Jede Sekunde zählt |
21.01.2011 13:57 Uhr |
Von Claudia Borchard-Tuch / Schlaganfälle sind die zweithäufigste Todesursache weltweit. Allein in Deutschland gibt es jährlich etwa 200 000 Fälle, circa jeder fünfte Patient stirbt an den Folgen. Jeder Schlaganfall ist ein akuter Notfall, der rasches Handeln erfordert. Schnellstmöglich muss der Patient in ein Krankenhaus mit einer Spezialstation gebracht werden.
»... prallrot das Gesicht von aufwallendem Blut und dick die Adersträhnen an den Schläfen« verlässt Georg Friedrich Händel am 13. April des Jahres 1737 die Probe. Heftig wirft der Musiker die Haustür hinter sich ins Schloss und eilt gereizt die Treppe hinauf. Aus seinem Arbeitszimmer ist plötzlich ein lautes Geräusch zu hören. »Etwas Massiges und Schweres musste er im obern Stockwerk hingeschmettert haben«, schreibt Stefan Zweig in seiner Erzählung »Georg Friedrich Händels Auferstehung«. Ein Diener fand seinen Herrn kurze Zeit später »regungslos auf dem Boden liegend, die Augen starr offen«. Der herbeigerufene Arzt erkannte sogleich, was geschehen war: »Apoplexia«, erklärte er, »die rechte Seite ist gelähmt.« Auf die Frage, ob der 52-jährige Hofkomponist je wieder gesund wird, antwortete er: »Vielleicht. Alles ist möglich.«
Foto: medical picture
Dr. Jenkins, der Arzt des königlichen Hofkomponisten, eilte zwar, so schnell er konnte, zu seinem Patienten. Er hatte jedoch kaum Möglichkeiten, ihm zu helfen. Letztlich konnte Jenkins nur abwarten, bis die Symptome von selbst verschwanden. Georg Friedrich Händel wird wieder gesund. Stefan Zweig beschreibt ihn »als stark wie ein Stier«. Bereits »nach einer Woche konnte sich Händel wieder hinschleppen, nach einer zweiten den Arm bewegen«.
Aus heutiger medizinischer Sicht gehörte Händel wohl zu jener seltenen Gruppe von Menschen, bei denen ein Schlaganfall (Apoplex) vollständig ausheilte. Das ist die Ausnahme, nicht die Regel: Von den mehr als 200 000 Menschen, die pro Jahr in Deutschland einen Schlaganfall erleiden, sterben 40 000. Nicht nur ältere, sondern zunehmend auch jüngere Menschen »trifft der Schlag«.
Thrombus oder Hirnblutung
Ursache des Schlaganfalls ist meist ein Thrombus in einer Hirnarterie, die arteriosklerotisch vorgeschädigt ist, oder eine Embolie. Dann wurde ein Blutgerinnsel aus dem Herzen oder einer großen Schlagader in das Gehirn gespült. In etwa einem Fünftel der Fälle verursacht jedoch eine Hirnblutung den Apoplex. Dabei platzen angeborene Ausstülpungen der Hirngefäße (Aneurysmen) oder kleine Arterien, die durch Vorerkrankungen wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus jahrelang geschädigt wurden.
Von Anfang an sollten Schlaganfall-Patienten von geschulten Teams versorgt werden. Dafür stehen unter anderem Spezialboxen zur Verfügung.
Foto: Boehringer Ingelheim
Neben Bluthochdruck und Diabetes erhöhen Rauchen, Fettstoffwechselstörungen, mangelnde Bewegung, Übergewicht, Stress, Herzrhythmusstörungen und die Antibabypille das Risiko eines Schlaganfalls. Zudem steigt die Gefahr mit höherem Lebensalter drastisch an.
Da der Apoplex eine schwere Erkrankung mit ungünstiger Prognose ist, sollte der Prophylaxe sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Viel Bewegung, gesunde Ernährung, kein Nikotin, Behandlung von Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Herzrhythmusstörungen senken das Risiko deutlich.
