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Interview

Schmerzgedächtnis mit Folgen

31.01.2008  09:37 Uhr

Interview

Schmerzgedächtnis mit Folgen

PTA-Forum / Zwischen sechs und sieben Millionen Bundesbürger leiden unter chronischen Schmerzen. Besonders fatal ist, dass sich bei ihnen ein Schmerzgedächtnis ausprägt. Der im Schmerzzentrum Frankfurt am Main tätige Anästhesist und Schmerzspezialist Dr. Hubert Miles berichtet PTA-Forum über die Entstehung und die Therapie chronischer Schmerzen.

PTA-Forum: Was ist eigentlich ein Schmerzgedächtnis?
Miles: Phantomschmerzen brachten Wissenschaftler schon vor Jahrzehnten auf die Idee, es müsse eine Art Schmerzgedächtnis existieren. Heute wissen wir, dass es Areale im Gehirn gibt, die dafür verantwortlich sind, dass der Mensch Berührung oder Schmerz empfindet. Diese Areale können ihre Funktion verändern, das macht die Plastizität des Gehirns aus.

Solche Umstrukturierungen können zum Beispiel durch andauernde Schmerzreize hervorgerufen werden. Das den Schmerz verarbeitende Areal wird derart überflutet, dass es auch dann mit dem Symptom Schmerz reagiert, wenn aus der Peripherie gar kein Schmerzsignal mehr ankommt. Das bedeutet: Sogar wenn die Ursache des Schmerzes beseitigt ist, hält er weiter an. Die Erkrankung wird chronisch.

PTA-Forum: Wie lange muss Schmerz einwirken, um das Schmerzgedächtnis zu aktivieren?
Miles: Lange galt als Grenze ein Dauerschmerz von sechs Monaten. Heute wissen wir, dass bereits drei Monate oder manchmal weniger ausreichen, zum Beispiel bei der Gürtelrose. Wie schnell sich das Schmerzgedächtnis ausbildet, hängt auch davon ab, ob es sich um einen Dauerschmerz oder nur um Attacken handelt. Bei reinen Attacken mit schmerzfreien Intervallen ist die Gefahr einer Chronifizierung geringer. Zudem spielen neben der individuellen Schmerzverarbeitung noch mögliche Begleiterkrankungen der Patienten eine große Rolle: Leidet ein Betroffener zum Beispiel zusätzlich unter Depressionen, ist die Wahrscheinlichkeit für eine Chronifizierung größer.

PTA-Forum: Werden dabei Nervenzellen zerstört?
Miles: Nein, die Nervenzellen gehen nicht unter, sondern sie ändern lediglich ihre Funktion und geben überwiegend die Schmerzempfindung weiter. Vereinfacht gesagt: Vor Beginn der chronischen Schmerzerkrankung waren sie beispielsweise für das Berührungsempfinden zuständig, dann deuten sie alle Informationen nur noch als Schmerz.

PTA-Forum: Wie lernen diese Zellen, wieder ihre ursprüngliche Funktion zu übernehmen?
Miles: Wir wissen, dass dies grundsätzlich möglich ist, dafür aber komplexe und komplizierte Prozesse im Gehirn stattfinden müssen. Um das zu erreichen, behandeln wir nach einem multimodalen Konzept. Dazu gehört zum Beispiel die Gabe von Medikamenten, die die Schmerzschwelle anheben.

Arzneimittel wie Amitriptylin und Doxepin kommen eigentlich gegen Depressionen zum Einsatz. In einer geringen Dosierung von 25 bis 50 Milligramm pro Tag beeinflussen sie verschiedene Neurotransmitter derart, dass sich die schmerzverarbeitenden Gehirnareale restrukturieren. Das bedeutet: Antidepressiva helfen, das Schmerzgedächtnis zu löschen.
Ansonsten benutzen wir weitere medikamentöse Therapien in Anlehnung an das WHO-Stufenschema, das ja ursprünglich zur Behandlung von Tumorschmerzen entwickelt wurde. Um die Entstehung chronischer Schmerzen beziehungsweise ein Fortschreiten der Chronifizierung zu verhindern, ist es zwingend erforderlich, dass die eingesetzten Medikamente ausreichend dosiert werden.

