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Arzneimittel oder Medizinprodukt

Auf die Wirkweise kommt es an

09.01.2018  09:54 Uhr

Von Edith Schettler / Die Markteinführung von Arzneimitteln ist aufwändig und teuer. Medizinprodukte hingegen können oft in verkürzten Testverfahren ohne klinische Prüfung in Verkehr gebracht werden. In Grenzfällen ist es deshalb für die Hersteller lukrativ, ein Erzeugnis als Medizinprodukt zu deklarieren, soweit es im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen möglich ist.

Die Einsatzgebiete für Arzneimittel und Medizinprodukte ähneln sich definitionsgemäß. Beide dienen dazu, Krankheiten zu verhüten, zu behandeln oder zu lindern. Das Medizinproduktegesetz (MPG § 3) nennt dabei ausdrücklich Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen oder andere Gegenstände einschließlich der eingesetzten Software. Arzneimittel hingegen definiert das Arzneimittelgesetz (AMG § 2) ausschließlich als Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen. Somit unterscheidet sich die äußere Form von Arzneimitteln und Medizinprodukten in bestimmten Fällen nicht – beide können beispielsweise als Lutschtabletten oder Spül­lösungen im Handel sein.

Entscheidend für die Eingruppierung ist die Art und Weise, wie das Produkt seine Wirkung erzielt. Wirkt es auf pharmakologische oder immunolo­gische Weise, handelt es sich um ein Arzneimittel. Kommt die Wirkung jedoch auf physikalischem Wege zu Stande, haben wir ein Medizinprodukt vor uns. Anhand der Umverpackung ist ein Arzneimittel auf den ersten Blick zu erkennen­. Es trägt eine Zulassungsnummer als sichtbares Zeichen für das erfolgreich durchlaufene, gesetzlich vorgeschriebene Zulas­s­ungsverfahren. Auf einem Medizin­produkt befinden sich das europaweit gültige CE-Kennzeichen und möglicherweise die Kennnummer der Benannten Stelle. Benannte Stellen sind unabhängige Prüfla­boratorien, wie beispielsweise der TÜV oder die DEKRA, die für ein bestimmtes Aufgabengebiet vom Staat benannt und in ihrer Tätigkeit überwacht werden.

 

Die Kenn­nummer neben dem CE-Kenn­zeichen ist das äußer­liche Merkmal dafür, dass das Produkt von einer­ Benannten Stelle in einem­ Konformitätsbewertungsverfahren auf seine­ Anwendungssicherheit geprüft wurde. Wenn ein Medizin­produkt in einer niedrigen Risikoklasse angesiedelt ist, wie Rollstühle oder Krankenhausbetten, darf der Hersteller selbst eine Konformitätserklärung abgeben, die dann von der zuständigen Behörde geprüft wird. Eine Benannte Stelle wird in diesen Fällen nicht wirksam. Die Marktzulassung in Folge einer Konformitätserklärung ist am Fehlen der Kennnummer der Benannten Stelle neben dem CE-Kennzeichen zu erkennen.

 

Arzneimittelähnliche Medizinprodukte müssen wegen ihres Einsatz­gebietes, das demjenigen eines Arz­neimittels entspricht, vor ihrer Markteinführung immer von einer Benannten Stelle geprüft werden.

Erstattung oder nicht

Für Arzneimittel ist die Frage nach der Erstattung durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) relativ einfach beantwortet. Für Erwachsene darf der Arzt nur verschreibungspflichtige Arzneimittel zu Lasten der GKV verordnen, abgesehen von einigen Ausnahmen wie Lifestyle-Arzneimitteln. Für Kinder bis zu 12 oder 18 Jahren, je nach Krankenkasse, werden auch apothekenpflichtige Arzneimittel von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt.

 

Arzneimittelähnliche Medizinprodukte sind grundsätzlich nicht verschreibungspflichtig. In der Anlage V der Arzneimittel-Richtlinie sind alle arzneimittelähnlichen Medizinprodukte aufgeführt, für die die Gesetzlichen Kranken­kassen die Kosten übernehmen. Hersteller können beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) die Aufnahme ihrer Produkte in die sogenannte Ausnahme­liste gebührenpflichtig beantragen. Der G-BA legte fest, dass der diagnos­tische oder therapeutische Nutzen­ dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen muss und eine andere zweckmäßige Behand­lungsmöglichkeit nicht ver­fügbar sein darf. Die Genehmigung gilt nur befristet, meist für fünf Jahre, und kann nach Ablauf auf Herstellerantrag erneuert werden. Deshalb ist die Ausnahme­liste der erstattungsfähigen arzneimittelähnlichen Medizinprodukte einem ständigen Wandel unterworfen.

