Arbeiten bis zum Umfallen |
21.01.2011 14:34 Uhr |
Von Edith Schettler / Schätzungsweise jeder fünfte bis siebte Erwachsene erleidet im Laufe seines Lebens ein Burnout-Syndrom, eine schwere Form der seelischen und körperlichen Erschöpfung. Die Zahl der Erkrankten nimmt stetig zu, und sogar Jugendliche und Kinder gehören zu den Betroffenen. Viele suchen Rat und Hilfe bei Psychologen und Psychotherapeuten.
Nicht nur Workaholics, Manager oder Selbstständige mit einem 16-Stunden-Tag sind gefährdet. Auch viele andere Berufstätige kommen im Laufe ihrer Karriere an einen Punkt, an dem Körper und Geist den Dienst quittieren, weil ihr Alltag sie permanent überlastet. Ebenso laufen Menschen, die schwer kranke Angehörige pflegen, Mütter, die bis zur Selbstaufgabe Familie und Beruf vereinen, selbst Studenten und Schulkinder Gefahr, an ihren eigenen hohen Ansprüchen oder den Ansprüchen anderer zu zerbrechen.
Der Zusammenbruch am Arbeitsplatz:
An Burnout erkranken Männer derzeit häufiger als Frauen.
Foto: Techniker Krankenkasse
Prominente Beispiele für am Burnout-Syndrom Erkrankte sind die US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Whitney Houston und der ehemalige deutsche Skispringer Sven Hannawald.
Häufig fällt es schwer, das Krankheitsbild der Erschöpfung nicht mit dem einer Depression zu verwechseln. Beide äußern sich ähnlich, jedoch fehlt Depressiven der Antrieb, während sich erschöpfte Patienten bis an ihre Grenze verausgaben oder bereits verausgabt haben.
Die meisten Menschen werden folgende Situation kennen: Nach einer intensiven körperlichen Aktivität streiken ihre Muskeln, der Körper will nicht mehr weiter, weil sie ihre Kräfte überschätzt und sich bis an ihre Leistungsgrenze ausgepowert haben. Sportler gehen absichtlich bis an ihr Limit, um ihre Leistung ständig zu verbessern. Nach einer angemessenen Regenerationsphase erholen sich die Muskeln, und die Kräfte sind wieder hergestellt. Wer das Ganze nicht übertreibt, erzielt einen Trainingseffekt, und die Leistungsfähigkeit der Muskulatur erhöht sich stetig. Ohne adäquate Erholungspausen gerät der Körper jedoch nach und nach in den Zustand der Erschöpfung.
Ähnlich verhält es sich mit der geistigen Energie: Auch diese »Batterie« leert sich mit der Zeit, wenn ihr Stress und Hektik ohne Ruhephasen zusetzen. Am Ende fallen die Betroffenen in ein geistiges und seelisches Tief.
Auslösern auf der Spur
Ärzte unterscheiden mehrere Formen der Ermüdung und bezeichnen jede mit einem Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die leichtesten Formen sind unter dem Kürzel R-53 zusammengefasst:
Diese unterschiedlichen Symptome können vielfältige Ursachen haben: äußere Umstände wie Hitze oder Wetterumschwünge, außergewöhnliche psychische oder physische Belastungen, überstandene Infektionskrankheiten, Schwangerschaft oder Alter. Häufig kann der Arzt jedoch keinen Auslöser erkennen, dann bezeichnet er diese Erschöpfungszustände als endogen bedingt. Ein weiteres Unterscheidungskriterium ist die Dauer der Erschöpfung. Manchmal ist die Phase rasch vorüber, zum Beispiel Schwangerschaftsermüdung oder Jet Lag. In anderen Fällen bleibt der Zustand längere Zeit bestehen, beispielsweise bei Altersschwäche. Bessert sich die Situation aber nicht, sollte der Betroffene einen Arzt aufsuchen. Diagnostiziert dieser eine Grunderkrankung, wird er vorrangig diese behandeln und davon ausgehen, dass durch die Therapie auch die begleitende Erschöpfung behoben wird. Zu solchen Erkrankungen zählen zum Beispiel eine Schilddrüsenunterfunktion, Störungen der Nebennieren (Morbus Addison) oder der Hypophyse (Morbus Cushing), Eierstockentzündungen ebenso wie Erkrankungen des Verdauungssystems, Diabetes mellitus oder Krebserkrankungen.
Wird die Erschöpfung nicht durch körperliche Erkrankungen ausgelöst und bessert sie sich auch nach einer Ruhephase nicht, sprechen Mediziner vom chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS).
Stressbedingte Erschöpfung
Die natürlichen Reaktionen des Körpers auf Stress und Bedrohung sicherten das Überleben des Homo sapiens. In einer Gefahrensituation schüttet der Hypophysenvorderlappen das Adenocorticotrope Hormon (ACTH) aus. ACTH wiederum aktiviert die Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark sowie von Cortisol in der Nebennierenrinde. Damit mobilisiert der Körper alle Kräfte für Kampf oder Flucht: Die Stresshormone steigern die Herzfrequenz, die Atmung, den Blutzucker- und Blutfettspiegel sowie den Muskeltonus und drosseln die meisten anderen Körperfunktionen.
