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Myasthenia gravis

Der Kraft beraubt

Selten schnelle Diagnose

Die MG gehört zu den seltenen Erkrankungen. In Deutschland sind schätzungsweise 8000 bis 12 000 Menschen erkrankt. Das Verhältnis von Frauen zu Männern ist 3 zu 2. Auch beim typischen Erkrankungsalter zeigt sich ein deutlicher Unterschied: bei Frauen bricht die Myasthenie meistens im 2. bis 3. Lebensjahrzehnt aus, Männer erkranken dagegen oft erst dreißig Jahre später. Die Gründe hierfür sind unklar. Familiäre Häufungen sind eher die Ausnahme.

 

Im Schnitt dauert es fast drei Jahre nach Auftreten der ersten Symptome, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellt. Die anfangs nur schwache Ausprägung der Beschwerden und ihre Wechselhaftigkeit führen zu vielen Fehldiagnosen. Aus diesem Grund erleben die meisten Patienten eine Odyssee durch Praxen und Kliniken. Und damit nicht genug: Während dieser Zeit verschlechtern sich ihre Symptome. Die Diagnose setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen. Zentrales Element ist der Nachweis der Rezeptor-Autoantikörper im Blut. Doch auch wenn sich eine hohe Anzahl von Antikörpern im Blut findet, muss die Krankheit nicht besonders stark aktiv sein. Das gilt sowohl für die Antikörper gegen den Acetylcholin-Rezeptor als auch für die MuSK. Bei einigen Patienten sind keine Antikörper nachweisbar. Das sind überproportional häufig solche mit lediglich okulären Symptomen.

 

Bei diesen Patienten muss sich der Arzt auf andere diagnostische Methoden stützen. So können spezielle Belastungstests den Verdacht auf eine MG untermauern: Beim Simpson-Test muss der Patient solange wie möglich nach oben blicken; dabei wird geprüft, wie rasch die Augenmuskulatur ermüdet. Bei der Elektromyografie (EMG) werden mit Nadelelektroden Muskelfasern gezielt gereizt und danach deren Aktivität gemessen. Wegweisend ist auch der Tensilon-Test. Dabei werden dem Patienten Acetylcholinesterase-Hemmer intravenös verabreicht, worauf bei an MG-Erkrankten die Symptome sofort verschwinden, allerdings nur für kurze Zeit. Besteht der Verdacht auf eine MG, wird immer auch eine Computertomographie der Lungenregion durchgeführt, um Thymome in der Thymusdrüse aufzuspüren.

 

An Medikamente denken

In einer Vielzahl von Situationen müssen Betroffene damit rechnen, dass sich ihre Beschwerden verstärken. Paradebeispiel dafür sind Infektionen, besonders wenn sie von Fieber begleitet werden. Auch seelischer oder körperlicher Stress sowie hormonelle Umstellungen in Schwangerschaft oder Wechseljahren stellen Betroffene vor besondere Hürden. Achtung auch bei der Einnahme von Medikamenten, denn die Veränderungen an der motorischen Endplatte führen zu einer geringen Toleranz gegenüber vielen Arzneimitteln. Viele Substanzklassen können die MG negativ beeinflussen (siehe Tabelle). 

 

Für die Praxis relevant dürfte die stark erhöhte Empfindlichkeit gegenüber muskelrelaxierenden Substanzen, Benzodiazepinen sowie einigen Antibiotika wie Gyrasehemmer oder Makrolide sein. Die Erfahrung zeigt aber auch, dass Ärzte aus Sorge um eine medikamenteninduzierte Verschlechterung den Fehler machen, einen bakteriellen Infekt zu spät mit Antibiotika zu behandeln.

 

Übrigens: Es gibt auch eine Medikamenten-induzierte Myasthenie, bei der ein Arzneimittel, meist D-Penicillamin, die Symptome auslöst. Nach Absetzen des Arzneimittels verschwinden die Beschwerden wieder.

 

Für über 90 Prozent der Patienten kann die medikamentöse Therapie so zugeschnitten werden, dass sie weitgehend normal leben, berufstätig sein und Sport treiben können. Berufe mit körperlicher Dauerbelastung können die Patienten allerdings nicht ausüben, denn gewisse Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit lassen sich nicht vollständig ausschalten. Die Arzneimittel müssen meist lebenslang eingenommen werden. Adäquat behandelt ist die MG heutzutage nicht mehr mit einer eingeschränkten Lebenserwartung verbunden.

Erfahrungsbericht

An Silvester 2007 hatte meine damals zwei Jahre alte Tochter von einem Tag auf den anderen am rechten Auge ein hängendes Oberlid. Wir dachten uns zuerst nichts Schlimmes dabei und fuhren zum augenärztlichen Notdienst, der uns glücklicherweise (ich weiß heute, dass dies nicht selbstverständlich war) umgehend in die Uniklinik Heidelberg überwies, wo wir innerhalb von drei Tagen durch einen Tensilon-Test und den Nachweis von Acetylcholin-Rezeptor-Antikörpern im Blut schnell die Diagnose der Myasthenia gravis bekamen. Wir waren natürlich geschockt. Uns wurde auch gleich mitgeteilt, dass diese Krankheit in dem jungen Alter so gut wie nicht vorkommt, also auch keine Erfahrungen mit kleinen Kindern bestehen.

 

Ein Thymom wurde ausgeschlossen. Abgesehen davon würde unsere Tochter in dem Alter nicht thymektomiert werden können. So wurden wir mit 3 x 40 mg Pyridostigmin entlassen.

