Unruhige Zeiten |
09.01.2018 09:53 Uhr |
Von Caroline Wendt / Demenz-Patienten sind häufig von innerer Unruhe getrieben. Eine Ruhelosigkeit, die für die Betroffenen selbst, aber auch für Angehörige und Pflegende eine große Belastung darstellt. Sie ist Teil der Erkrankung, kann jedoch zusätzlich durch andere Ursachen verstärkt werden.
Verwirrt, orientierungslos, allein an einem fremden Ort: Das Leben mit Demenz ist alles andere als leicht. Getrieben von ständiger Unsicherheit entwickeln 76 bis 96 Prozent aller Betroffenen im Laufe ihrer Erkrankung Symptome wie Unruhe, Aggressivität oder Apathie. Für Patienten mit Gedächtnisstörungen ist die Welt um sie herum ständig im Wandel. Da ist es verständlich, dass sie sich an einzelne Bezugspersonen klammern, dem Ehepartner ständig hinterherlaufen oder immer wieder dieselben Fragen stellen. Ruhe ist selten. Zudem verlieren viele Demenz-Patienten nicht nur die räumliche Orientierung, sondern auch die zeitliche. Ein daraus resultierender gestörter Tag-Nacht-Rhythmus, auch »Sun-Downing-Syndrom« genannt, lässt sie abends munter werden und schläfrig am Tag.
Die verschobene circadiane Rhythmik wird jedoch nicht immer durch dementielle Veränderungen hervorgerufen. Kann ein Patient nicht schlafen, ist es wichtig, weitere Ursachen abzuklären. So können nächtliche Hypoglykämien bei Diabetikern, eine Schilddrüsenüberfunktion oder Schlafapnoe den Betroffenen wach halten. Auch Schmerzen oder Juckreiz verursachen Unruhe. Die Betroffenen sind aufgrund ihrer eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten nicht mehr in der Lage, ihre Beschwerden adäquat zu äußern. Unerkannte Frakturen, eine drückende Zahnprothese oder einfach nur kalte Füße können zur Qual werden. Manchmal sind es aber auch Medikamente, die dem Patienten den Schlaf rauben. So können unter anderem Betablocker, überdosierte Neuroleptika oder langwirksame Benzodiazepine Schlafstörungen verursachen.
Für Struktur sorgen
Auch ganz alltägliche Gründe führen mitunter zu Unruhe und Schlaflosigkeit. Oft fehlen physikalische und soziale Zeitgeber, wie beispielsweise Tageslicht oder der tägliche Gang zur Arbeit. Ungebrauchte Energiereserven durch fehlende geistige und körperliche Auslastung machen ebenfalls unruhig. Hinzu kommt, dass die Erkrankten durch die Gedächtnislücken das Gefühl haben, sich selbst zu verlieren. Sie fühlen sich fremd im eigenen Körper. Bewegung hingegen bedeutet für sie, sich selbst wahrzunehmen, sich selbst zu spüren.
Die aktuelle S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Verhaltensstörungen bei Demenz der Deutschen Gesellschaft für Neurologie gibt an, dass Antidementiva wie Galantamin, Donepezil, Rivastigmin und Memantin auch gegen Verhaltensstörungen bei einer Demenz-Erkrankung wirken. Psychopharmaka hingegen sollen trotz ihrer Wirksamkeit nur so kurz und so niedrig dosiert wie möglich eingesetzt werden. Als Mittel der Wahl nennt die Leitlinie Risperidon (0,25 bis maximal 2 mg pro Tag). Anticholinerg wirksame, sedierende und muskelrelaxierende Medikamente sollten ganz vermieden werden. Sie verschlechtern Verwirrungszustände und erhöhen die Sturzgefahr.
Generell sei der Einsatz antipsychotischer Medikamente wahrscheinlich mit einem erhöhten Mortalitäts- und Schlaganfallrisiko verbunden. Zudem könnten sich die kognitiven Fähigkeiten unter einer Therapie mit Psychopharmaka verschlechtern. Deshalb bezieht die aktuelle Leitlinie einige nichtmedikamentöse, evidenzbasierte Therapieverfahren mit ein. Psychosoziale Interventionen nennt sie als zentralen und notwendigen Bestandteil jeder Behandlung.
In einer frustrationsarmen Umgebung sollen sich Demenz-Erkrankte nicht ständig an ihre Defizite erinnern müssen. Ständiges Scheitern frustriert die Betroffenen und löst oftmals Verhaltensstörungen aus. In einer Schulung lernen Personen, die an der Betreuung von Demenz-Patienten beteiligt sind, einen anderen Umgang mit Konflikten. Kurze, leicht verständliche Sätze, mit einer ruhigen Stimme gesprochen, vermitteln Geduld und Verständnis.
Die eigene Wahrheit
Wichtig sei dabei auch das Prinzip der Validation. Befindet sich der Demenz-Kranke gerade in einer »anderen Welt«, sollten Angehörige und Pflegende diese falsche Realität nicht bestreiten, um den Patienten nicht noch zusätzlich zu verunsichern. Vielmehr hilft es dann, mitzuspielen, denn ein vertrauensvoller Umgang trägt dazu bei, den Patienten abzulenken und auf ein anderes Thema zu bringen.
