft haben, heute so gut wie keine Rolle mehr spielen.

Ganz anders die viralen Erkrankungen. Lange Zeit hatte man keinerlei Arzneimittel, um diese Krankheiten spezifisch zu behandeln. Da griff man aus der Not heraus schon einmal zu drastischen Maßnahmen. Mediziner behandelten Virusinfektionen wie Krebserkrankungen mit Zytostatika. Ziel war es, die Zellen anzugreifen und zu zerstören, die von einem Virus infiziert waren, denn Möglichkeiten, das Virus selbst zu attackieren, hatte man ja nicht.

Logik verstehen

Das Blatt begann erst, sich zu wenden, als Wissenschaftler damit begannen, die »Programmierlogik« der Viren genau verstehen zu lernen. Anlass zu dieser im Rückblick sensationell erfolgreichen Forschung war der Beginn der AIDS-Epidemie, die sich Ende der 1970er Jahre von Kalifornien ausgehend auszubreiten begann.

Seitdem kennt man ganz genau die Logik, die in einem Virusprogramm steckt. Und mit dieser Kenntnis wurden molekulare Strukturen erkennbar, die nur in von Viren infizierten Zellen vorkommen. Das neue Wissen bot die Chance, die alte Schrotschussmethode mit Hilfe unspezifischer Zytostatika zu verlassen und stattdessen mit clever entwickelten Wirkstoffen die Vermehrung eines Virus extrem effektiv zu stoppen beziehungsweise in einzelnen Fällen sogar auszurotten.

Gelingt tatsächlich die Vernichtung des Virus, ist der Patient von der viral verursachten Krankheit geheilt. Ein prominentes Beispiel ist hier die Hepatitis-C-Infektion.

In anderen Fällen, wenn eine Heilung nicht möglich ist, lässt sich die Vermehrung der Viren so stark einbremsen, dass die Krankheit gewissermaßen zum Stillstand kommt. Das bedeutet, dass der Patient keine Krankheitssymptome mehr verspürt und auch niemanden mehr infizieren kann, obwohl das Virus immer noch da ist. Bekanntestes Beispiel: das HI-Virus, dem wir letztlich den Anstoß zur Therapie viraler Erkrankungen mit modernen Virustatika verdanken.

Ausgeklügeltes Programm

Stellvertretend für ganz viele Viren, die sich teilweise drastisch unterscheiden, stellen das humane Immundefizienz-Virus HIV und das Hepatitis-C-Virus (HCV) zwei relevante Virustypen dar, die für die Entwicklung von Virustatika enorm wichtig waren.

Beide Virustypen besitzen ein RNA-Genom. Dennoch sind sie sehr verschieden. Während HIV als Retrovirus (genauer gesagt, ein Lentivirus) klassifiziert ist, handelt es sich bei HCV um ein Flavivirus.

Ein kurzer Blick in den Vermehrungszyklus der beiden Viren verdeutlicht relevante Unterschiede (siehe Grafik).

HIV

  • Ein HI-Virus gelangt über den CD4-Rezeptor ins Zellinnere der T-Helferzellen, die nahezu die einzigen Zellen sind, die ein HI-Virus infizieren kann. Dabei verschmilzt die Membran, die das Virus umhüllt, mit der Plasmamembran der Zelle.
  • Danach entlässt das Virus sein RNA-Genom aus der schützenden Proteinhülle. Dann wird die RNA in eine DNA umgeschrieben. Das ist ein so bemerkenswerter Prozess, dass sich von diesem Prozess der Name »Retroviren« für diese Viren ableitet. Das Enzym, das nämlich DNA-Synthese ausgehend von der viralen RNA-Matrize katalysiert, ist die HIV-Reverse Transkriptase, eine RNA-abhängige DNA-Polymerase. Ein solches System war bis dato unbekannt. Es kommt in dieser Form in keiner lebenden Zelle, sondern nur in Retroviren vor. Eine ideale Zielstruktur also, um dagegen Wirkstoffe zu entwickeln.
  • Im nächsten Schritt wird die DNA-Kopie in das Genom der infizierten Zelle integriert. Auch für diesen Teilschritt existiert in der infizierten Zelle kein Enzym. Das virale Programm enthält jedoch die Information für das erforderliche Enzym, das als Integrase bezeichnet wird. Auch hier kann eine sehr spezifische Intervention ansetzen.
  • Nun wird die genetische Information von der normalen Biochemie der infizierten Zelle abgelesen und die gebildete Messenger-RNA (mRNA) an den Ribosomen in Protein umgeschrieben. Dabei entsteht ein großes, virales Protein, das in dieser Form funktionslos ist. Erst durch einen Prozessierungsschritt, der von einer viralen HIV-Protease katalysiert wird, entstehen funktionsfähige Proteine. Dabei handelt es sich um die bereits erwähnten viralen Enzyme und um Proteine, mit dem das Virus sein RNA-Genom in neuen Viruspartikeln schützt.