Bei einem Schlaganfall werden Teile des Gehirns plötzlich außer Funktion gesetzt. Die Neurone erhalten nicht mehr genügend Sauerstoff und Nährstoffe und drohen abzusterben. Je länger dieser Zustand andauert, desto unwiderruflicher sind die Folgen. Wenn der Blutstrom und mit ihm die Versorgung versiegt, sterben die betroffenen Nervenzellen nach kürzester Zeit ab – im Zentrum der Minderdurchblutung innerhalb weniger Sekunden bis Minuten.
Ein Apoplex ist deshalb immer ein Notfall, der sofortiger ärztlicher Behandlung bedarf (Kasten). Der Patient muss in einer neurologischen Klinik mit einer sogenannten Stroke Unit behandelt werden. Hier arbeitet ein geschultes Team aus Ärzten, Pflegekräften, Therapeuten, Psychologen und medizintechnisch versierten Mitarbeitern Hand in Hand.
Vielfältige Symptomatik
Je nach betroffenem Hirnareal unterscheiden sich die Symptome und der Schweregrad. Typischerweise treten die Beschwerden einseitig auf. Am häufigsten ist ein Infarkt im Versorgungsgebiet der mittleren Großhirnarterie. Dann ist nicht nur eine Körperhälfte gelähmt, sondern der Patient kann auch kaum sprechen.
Die erfolgreiche Versorgung akuter Schlaganfallpatienten beruht auf vier Schritten:
Dauern die Symptome nur kurz und bilden sich vollständig zurück, bezeichnen Mediziner dies als transitorische ischämische Attacke (TIA). Oftmals wird außer Acht gelassen, dass in diesem Fall ebenfalls eine sofortige ärztliche Untersuchung notwendig ist – auch bei jungen Menschen. Immerhin erleiden 40 Prozent der Patienten innerhalb von fünf Jahren nach einer TIA einen Schlaganfall.
Geeignete Diagnoseverfahren
Zur bestmöglichen Therapie muss der Arzt als Erstes die Ursache klären. Das Computertomogramm zeigt ihm, ob eine Blutung (Hämorrhagie) oder eine Mangeldurchblutung (Ischämie) vorliegt. Die verschiedenen Schweregrade ischämischer Durchblutungsstörungen enthält der Kasten.
In manchen Fällen sind Ischämien erst nach Stunden computertomografisch nachweisbar. Dann kann der Arzt zur genaueren Abklärung eine Magnetresonanztomografie (MRT) durchführen. Die MRT hilft ihm zudem, in der hoch akuten Phase das Ausmaß des bereits eingetretenen Schadens und die Überlebenswahrscheinlichkeit der Nervenzellen abzuschätzen. Ob und wie stark die hirnversorgenden Blutgefäße arteriosklerotisch verengt sind, oder ob sich dort ein Thrombus befindet, zeigt die Doppler-Sonografie, eine spezielle Form des Ultraschalls.
Bei einer Hirnblutung muss ein Chirurg das ausgetretene Blut entfernen und die Leckstelle operativ verschließen. Bluthochdruck sollte langfristig und vorsichtig auf bestmögliche Werte gebracht werden. Unterbricht hingegen ein Thrombus die Blutzirkulation, muss der Facharzt das blockierte Gefäß möglichst schnell wieder durchgängig machen. Hierzu setzt er einen gentechnisch hergestellten Gewebeplasminogenaktivator (rtPA) ein (siehe Grafik), den er in eine Vene spritzt. In einem hohen Prozentsatz gelingt so eine Fibrinolyse und damit die Auflösung des Thrombus, also die Thrombolyse. Diese systemische Fibrinolyse muss innerhalb von drei Stunden nach den ersten Symptomen erfolgen. Danach verringern sich die Aussichten, das Ausmaß des Schlaganfalls und seine Folgen wesentlich zu begrenzen. Parallel dazu steigt die Gefahr unerwünschter Nebenwirkungen, beispielsweise ein erhebliches Blutungsrisiko. Neue Untersuchungsergebnisse lassen hoffen, dass dieses relativ kurze »therapeutische Fenster« vergrößert werden kann.