Die Testergebnisse lieferten erste Anhaltspunkte, ob und in wie weit jemand an einem Burnout-Syndrom erkrankt ist:
Auch heute reagieren Menschen auf bedrohliche Situationen nach dem gleichen Schema, obwohl sie nicht mehr unmittelbar um ihr Überleben kämpfen müssen. Zeitnot, Über- oder Unterforderung, Bindungsängste, Mobbing, soziale Isolation, der Verlust des Arbeitsplatzes oder eines nahen Angehörigen sind die Stressoren der heutigen Zeit. Die WHO erklärte Stress zur größten Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts.
Stress macht jedoch nicht zwingend krank. Vorübergehend kann er angenehm sein und die Leistungsfähigkeit steigern. Diesen sogenannten Eustress (positiver Stress) brauchen Menschen sogar, damit sie sich gesund fühlen. Versetzt der Stress den Körper aber ständig in einen »Fluchtzustand«, sind Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche, erhöhte Infektanfälligkeit, Muskelverspannungen und Verdauungsprobleme wie Durchfall, Verstopfung oder Sodbrennen langfristige Folgen. Diesen Dauerstress bezeichnen Mediziner als Disstress oder auch als negativen Stress. Der Organismus verbraucht dann sehr viel mehr Energie als üblich und schüttet die fünf- bis zehnfache Menge an Cortisol aus, das die Stresshormone Adrenalin, Dopamin und Noradrenalin weiter aktiviert und die Immunabwehr hemmt.
Zu diesem Zeitpunkt ist das natürliche Gleichgewicht zwischen stressinduzierten und -ausgleichenden Botenstoffen gestört, denn die Produktion des Hormons Serotonin, das für den Stressabbau zuständig ist, reicht nicht mehr aus. Der Körper gerät damit in einen Teufelskreis. Der Betroffene steht ständig »unter Strom« und läuft so lange auf Hochtouren, bis seine Energiereserven vollständig aufgebraucht sind. Die Stressbotenstoffe erhöhen seinen Blutdruck, Blutzucker- und Blutfettwerte und damit sein Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Doping am Arbeitsplatz
Oft versuchen die Betroffenen, ihre Leistungsfähigkeit durch Wachmacher wie Kaffee, Energydrinks oder Cola zu erhöhen oder ihren Energiestoffwechsel durch Nahrungsergänzungsmittel mit Aminosäuren wie Tryptophan, Ornithin oder Taurin zu stimulieren. Selbst psychoaktive Substanzen wie Pseudoephedrin, Antidepressiva und Nootropika sind beliebte Dopingmittel am Arbeitsplatz.
Extrakte aus den Blüten des Johanniskrauts helfen gegen nervöse Unruhe und ergänzen die Entspannungstherapie.
Foto: Ullrich Mies
Einen Eindruck von der derzeitigen Situation gibt der Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) aus dem Jahr 2009: Nach Hochrechnungen der DAK nehmen in Deutschland etwa 0,8 Millionen Arbeitnehmer leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Arzneimittel ohne medizinische Indikation ein. Jeder Fünfte kannte mindestens eine Person, die »Dopingmittel« einnimmt, ebenso vielen Befragten empfahlen Bekannte, Kollegen oder Freunde die Einnahme leistungssteigernder Arzneimittel. 20 Prozent der befragten 3000 Personen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren hielten die Nebenwirkungen der Medikamente gegen Depressionen oder alters- oder krankheitsbedingte Gedächtnisschwäche im Vergleich zum Nutzen für vertretbar.
»Konzentriert, kreativ, karrierebewusst: Der Wunsch, immer perfekt sein zu müssen, lässt sich auch durch Medikamente nicht erfüllen«, kommentierte der DAK-Chef Herbert Rebscher die Umfrageergebnisse und warnte vor den Nebenwirkungen und dem Suchtpotenzial der eingesetzten Arzneistoffe.
Deuten die Betroffenen die Stress-Symptome nicht richtig oder ignorieren sie diese, kann sich ihr Körper unter der Dauerbelastung nicht mehr regenerieren. Entflieht der Mensch dem Hamsterrad aus Stress und Selbstverleugnung nicht, stellt sich letztlich ein Zustand ein, der den Namen Burnout-Syndrom trägt.
Burnout-Syndrom
Darunter verstehen Mediziner die neuropsychischen und physischen Reaktionen auf chronische Stressbelastung. Schüttet der Körper fortwährend Stresshormone aus, führt dies langfristig zu einer Art Stressadaptation. In dieser Phase der totalen Erschöpfung ist der Körper nicht mehr in der Lage, ausreichend Cortisol und Neurotransmitter zu bilden.
Daraus resultieren Vitalitätsverlust, Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen und Schlafprobleme. Burnout-Patienten sind chronisch müde, infektanfällig, haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, sind vergesslich, und ihre sozialen Bindungen leiden. Spätestens ab dem Moment des physischen Zusammenbruches wird für alle deutlich, dass der Betroffene am Burnout-Syndrom leidet.