HCV

  • Das HCV-Virus wird endosomal aufgenommen und gibt dann sein RNA-Genom in der infizierten Zelle frei.
  • Die RNA hat zwei unmittelbare Funktionen:
    – Einmal wird sie als mRNA an den Ribosomen der infizierten Zelle zu einem großen Vorläuferprotein translatiert. Ähnlich wie im Falle von HIV muss auch bei HCV eine viruseigene HCV-Protease (NS3/4A) dieses Vorläuferprotein in einzelne Funktionseinheiten zerschneiden. Klar also, dass diese Protease wiederum ein willkommenes Ziel für einen Angriff von spezifischen Wirkstoffen bietet.
    – Zum anderen ist die virale RNA aber auch Matrize für eine RNA-abhängige HCV-RNA-Polymerase. Auch ein solches Enzym, das eine RNA-Kopie ausgehend von einer RNA-Matrize herstellt, gibt es in keiner lebenden Zelle. Somit bietet sich auch dieses Enzym als ideales Target für eine medikamentöse Intervention an, zumal die HCV-RNA-Polymerase die RNA, die sie eben hergestellt hat, gleich danach noch einmal kopiert, um neue genomische RNA-Kopien für die nächste Virusgeneration bereitzustellen.
  • Fast alle diese Prozesse finden an intrazellulären Membranen statt. Damit dabei alles geordnet zugeht, ist ein großer Proteinkomplex (NS5A) erforderlich, der sich ebenfalls als ein ganz wichtiges Target für moderne HCV-Arzneimittel herausgestellt hat.

Für viele der anderen Viren, wenn auch längst nicht für alle, gibt es ganz analoge molekulare Zielstrukturen, über die man eine Virusinfektion teilweise extrem erfolgreich behandeln kann. Eine große Übersicht der wichtigsten Wirkstoffe, mit denen sich heute etliche Virusinfektionen sehr erfolgreich behandeln lassen, bieten die folgenden Tabellen.

DNA-Viren
Herpes-Viren
HSV 1 und 2 DNA-Polymerase-Inhibitoren (Nukleosidanaloga) Aciclovir, Valaciclovir, Famciclovir
Zytomegalievirus (CMV) DNA-Polymerase-Inhibitoren (Nukleosid-/Nukleotidanaloga) Ganciclovir, Cidofovir
Zytomegalievirus (CMV) DNA-Polymerase-Inhibitoren (Pyrophosphatanalogon) Foscanet
Hepadnaviren
Hepatitis B DNA-Polymerase-Inhibitoren (Nukleosid-/Nukleotidanaloga) Lamivudin, Telbivudin, Entecavir,
Adefovir, Tenofovir
Tabelle 1: Moderne antivirale Arzneimittel gegen DNA-Viren
RNA-Viren
Flaviviren
Hepatitis C (HCV) HCV-RNA-Polymerase-Inhibitoren (NS5B) Sofosbuvir, Dasabuvir
Hepatitis C (HCV) NS5A-Inhibitor Daclatasvir, Ombitasvir, Ledipasvir, Pibrentasvir, Elbasvir, Velpatasvir
Hepatitis C (HCV) HCV-Protease-Inhibitor (NS3/4A) Simeprevir, Telaprevir, Boceprevir, Paritaprevir/r, Voxilaprevir, Glecaprevir, Grazoprevir
Orthomyxoviren
Influenzavirus A, B Neuraminidasehemmer Oseltamivir, Zanamivir
Retroviren
Humanes Immundefienzvirus (HIV) HIV-Reversetranskriptase-Inhibitoren Abacavir, Didanosin, Zidovudin, Stavudin, Lamivudin, Emtricitabin, Tenofovir, Nevirapin, Efavirenz, Etravirin, Rilpivirin
Humanes Immundefienzvirus (HIV) HIV-Protease-Inhibitoren Atazanavir, Darunavir, Fosamprenavir, Indinavir, Lopinavir, Nelfinavir, Ritonavir, Saquinavir, Tipranavir
Humanes Immundefienzvirus (HIV) HIV-Integrase-Inhibitoren Raltegravir, Elvitegravir, Dolutegravir, Bictegravir
Tabelle 2: Moderne antivirale Arzneimittel gegen RNA-Viren

SARS-CoV-2

Besonders interessant wäre es, etwas über Virustatika gegen die aktuelle Covid-19-Erkrankung zu lernen. Leider stehen seriöse Behandlungsoptionen derzeit noch nicht zur Verfügung. Unter anderem werden folgende Wirkstoffe beziehungsweise Wirkstoffkombinationen derzeit international klinisch getestet:

  • Remdesivir: Dies ist ein RNA-Polymerase-Hemmstoff, der ursprünglich zur Behandlung von Ebola-Infektionen entwickelt wurde.
  • Chloroquin/Hydroxychloroquin in Kombination mit Azithromycin wird auch immer vom amerikanischen Präsidenten ins Spiel gebracht. Es gibt Hinweise, dass diese Kombination höchstens eine schwache Wirksamkeit zeigen könnte. Beunruhigend ist allerdings die Tatsache, dass beide Wirkstoffe die QT-Zeit verlängern, wodurch ein plötzlicher Herztod droht.
  • QT-Zeit verlängernd wirkt auch die Kombination Lopinavir/Ritonavir, die erfolgreich zur Behandlung der HIV-Infektion eingesetzt wird.
  • Interessant könnte der Protease-Inhibitor Camostat sein, der in Japan zur Behandlung der chronischen Pankreatitis zugelassen ist. Die Protease, die Camostat hemmt, dient als Corezeptor für das erfolgreiche Eindringen eines SARS-Cov-2-Virus in eine Zelle.

Dies sind wahrscheinlich die aussichtsreichsten Wirkstoffkandidaten. Ob sie tatsächlich die klinische Prüfphase überstehen, ist mehr als zweifelhaft. Das liegt auch daran, dass man versucht, so gut es geht Abkürzungen bei der Wirkstoffentwicklung zu nehmen. Keiner dieser Wirkstoffe ist nämlich ganz gezielt für eine Covid-19-Behandlung entwickelt worden.

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