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Myasthenia gravis

Der Kraft beraubt

In der Öffentlichkeit zeigte er sich nur mit dunkler Sonnenbrille. Nicht weil sein durchdringender Blick die Mitmenschen irritierte, wie er gerne behauptete, sondern weil die Muskeln seiner Augenlider infolge einer Lähmung nach und nach erschlafften. Am Ende fielen ihm die Augen zu. Der griechische Reeder Aristoteles Onassis litt und starb an Myasthenia gravis.
Elke Wolf
22.02.2010  10:43 Uhr

 

 

Gestörte Leitung

Die MG zählt zu den Autoimmunerkrankungen, denn der Organismus bildet Antikörper gegen eigene Strukturen. Er schaltet dabei die korrekte Übertragung der Signale zwischen den Nerven und Muskeln aus. Ort des Geschehens sind die Enden der Nervenzellen in Vertiefungen der Muskelhaut. Diese Strukturen heißen motorische oder neuromuskuläre Endplatten und befinden sich immer an der quergestreiften Muskulatur.

 

Bei Gesunden funktioniert die Reizübertragung dort folgendermaßen: Erreicht ein Befehlsimpuls aus dem Gehirn diese Nerven-Endstationen wird dort der Neurotransmitter Acetylcholin freigesetzt. Dieses wandert durch den Spalt zwischen Nerv und Muskel und reizt einen Rezeptor an der Muskelhaut. Dieser Reiz verursacht einen komplizierten elektrochemischen Prozess, der zur Kontraktion der Muskelfasern führt. Bei Patienten mit MG ist diese Kettenreaktion gestört.

 

Zurück zum Verlauf der Autoimmunkrankheit. Die Auslöser der Erkrankung sind bisher nicht vollständig aufgeklärt, und der Prozess verläuft auch nicht bei jedem Patienten gleich. Bei rund 80 Prozent der MG-Patienten lassen sich in den Blutseren sogenannte Autoantikörper nachweisen, die darauf spezialisiert sind, die Acetylcholin-Rezeptoren der motorischen Endplatte zu besetzen und auszuschalten. Deshalb kann der elektrische Impuls vom Nerv nicht mehr auf den Muskel übertragen werden, der Muskel wird nicht erregt. Zudem werden durch die angedockten Autoantikörper Abwehrstoffe des Immunsystems angelockt, die dann die Antikörper mitsamt dem Rezeptor abbauen. Die Muskelzellen werden im Laufe der Erkrankung daher immer unempfindlicher gegen Acetylcholin, da die Zahl der Rezeptoren deutlich abnimmt. 

 

Nicht alle Muskeln betroffen

Wichtig: Betroffen ist nur die quergestreifte (willkürlich bewegbare) Muskulatur. Muskelgewebe ohne motorische Endplatten, wie der Herzmuskel und die glatte Muskulatur vieler Organe, bleiben von der Krankheit verschont.

 

Ist das Erscheinungsbild der MG schon uneinheitlich genug, so verkompliziert folgende Tatsache die Theorie der Autoimmunpathogenese vollends. Bei rund 40 Prozent der Patienten mit okulären Symptomen und in etwa 10 Prozent der generalisierten Fälle lassen sich keine Antikörper gegen Acetylcholin-Rezeptoren nachweisen. Bei dieser als seronegativ bezeichneten MG finden sich in bis zu 40 Prozent der Fälle jedoch Autoantikörper gegen ein muskelspezifisches Enzym: die Rezeptor-Tyrosinkinase (MuSK), die nur an der motorischen Endplatte vorkommt. Experten vermuten aber, dass neben beiden Antikörpern gegen den Acetylcholin-Rezeptor und gegen MuSK noch weitere, bisher unbekannte Antikörper bei MG eine Rolle spielen.

 

Thymus als Mitschuldiger

Auch warum die Autoantikörper gegen den Acetylcholin-Rezeptor gebildet werden, ist nicht geklärt. Auffällig ist allerdings, dass bei 65 Prozent der Patienten die Thymusdrüse vergrößert und oft überaktiv ist. Der Thymus spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Immunsystems. Beim Kind ist der Thymus voll aktiv, verkümmert dann aber normalerweise im Laufe des Lebens. In 10 Prozent der Fälle haben die Patienten Thymome, die die schädlichen Autoantikörper bilden. Das sind gutartige, selten bösartige Tumore der Thymusdrüse. Mediziner nennen dieses Krankheitsbild paraneoplastische Myasthenie. Werden Thymone diagnostiziert, muss der Thymus in jedem Fall chirurgisch entfernt werden, das heißt, die Ärzte führen eine Thymektomie durch. Ältere und multimorbide Patienten erhalten hingegen eine Strahlentherapie.

 

Wegen der Beteiligung der Thymusdrüse wird die Thymektomie vielen Patienten zwischen 15 und 50 Jahren angeraten. Die Operation ist besonders erfolgreich, wenn sie innerhalb von ein bis zwei Jahre nach der Diagnose vorgenommen wird. Dann benötigen bis zu 30 Prozent der Patienten keine Medikamente mehr. Bei bis zu 80 Prozent der Patienten stellt sich während der nächsten ein bis zwei Jahre eine langfristige Besserung ein. Bei Kindern und Jugendlichen zwischen 5 und 14 Jahren ziehen Ärzte die Thymektomie erst nach Versagen der medikamentösen Therapie in Betracht, genauso wie bei Patienten mit alleinigen Augenbeschwerden. MG-Patienten, bei denen nur Antikörper gegen MuSK nachgewiesen werden, profitieren nach aktueller Datenlage nicht von einer Thymektomie.

Tabelle: Medikamente, die eine Myasthenia gravis verschlechtern können

(Auswahl nach AWMF-Leitlinie, Stand 10/2008)

Substanzklasse Vertreter (Beispiele)
Analgetika Morphin-haltige Präparate
Antiarrhythmika Chinidin, Ajmalin, Mexiletin, Procainamid
Antibiotika Aminoglykoside, vor allem Streptomycin, Neomycin, Makrolide wie Erythromycin, Ketolide wie Telithromycin, Gyrasehemmer wie Levofloxacin, Ciprofloxacin, Sulfonamide, Tetracycline ,Penicilline nur in besonders hoher Dosierung
Antidepressiva Substanzen vom Amitriptylin-Typ
Antikonvulsiva Benzodiazepine, Carbamazepin, Diphenylhydantoin, Ethosuximid, Gabapentin
Antirheumatika D-Penicillamin, Chloroquin
Betablocker Oxprenolol, Pindolol, Propranolol, Timolol (auch als Augentropfen)
Calciumantagonisten Verapamil, Diltiazem, Nifedipin
Diuretika Acetazolamid, Benzothiadiazine, Schleifendiuretika
Glucocorticoide bei Behandlungsbeginn mit hohen Dosen
Hormone Estrogen, Progesteron, Schilddrüsenhormone
Magnesium hohe Dosen als Laxantien
Psychopharmaka Chlorpromazin, Promazin, Benzodiazepine und Strukturverwandte wie Zolpidem, Zopiclon
Statine verschiedene Cholesterolsenker