 

Obwohl sich die Ärzte bei ihren Verschreib­ungen an die Arzneimittel-Richtlinie halten müssen, obliegt die letzte Prüfpflicht darüber den Apotheken. In regelmäßigen Abständen sollten sie sich deshalb auf der Internet­seite des G-BA über den aktuellen Inhalt informieren (https://www.g-ba.de/informationen/richtlinien/anlage/120/). Aktuell (Stand 19. 10. 2017) enthält die Liste 83 Produkte, hauptsächlich Spül- und Trägerlösungen, Laxan­tien und Läusemittel.

Produkte der Ausnahmeliste

Ein Großteil der wässrigen Lösungen zum Spülen von Körperhöhlen oder zum Auflösen von injizier- und in­fundierbaren Arzneistoffen ist als Medizin­produkt auf dem Markt. Diese Lösungen haben selbst keine pharmakologische Wirksamkeit. Sie unter­stützen lediglich die Applikation des Arznei­stoffes oder befeuchten und reinigen bestimmte Körperregionen. Typische­ Produkte für diese Gruppe arzneimittelähnlicher Medizinprodukte sind isotonische Kochsalzlösungen, Wund- und Augenspüllösungen und steriles Wasser.

 

In der Ausnahmeliste sind die Anwendungsgebiete genau formuliert, für die die Produkte auf Kassenrezept verordnet werden dürfen. Die Apo­theken sind nicht verpflichtet, die Diagnose zu überprüfen. Im Gegensatz zur Verordnung von Hilfsmitteln muss der Arzt diese auch nicht auf dem Rezept vermerken.

 

Augenspüllösungen, wie etwa AMO® und Endosol®, erstatten die gesetz­lichen Krankenkassen zum Beispiel­ nur im Zusammenhang mit operativen Eingriffen am oder im Auge, für nicht genauer definierte andere therapeutische Maßnahmen oder zur Diagnostik. Die Anwendung von isotonischer Kochsalzlösung (zum Beispiel BelAir® NaCl 0,9 %) ist nur als Träger­lösung für diejenigen Arzneimittel als Kassenleistung zulässig, für die in deren­ Fachinformation der Zusatz einer Trägerlösung zwingend vorgeschrieben ist, so zum Beispiel für bestimmte Inhalate.

Einen großen Teil der Produkte der Ausnahmeliste bilden die Laxantien auf Macrogolbasis, zum Beispiel Isomol®­. Macrogole (oder Polyethylenglykole) gehören zur Gruppe der osmotisch wirksamen Laxantien. Sie binden im Darmlumen Wasser über Wasserstoffbrücken und vergrößern damit die Stuhlmenge, was durch einen Volumenreiz auf die Darmwand zur Ent­leerung des Dickdarmes führt. Der Vorteil der Macrogole liegt darin, dass sie frei von Nebenwirkungen wie beispielsweise den für die Lactulose typischen Blähungen sind. Für die Behandlung einer Obstipation bei Kindern bis zu zwölf Jahren und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen bis zum 18. Lebensjahr gibt es keine Einschränkungen der Erstattungsfähigkeit. Für Erwachsene werden die Kosten von den Kranken­kassen bei einer Obstipation nur in bestimmten Fällen übernommen, etwa im Zusammenhang mit einem Tumorleiden, bei Mukoviszidose oder als Folge der Therapie mit Opiaten, Opioiden oder phosphatbindenden Arzneimitteln. Häufig bringen die Hersteller auch Macrogole in Kombina­tionen mit Elektrolyten als Arzneimittel in den Handel, zum Beispiel Ma­cro­gol Hexal® plus Elektrolyte. Diese sind neben den gelisteten Medizin­produkten verordnungsfähig.

 

Mittel gegen Ektoparasiten auf der Basis von Dimethicon, wie Dimet®20, verschließen die Atemöffnungen der Läuse, ihrer Larven und Nissen und bringen sie damit zum Ersticken. Kokosöl, wie in Jacutin®Pedicul oder Mosquito®, wirkt ebenfalls auf physikalischem Wege, indem es das Haar ummantelt und den Wirtswechsel für die Läuse erschwert. Seine laut Umweltbundesamt »auffallend schnell abtötende Wirkung auf alle Läusestadien« könnte aber auch mit den im Öl enthaltenen Fettsäuren Capron- und Caprylsäure zusammenhängen. Kokosöl kann deshalb bei Läuseepidemien in Kinderein­richtungen auch prophy­laktisch an­gewendet werden. Eine Wiederholung der Behandlung nach acht bis zehn Tagen­ tötet auch die Läuse ab, die die Erstbehandlung überlebt haben, und sollte deshalb nicht vergessen werden. Für Erwachsene erstatten die Krankenkassen die Kosten für diese Mittel nicht.