PTA-Forum: Wie kommen die Patienten mit den Opioiden zurecht?
Miles: Viele Patienten befürchten eine psychische Abhängigkeit. Einige bekommen Angst, weil sie ihren Zustand dadurch als besonders schwer einschätzen. Diese Befürchtungen können wir ihnen fast immer nehmen. Eine körperliche Abhängigkeit ist nicht zu befürchten, wenn man Opioide ausschleichend absetzt. Das Risiko für eine psychische Abhängigkeit lässt sich durch den Einsatz von Depotpräparaten minimieren.

Allerdings müssen die Ärzte kontrollieren, ob die Patienten im Alleingang die Dosis steigern. Deshalb plädieren wir dafür, dass ein und derselbe Arzt diese Medikamente verschreibt. Sonst kann ein »Ärzte-Hopping« des Patienten dazu führen, dass Opioide von verschiedenen Ärzten und damit in zu großen Mengen verordnet werden.

PTA-Forum: Wie erklärt man sich den Effekt topischer Analgetika?
Miles: Zunächst kann schon das Einreiben einen positiven Effekt haben: Auf Rückenmarksebene werden alle Signale, die aus der Körperperipherie kommen, zusammengeführt. Hier wird festgelegt, welcher Reiz ins Gehirn weitergeleitet wird und welcher sozusagen auf Rückenmarksebene stecken bleibt. Reibt ein Patient die schmerzende Stelle sehr intensiv ein, überstrahlt dieses Signal den Schmerzreiz, so dass dieser das Zentrale Nervensystem gar nicht mehr erreicht.

Topische Schmerzmittel können nach Resorption durch die Haut Entzündungsreaktionen und damit die Entstehung von Schmerzreizen unterdrücken. Im Rahmen der Selbstmedikation eignen sich topische NSAR aus meiner Sicht bei aktivierter Arthrose, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, insbesondere bei akuten Schüben, sowie bei chronischen Muskel- und Gelenkschmerzen.

PTA-Forum: Welche nicht medikamentösen Therapien helfen?
Miles: Zur multimodalen Schmerztherapie gehören auch invasive Verfahren, die Akupunktur sowie schmerzpsychologische und physiotherapeutische Behandlungsmethoden. Bei qualifizierten Schmerzpsychologen lernen die Patienten verhaltenstherapeutische Techniken zur Schmerzbewältigung. Hinzu kommen Entspannungstechniken wie Biofeedback und Autogenes Training.

Ganz wichtig ist das Erfragen psychosozialer Belastungsfaktoren. Hierbei versucht der Psychologe herauszufinden, welche Faktoren die Chronifizierung des Schmerzes unterstützen. Zum Beispiel führen Schmerzen zu sozialem Rückzug oder sogar zum Verlust der Arbeit. Das bringt zahllose Probleme im familiären und sozialen Umfeld mit sich, die den Schmerz wiederum verstärken.

PTA-Forum: Welche Rolle spielt die Angst des Patienten vor erneutem Schmerz?
Miles: Die schmerz- und angstverarbeitenden Strukturen im Gehirn stehen miteinander in Verbindung. Daher reicht manchmal schon die Angst vor erneutem Schmerz aus, um eine Schmerzempfindung auszulösen. Angst vor erneutem Schmerz  ist in ihrer Wirkung als Schmerztrigger nicht zu unterschätzen, führt zu typischem Vermeidungsverhalten und muss bei Schmerzpatienten mitbehandelt werden.

PTA-Forum: Wie lange dauert die Therapie des chronischen Schmerzes, um das Schmerzgedächtnis umzustrukturieren?
Miles: Das kann je nach Schmerztyp sowie Dauer und Intensität der Schmerzerkrankung sehr unterschiedlich lang dauern. Eine Behandlung über mehrere Jahre ist nichts Ungewöhnliches.

PTA-Forum: Wie können PTA und Apotheker Patienten beraten, die permanent unkontrolliert Schmerzmittel einnehmen?
Miles: Sie müssen den Patienten unbedingt zu einem Besuch bei einem Schmerzspezialisten bewegen, denn ein Schmerzmittelentzug ist für die Betroffenen häufig sehr unangenehm, kostet viel Kraft und Willensstärke und bedarf einer professionellen Begleitung. Gerade Patienten mit einem medikamenteninduzierten Kopfschmerz leiden vorübergehend unter Entzugssymptomen wie Unruhe, Zittern, Gereiztheit, Schlafstörungen und verstärkten Schmerzen.