 

Zwei Monate später hingen dann teilweise beide Augenoberlider nach unten. ...Irgendwann konnte sie nicht mehr lachen, also ihre Mundwinkel nicht mehr zur Seite ziehen. Sie hatte vor allem morgens eine sehr verwaschene Sprache, und ihr lief zeitweise das Getränk wieder aus dem Mund. Aufgrund der fortschreitenden Symptomatik wurde dann im Oktober 2008 mit einer Cortison-Stoßtherapie begonnen. Seitdem hat meine Tochter keine Probleme mehr.

 

Quelle: www.myasthenia-gravis.de

Interessant ist, dass nur wenige Arzneimittel, die in der Praxis seit vielen Jahren erfolgreich im Einsatz sind, eine Zulassung für die Indikation MG haben. Die Ärzte verordnen deshalb oft off label. Die Studienlage ist insgesamt gesehen eher dürftig.

Enzym hemmen

Die wichtigsten Arzneimittel sind die Cholinesterasehemmer. Indem sie den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin hemmen, erhöht sich dessen Konzentration im synaptischen Spalt. Der Nervenimpuls wird verstärkt und die Erregungsübertragung verbessert. Zudem verdrängen große Mengen Acetylcholin die Autoantikörper kompetitiv. Aber: Es handelt sich um eine rein symptomatische Therapie. Pyridostigmin (zum Beispiel Mestinon®, Kalymin®) ist heute das Medikament der Wahl für die orale Langzeitbehandlung, kann aber auch intravenös und intramuskulär gegeben werden. In der Erprobung befindet sich ein Neostigmin-Nasenspray.

Für die Beratung wichtig: Die vermehrte Menge an Acetylcholin im synaptischen Spalt beeinflusst auch andere Organe und führt zu Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall oder Darmkrämpfen sowie zu vegetativen Symptomen wie vermehrtem Schwitzen, Speichel- und Tränenfluss, verschwommenem Sehen, Blutdruck- und Pulsabfall. Wird Pyridostigmin zu hoch dosiert, kommt es im Extremfall zu einer sogenannten cholinergen Krise. Dann muss der Patient auf der Intensivstation überwacht werden.

Immunsystem dämpfen

Die symptomatische sollte immer mit einer immunsuppressiven Therapie kombiniert sein. Denn nur so lässt sich die überaktive Abwehr dämpfen abschwächen. Zudem verzögern Immunsuppressiva den Abbau der Acetylcholin-Rezeptoren. Das ist wichtig, denn Cholinesterasehemmer können nicht wirken, wenn die passenden Rezeptoren fehlen. Der Nutzen für die generalisierte Form ist unbestritten. Auch Patienten mit Augenbeschwerden sollten Immunsuppressiva erhalten. Das verringert das Risiko, dass sich aus der okulären eine generalisierte Form entwickelt.

Glucocorticoide und Azathioprin sind Immunsuppressiva der ersten Wahl. Die Patienten müssen meist über viele Jahre, oft lebenslang, behandelt werden. Als Glucocorticoide werden am häufigsten Prednison oder Prednisolon (zum Beispiel Decortin® und Decortin® H) eingesetzt. In 70 bis 80 Prozent der Fälle wirken sie innerhalb von vier bis acht Wochen. Die Dosisfindung ist schwierig: Ist die Dosis anfangs zu hoch, verschlechtern sich die Symptome der Muskelschwäche, abgesehen von den Nebenwirkungen wie Wassereinlagerungen, Schlafstörungen oder Infektneigung. Ist die Dosis zu gering, tritt die Wirkung zu langsam ein. 

Prednison oder Prednisolon kombinieren die Ärzte meist mit Azathioprin (zum Beispiel Imurek®). Dadurch können sie die Glucocorticoid-Dosis meist deutlich reduzieren. Doch setzt die Wirkung des Azathioprins erst nach mehreren Monaten ein. Der Patient muss seine Leberwerte regelmäßig beim Arzt kontrollieren lassen. Als weitere Nebenwirkungen wurden milder Haarausfall, Übelkeit, eine erhöhte Infektneigung und Blutarmut beobachtet. Schlägt die Standardtherapie fehl oder verträgt der Patient Azathioprin nicht, kommen andere Immunsuppressiva wie Ciclosporin A (zum Beispiel Sandimmun®), Mycophenolatmofetil (zum Beispiel CellCept®), Cyclophosphamid (zum Beispiel Endoxan®) oder Methotrexat (zum Beispiel Metex®) in Betracht.

Therapeutika für den Ernstfall

Immunglobuline sind für schwere Verläufe vorbehalten. Dabei verabreicht der Arzt das Immunglobulin in der Regel an fünf aufeinander folgenden Tagen hoch dosiert intravenös. Bei etwa 80 Prozent der Patienten wirkt diese Stoßtherapie über Wochen bis Monate hinweg. Der Pferdefuß: Immunglobuline sind sehr teuer und ihre langfristige Nebenwirkungen noch unbekannt.

 

Bei schweren oder kritischen Krankheitsverläufen haben Ärzte noch eine weitere Option: die Plasmapherese. Mit diesem Verfahren werden die Autoantikörper aus dem Blut herausgewaschen, sodass sich die fehlgesteuerte Immunabwehr rasch normalisiert. In rund sechs bis acht Behandlungen werden unselektiv nicht korpuskuläre Blutbestandteile solange entfernt, bis sich der Zustand des Patienten stabilisiert. Nach jeder Behandlung erhält der Patient Humanalbumin. Allerdings: Zusätzlich muss er Immunsuppressiva bekommen. Sonst hält der Erfolg nur wenige Wochen an, weil der Körper zu schnell neue Antikörper bildet.

 

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