Die Balance zwischen Blutgerinnungsfaktoren und ihren Gegenspielern ist fein aufeinander abgestimmt. Gentechnisch hergestellter Gewebeplasminogenaktivator aktiviert die Fibrinolyse.
Grafik: PZ/Wosczyna
Ist die mittlere Hirnarterie betroffen, verzichten Mediziner zunehmend auf die systemische Fibrinolyse und spritzen den Gewebeplasminogenaktivator direkt in die Arterie. Eine spezielle Ultraschallbehandlung unterstützt diese Therapie.
Antikoagulanzien oder Thrombozytenaggregationshemmer können einen bestehenden Blutpfropfen nicht auflösen. Diese Arzneimittel verordnet der Arzt Patienten, wenn die Gefahr für einen weiteren Schlaganfall besteht (siehe Tabelle 1).
Ist die Halsschlagader in einem bestimmten Areal verengt, kann dies operativ direkt angegangen werden. Hauptursache der Verengung sind cholesterolhaltige Partikel, die sich in die Wand des Blutgefäßes eingelagert haben. Der Chirurg schabt diese sogenannten Plaques aus der aufgeschnittenen Ader. Ist das nicht möglich, legt er einen Bypass aus Kunststoff, der die Engstelle überbrückt.
Weil das Risiko, dass sich die Adern erneut verengen, dennoch relativ hoch ist, kommen sogenannte Stents, Röhrchen aus Draht oder Kunststoff, zum Einsatz. Über einen Katheter bringt der Chirurg sie mit Hilfe eines Ballons auf die nötige Größe oder sie dehnen sich von selbst aus. Die Stents wachsen in das Gefäß ein und erweitern es langfristig.
Gefährliche Komplikationen
Bei manchen Patienten schwillt das Gehirn als Folge eines Schlaganfalls stark an. Es entstehen Hirnödeme, und der Hirndruck steigt. In den ersten 48 Stunden nach dem Schlaganfall erhalten die Patienten daher Entwässerungsmittel – sogenannte Osmodiuretika. Osmodiuretika werden in der Niere glomerulär filtriert, aber nicht tubulär rückresorbiert. Ihrem osmotischen Druck entsprechend, halten diese Substanzen Wasser im Tubulusinneren zurück und steigern so die Harnausscheidung (Diurese). Die Elektrolytausscheidung ist dagegen nur geringfügig erhöht. Dehnt sich das Gehirn stark aus, muss zur Entlastung operativ ein Teil des Schädelknochens entfernt werden.
Gruppe | Substanzen (Beispiele) |
---|---|
Thrombozytenaggregationshemmer | Acetylsalicylsäure |
Heparine | Enoxaparin, Fondaparinux |
Heparinoide | Danaparoid, Natrium-Pentosanpolysulfat |
Hirudin und Derivate | Lepirudin, Desirudin |
Cumarine | Warfarin, Phenprocoumon |
Um den Zustand des Patienten beurteilen zu können, werden seine Atmung sowie Herz- und Kreislauftätigkeit überwacht. Eventuell ist es erforderlich, ihn zusätzlich mit Sauerstoff zu versorgen oder ihn künstlich zu beatmen. Herzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen müssen sofort behandelt werden, da das Gehirn sonst schlechter durchblutet wird. Bei Patienten mit akutem ischämischen Apoplex ist häufig der Blutdruck erhöht. Der Blutdruck wird aber nur bis zu einer Grenze von 180 bis 220 zu 105 bis 120 mmHg therapiert, damit das Gehirn ausreichend durchblutet wird. Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt werden durch Infusionen korrigiert. Da erhöhte Blutzuckerspiegel die Heilung erschweren, kontrolliert das geschulte Klinikteam die Blutzuckerspiegel in den ersten drei Tagen häufig und behandelt Blutzuckerentgleisungen sofort. Auch eine erhöhte Körpertemperatur wirkt sich ungünstig auf noch nicht irreversibel geschädigte Zellen aus. Daher wird die Körpertemperatur bereits gesenkt, sobald sie über 37,5 °C steigt.
Mit einer speziellen Software können Ärzte während der Behandlung eines Schlaganfallpatienten das Blutvolumen im Gehirn beobachten.