Schlankheitsmittel und Tränenersatz

Neben den erwähnten Laxantien gehören auch Schlankheitsmittel zu den osmotisch wirksamen Medizinprodukten. Sie enthalten Quellmittel auf der Basis von Alginaten, wie CM3®Alginat, oder anderen Gelbildnern, die zusammen mit Flüssigkeit im Magen aufquellen und so ein Sättigungsgefühl vermitteln. Wichtig für die Wirkung ist es, dass der Anwender das Mittel vor den Mahlzeiten mit reichlich Wasser einnimmt. Schlankheitsmittel auf der Basis von Chitosanen oder Polyglucos­amin (zum Beispiel Formoline®L 112)sollen Fette aus der Nahrung und Gallensäuren an sich binden und damit die Kalorienaufnahme vermindern und den Cholesterinspiegel senken. Sie werden in Verbindung mit einer fett­reichen Mahlzeit eingenommen. Die gesetzlichen Krankenkassen erstatten diese Mittel nicht, auch nicht bei einer ausgeprägten Adipositas.

 

Unsicherheiten gibt es in den Apotheken mitunter, wenn Ärzte salinische Nasentropfen oder osmotisch wirk­same Lutschtabletten für Kinder verordnen. Ein Blick in die Ausnahmeliste der Anlage V schafft schnell Klarheit, denn diese Medizinprodukte sind nicht mit aufgeführt und demzufolge auch für Kinder nicht erstattungsfähig.

 

Leicht hypertone Salzlösungen, etwa Emser®Sinusitis-Spray, erhöhen in der Nase die Schlagfrequenz der Zilien und lassen die Schleimhaut durch einen osmotischen Effekt abschwellen. Isotonische Salzlösungen (zum Beispiel Bepanthen® Meerwasser-Nasenspray) hingegen befeuchten und reinigen die Nasenschleimhaut.

 

Lutschpastillen auf Salzbasis, wie Emser® Pastillen, zeigen ähnliche Effekte auf die Schleimhaut des Rachens. Sie befeuchten und lösen schleimige Beläge. Lutschtabletten, die Xanthan, Carbomer oder Hyaluronsäure enthalten (so Gelorevoice®) bilden mit dem Speichel ein Gel, das die durch Husten, langes Sprechen oder Zigarettenrauch ausgetrocknete Oberfläche der Rachenschleimhaut überzieht und damit Heiserkeit und Hustenreiz dämpft. Seit etwa einem Jahr ist ein Medizinprodukt zur Behandlung von Sod­brennen, gas­troösophagealem Reflux und Gastritis unter dem Markennamen NeoBianacid® auf dem Markt. Ein Komplex­ aus Polysacchariden und Mineralien überzieht die Schleimhaut mit einem Film, der sie vor dem Kontakt mit Magen­säure schützt. Die Lutschtabletten eignen sich auch für Kinder ab sechs Jahren, Schwangere und Stillende.

 

Auch befeuchtende Augentropfen nutzen die Eigenschaften von Gel­bildnern. Hyaluronsäure (zum Beispiel Hylo-Comod®), Povidon (wie Lacophthal®) oder Zellulosederivate (etwa Berberil®Dry Eye, Artelac®) werden mit Vitaminen, Polysacchariden oder Lipiden­ in isotonischen Lösungen zum Ersatz der Tränenflüssigkeit verwendet. Das einzige Tränenersatzmittel, welches zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden darf, ist Hylo®-Gel für Patienten, die krankheitsbedingt unter einer Keratokonjunktivitis sicca leiden. Diese Erkrankungen sind das Sjögren-Syndrom, eine fehlende oder geschädigte Tränen­drüse, Facialisparese (eine Lähmung des Gesichtsnervs) oder Lagophthalmus (fehlender Lidschluss).

 

Medizinprodukte sind in Europa im Hinblick auf Funktionalität, Sicherheit und Qualität den Arzneimitteln ebenbürtig. Die verantwortlichen Hersteller sind in ein Risikomanagement-System eingebunden, das nach der Markt­einführung des Produktes jährliche Kontrollen und Audits vorsieht und ein Melde­system für sicherheitsrelevante Zwischen­­fälle bei der Anwendung beinhaltet. /

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