Die Schulungen kommen nicht nur den Erkrankten zugute: Die Leitlinie empfiehlt eine gute Betreuung der Angehörigen, um deren psychische und körperliche Gesundheit zu fördern. Einzelinterventionen haben sich als effektiver erwiesen als Gruppentherapien. Auch telefonbasierte Interventionen sind möglich.
Bei der Erinnerungstherapie wird in wöchentlichen Gruppensitzungen eine positive Gefühlswelt aktiviert. In Gesprächen über vergangene Zeiten oder beim Betrachten von Urlaubsfotos sollen die Patienten in eine angenehme Gefühlswelt eintauchen. Auch bei der sogenannten Snoezeltherapie geht es darum, Patienten in eine entspannte Atmosphäre zu versetzen. Bei angenehmer Musik, gedämpftem Licht und Aromaölen können die Senioren entspannen. Psychotherapeutische Interventionen haben sich bei leichten bis mittelschweren Formen als sinnvoll erwiesen. Die Sitzungen sollten allerdings nur von kurzer Dauer und an häufig hintereinander stattfindenden Terminen sein. Sie tragen dazu bei, dass sich der Patient wieder sicherer fühlt.
Spaziergänge, Ergotherapie oder leichtes Muskeltraining sind ebenfalls Bestandteil der Leitlinie. Durch körperliche Aktivität am Tag sind die Patienten abends müde, können besser schlafen und fühlen sich ruhiger. Auch eine geistige Forderung kann helfen. Eine aktive Musiktherapie, wie etwa gemeinsames Singen, kann Verhaltensstörungen reduzieren.
Lassen es die geistigen und körperlichen Kompetenzen noch zu, können Demenz-Patienten sich auch am täglichen Haushalt beteiligen: Leichte Tätigkeiten wie Kartoffeln schälen oder Servietten falten beschäftigen nicht nur, sie geben den Patienten auch ein Stück Selbstwertgefühl zurück. Sie haben auf diese Weise das Gefühl, etwas sinnvolles zum gemeinsamen Leben beizutragen.
Evidenzbasierte, nicht-medikamentöse Therapieverfahren können bei nächtlicher Unruhe helfen.
Fotos: Fotolia/Photographee.eu
Neben den empfohlenen Therapiemöglichkeiten der Leitlinie gibt es noch eine Vielzahl weiterer Faktoren, die das Verhalten und die Schlafgewohnheiten von Demenz-Patienten beeinflussen. Bei Tag hilft eine geordnete Struktur, die Malzeiten und Spaziergänge, Spiele und Gedächtnisübungen in sinnvoller Folge beinhaltet.
Um nächtliche Unruhe zu vermeiden, gelten bei Demenz-Patienten dieselben Maßnahmen für eine gute Schlafhygiene wie bei gesunden Patienten. Die optimale Schlaftemperatur liegt zwischen 18 und 21 Grad Celsius, Füße und Hände sollten warm sein. Aufregende Filme gilt es genauso zu vermeiden wie Kaffee oder schwarzen Tee nach 17 Uhr. Helfen kann hingegen ein Schlummertrunk, zum Beispiel heiße Milch mit Honig. Häufig erinnern sich die Demenz-Patienten noch an dieses Zu-Bett-geh-Ritual aus ihrer Kindheit. Die Wärme der Milch und das Gefühl der Geborgenheit haben darüber hinaus eine beruhigende Wirkung. Ein Zuviel an Flüssigkeit sollte allerdings auch nicht sein: Trinken Patienten abends viel, weckt sie nachts der Harndrang. Suchen die Patienten in der Dunkelheit den Weg zur Toilette, besteht zudem die Gefahr, dass sie stürzen und sich verletzen. Bei inkontinenten Patienten ist es wichtig, auf die richtige Versorgung zu achten, denn auch eine nasse Windel kann vom Schlafen abhalten.
Bezug zu sich selbst
Demenz-Patienten haben das Bedürfnis, sich selbst zu spüren. Spezielle Gewichtsdecken und härtere Matratzen verbessern das Körpergefühl und somit auch den Schlaf. Zudem ist die Bewegung auf weichen Matratzen kraftaufwändiger als auf harten. Können die Patienten sich nicht drehen, weil sie in einer Matratzenkuhle liegen, wachen sie leicht durch den Versuch auf, die Seite zu wechseln. /
Einige Pflegeeinrichtungen bieten ein Nachtcafé an. Hier können sich die nachtaktiven Patienten aufhalte, statt ziellos durch die Gänge zu irren. Bei warmen Getränken, leiser Musik, Fernseher und teilweise sogar festem Beschäftigungsprogramm können die Demenz-Patienten hier ihre Nächte verbringen. Vorteile für die Pflege: Alle »Nachtschwärmer« sind an einem Ort.