Foto: Siemens AG
Die Bereitschaft des Gehirns, sich neu zu organisieren, ist unmittelbar nach einem Schlaganfall besonders groß. Im Verlauf der nachfolgenden Monate nimmt sie langsam wieder ab. Die Selbstheilungskräfte des Gehirns mit Hilfe von Medikamenten und gezielten Trainingsmaßnahmen zu stimulieren, ist ein anspruchsvolles Ziel der Schlaganfall-Therapie. Bewährt hat sich die Kombination unterschiedlicher Rehabilitationsmaßnahmen. Indem gesunde Gehirnanteile die Funktion der kranken übernehmen (siehe Tabelle 2), können Patienten alte Fähigkeiten wieder erlernen.
Die Rückkehr nach Hause sehnen viele Patienten herbei, denn zumeist fühlen sie sich in den eigenen vier Wänden am wohlsten, auch Pflegebedürftige. Da die Anforderungen an die Pflegenden hoch sind, bieten kirchliche Verbände, Kranken- oder Pflegekassen Kurse für pflegende Angehörige an.
Verfahren | Beschreibung |
---|---|
Neuropsychologisches Training | Training von Konzentration, Orientierung, Rechenfähigkeit, Lernfähigkeit und Gedächtnis, Raumsinn sowie Planung und Sprache |
Physiotherapie | allgemeine Anregung oder gezielte Behandlung gestörter physiologischer Funktionen mit physikalischen Mitteln, zum Beispiel mit Wasser (Hydrotherapie) oder Wärme und Kälte (Thermotherapie) |
Logopädie | Therapie von Stimm-, Sprech-, Sprach- und Hörstörungen |
Ergotherapie | Beschäftigungs- und Arbeitstherapie |
Weitere | Massagen, Entspannungsübungen, Gesprächs- und Verhaltenstherapie |
Das Risiko, erneut einen Schlaganfall zu erleiden, lässt sich durch die konsequente Behandlung von Grunderkrankungen und die Beseitigung von Risikofaktoren erheblich verringern. Wichtig ist eine ausgewogene Kost mit Vollkornprodukten, frischem Obst und Gemüse. Tierische Fette sollten möglichst durch pflanzliche Öle ersetzt werden.
Die Farbintensität zeigt den Operateuren die Durchblutung einzelner Gehirnareale an. Erkennen sie Veränderungen, können sie schneller die richtigen Maßnahmen ergreifen.
Foto: Siemens AG
Übergewichtige sollten ihr Gewicht reduzieren, auch indem sie sich mehr bewegen. Diabetes mellitus erhöht das Schlaganfallrisiko um das Zwei- bis Dreifache, denn unter anderem begünstigt ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel Arteriosklerose. Rauchen verdoppelt das Schlaganfallrisiko. Raucher sollten spätestens nach einem Apoplex ihrer Sucht entsagen. Nikotinersatzpräparate können sie hierbei unterstützen.
Thromben vorbeugen
Bei Patienten mit Vorhofflimmern, einem Herzwandaneurysma oder Thromben in den Herzhöhlen leitet der behandelnde Arzt je nach individuellem Risiko eine langfristige orale Hemmung der Blutgerinnung, beispielsweise mit einem Cumarin, ein. Bei manchen Patienten ist die orale Antikoagulation nicht indiziert, diese erhalten einen Thrombozytenaggregationshemmer, beispielsweise Acetylsalicylsäure. Zu hoher Blutdruck muss zwingend gesenkt werden, da Hypertonie einen erneuten Hirninfarkt begünstigt.
Trotz all dieser Maßnahmen bleibt der Schlaganfall eine der dramatischsten Krankheiten, die viele Menschen das Leben kostet oder sie hilfsbedürftig werden lässt: Innerhalb des ersten Jahres nach dem Apoplex sterben etwa 37 Prozent der Patienten, 70 Prozent der Überlebenden bleiben langfristig behindert und davon wiederum 64 Prozent pflegebedürftig, 15 Prozent werden dauerhaft in einer Pflegeeinrichtung versorgt. /