Besonders charakteristisch sind drei Symptome: anhaltende emotionale Erschöpfung, Infragestellen der eigenen Arbeit und Abneigung gegen die Kollegen am Arbeitsplatz. In diesem Zustand benötigen die Patienten ärztliche Hilfe. In den meisten Fällen ist sogar eine stationäre Behandlung durch Psychologen angebracht. Dagegen verzögert eine Selbstmedikation mit Beruhigungs- oder Aufbaumitteln nur die dringend notwendige professionelle Therapie.
Zurzeit erkennen die Krankenkassen das Burnout-Syndrom nicht als Krankheit an, daher gibt es auch keinen Diagnoseschlüssel. Aus diesem Grund schreiben die Ärzte Burnout-Patienten anhand ihrer Symptome arbeitsunfähig und beziehen sich auf vergleichbare psychische Erkrankungen. Allerdings könnte in naher Zukunft eine Änderung erfolgen, da einige Betroffene gegen ihre Krankenversicherung geklagt haben.
Rechtzeitiger Stressabbau
Die wichtigste Maßnahme besteht darin, die extreme Belastung möglichst frühzeitig zu erkennen und möglichst die externen Stressfaktoren auszuschalten. Vielen Betroffenen hilft ein Verhaltenstraining, durch das sie lernen, ihr Leben wieder in geregelte Bahnen zu bringen. Weitere Hilfen auf dem richtigen Weg sind, sich Prioritäten zu setzen, ausreichend zu schlafen, sich gesund zu ernähren, sich Pausen und Auszeiten zu gönnen, positiv zu denken, Alkohol, Nikotin und Aufputschmittel zu meiden. Entspannungstechniken wie Autogenes Training oder Yoga unterstützen den Stressabbau. Entsprechende Kurse bieten die Volkshochschulen, Krankenkassen oder Physiotherapeuten an.
PTA und Apotheker können Kunden, die sich in einer kurz andauernden Stress-Situation befinden, pflanzliche Arzneimittel empfehlen. Präparate mit ausreichend hoch dosiertem Johanniskraut in einer Tagesdosis von 0,2 bis 1 mg Gesamthypericin oder Baldrian in einer Menge von mindestens 2 bis 3 Gramm Droge pro Tag sind eine sinnvolle Ergänzung zur Entspannungstherapie. Nimmt der Patient weitere Medikamente ein, müssen PTA oder Apotheker bei der Abgabe eines Johanniskrautpräparates unbedingt einen Interaktionscheck durchführen. Auch auf die photosensibilisierende Eigenschaft der Droge sollten sie hinweisen. Bei Einschlafstörungen, Ruhelosigkeit und Reizbarkeit empfiehlt die ESCOP (European Scientific Cooperative on Phytotherapie) auch das Passionsblumenkraut.
Das ätherische Lavendelöl mildert innere Unruhe und hilft bei nervöser Erschöpfung und Einschlafstörungen.
Foto: Ullrich Mies
Die entspannende Wirkung des Lavendels nutzen sowohl die Phytotherapie als auch die Aromatherapie. Der Hauptinhaltsstoff des Lavendelöls, das Linalool, stellt über das limbische System die Balance zwischen Noradrenalin und Serotonin wieder her. Die äußerliche Anwendung als Bad, Schlafkissen oder Aromaöl ist auch für Kinder und Schwangere geeignet, während Kapseln mit ätherischem Öl nur für Erwachsene, nicht aber für Schwangere und Stillende zugelassen sind.
Alle Heilpflanzen, Johanniskraut, Baldrian, Passionsblume und Lavendel, wurden von der Kommission E des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes positiv bewertet.
Geeignete homöopathische Mittel bei Stress und nervösen Störungen sind beispielsweise Sepia, Ambra, Hyoscyamus, Damiana und Ignatia. Der Patient sollte das Mittel in einer geringen Potenzierung als D4 oder D6 mehrmals täglich jeweils nach Bedarf auf die Mundschleimhaut einwirken lassen.
Auch ein Versuch mit Bach-Blüten kann sich lohnen. Mittel der Wahl ist Olive, aber auch Centaury, Hornbeam, Larch oder Sweet Chestnut helfen. Bach-Blüten-Präparate sind für Kinder, Schwangere und Stillende geeignet. Die Patienten sollten zwei Tropfen jedes ausgewählten Konzentrates in eine 30-ml-Flasche geben und mit stillem Mineralwasser und einem Teelöffel Alkohol auffüllen. Von dieser Zubereitung nehmen sie mindestens viermal täglich 4 Tropfen in einem Glas Wasser schluckweise über einen längeren Zeitraum ein.
Zur Regeneration des durch Stress geschwächten Immunsystems haben sich Arzneimittel mit Auszügen aus dem Roten Sonnenhut, Ginseng oder der Eleutherokokkus-Wurzel bewährt. Außerdem können PTA oder Apotheker Präparate mit Vitamin C und Zink empfehlen. /