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Seltene Erkrankungen

Schleichend stirbt die Netzhaut ab

21.01.2011  14:01 Uhr

Von Iris Priebe / Wenn jemand seinem Gesprächspartner unterstellt, er habe einen Tunnelblick, heißt das so viel wie: Seine Ansichten sind einseitig. Mediziner verwenden diesen Begriff jedoch für ein eingeschränktes Gesichtsfeld, als Leitsymptom einer Gruppe von Netzhauterkrankungen, der Retinitis pigmentosa.

Normalerweise umfasst das Gesichtsfeld eines Gesunden einen Winkel von etwa 180°. Bewegungen und Gegenstände in den Randbereichen erkennen sie gerade noch, aber »unscharf«. Patienten mit Retinitis pigmentosa (RP) können in dieser Peripheriezone fast nichts oder gar nichts mehr sehen. Vorwiegend verursacht ein Untergang der Netzhaut die Erkrankung.

Der Begriff Retinitis ist irreführend, denn die Endung »itis« beschreibt eigentlich immer eine Entzündung. Tatsächlich aber verbirgt sich hinter Retinitis pigmentosa eine Gruppe von Augenerkrankungen, die meist vererbt werden und bei denen die Sinneszellen der Netzhaut (Retina) absterben. In Deutschland leiden schätzungsweise 35 000 Menschen an RP. Darunter befinden sich einige eher seltene Formen wie das Usher-Syndrom oder das Bardet-Biedl-Syndrom.

Untergang der Sehzellen

Die Netzhaut enthält etwa 125 Millionen lichtempfindliche Sinneszellen, die sogenannten Fotorezeptoren. Trifft Licht da­rauf, wandeln sie diesen Reiz in ein elektrisches Signal um, das der Sehnerv an das Gehirn weiterleitet. Erst dort »entsteht« aus allen Einzelinformationen ein zusammenhängendes Bild. Die Fotorezeptoren teilen sich auf in rund 120 Millionen Stäbchen und 5 Millionen Zapfen. Die Stäbchen ermöglichen sogar noch das Sehen bei sehr schwachen Lichtverhältnissen, bilden allerdings alles nur in Schwarzweiß ab. Deshalb heißt es im Volksmund auch: Bei Nacht sind alle Katzen grau. Das Erkennen von Farben ermöglichen hingegen die Zapfen. Diese Sinneszellen stehen besonders dicht gedrängt an der Makula, dem gelben Fleck im Zentrum der Netzhaut, dem Punkt des schärfsten Sehens.

Über 90 Prozent der Betroffenen sind an primärer Retinitis pigmentosa erkrankt. Diese Form verläuft schleichend, oft über viele Jahre hinweg. Einige bemerken schon in der Jugend, die meisten jedoch im mittleren Alter erste Symptome: Die Sehschärfe lässt nach, das Gesichtsfeld verkleinert sich, Kontraste und Farben verwischen und nachts erkennen sie kaum noch Konturen. Schließlich erblinden viele Erkrankte sogar.

Der Grund: Bei RP sterben die Fotorezeptoren nach und nach ab. Zuerst sind nur die Stäbchen betroffen, später auch die Zapfen. In der Regel verengt sich dadurch das Gesichtfeld stetig von außen nach innen, wobei die Sehkraft im Zentrum meist noch lange erhalten bleibt. Die Patienten haben das Gefühl, sie würden die Welt nur noch durch ein Rohr betrachten. In seltenen Fällen fällt aber auch der zentrale Sichtbereich aus oder die Patienten sehen nur noch »bruchstückhaft«.

Vererbbare Varianten

Den meisten Formen der Retinitis pigmentosa liegen Fehler in der Erbsubstanz zugrunde. Bisher fanden Forscher mehr als 130 verschiedene Genabschnitte als Ursache für RP. Obwohl die Gendefekte sich von Patient zu Patient unterscheiden, verläuft die Krankheit bei allen später fast gleich. Außerdem werden die Gene von Generation zu Generation auf verschiedenen Wegen weitervererbt (siehe Kasten). Doch auch dadurch wird der Verlauf der Krankheit nicht beeinflusst: Die primäre RP endet immer mit dem Untergang der Fotorezeptoren.

Wie hoch ist das Risiko, die Erkrankung zu vererben?

Wie bei anderen Erbkrankheiten bewegt auch RP-Patienten die Frage: Können meine Kinder diese unheilbare, oft zur Erblindung führende Erkrankung erben? Viele betroffene Paare lassen sich heute vor einer Schwangerschaft von Humangenetikern beraten.

  • In 50 Prozent der Fälle ergibt die Familienanamnese keine Auffälligkeiten und damit keinen Anlass zur Sorge.
  • 15 bis 20 Prozent der Eltern können die Erkrankung autosomal-dominant vererben. Ist ein Elternteil erkrankt, wird er die RP mit einem Risiko von circa 50 Prozent an sein Kind weitergeben.
  • 20 bis 25 Prozent der Eltern können die RP autosomal-rezessiv vererben. Sind beide Eltern Träger der Gene, beträgt die Wahrscheinlichkeit etwa 25 Prozent, dass ihr Kind an RP erkrankt.
  • Bei 10 bis 15 Prozent der Familien ist der Gendefekt auf dem X-Chromosom lokalisiert. Deshalb erkranken ausschließlich männliche Nachkommen. Frauen bleiben zwar gesund, weil sie ein zweites intaktes X-Chromosom besitzen, können aber den Gendefekt weitervererben.

Patienten mit assoziierter RP leiden neben dem schleichenden Netzhautuntergang unter weiteren Krankheitssymptomen wie Bewegungsstörungen der Augen, Hörstörungen, Muskelschwäche, Lähmungen, einer empfindlichen Haut bis hin zu Herzrhythmusstörungen, Nierenanomalien und geistiger Behinderung. Mediziner nennen das Krankheitsbild daher auch syndromale RP.

Das Usher-Syndrom und das Bardet-Biedl-Syndrom gehören zu dieser Untergruppe. Patienten mit dem Usher-Syndrom leiden zusätzlich an einer angeborenen oder im frühen Erwachsenenalter auftretenden Innenohrschwerhörigkeit bis Taubheit. Häufig wird diese spät erkannt und oftmals irrtümlich auf eine Kinderkrankheit wie Masern zurückgeführt. Die Ursache für die Schwerhörigkeit ist noch unklar, vermutlich funktionieren die Flimmerhaarzellen (Zilien) der Schnecke nicht mehr richtig. Diese Sinneshaarzellen haben normalerweise die Aufgabe, den mechanischen Schall in elektrische Impulse umzuwandeln, die der Hörnerv Richtung Gehirn weiterleitet. Der Grad der Schwerhörigkeit hängt von der Anzahl der defekten Hörzellen und dem betroffenen Bereich in der Schnecke ab. Auch das Usher-Syndrom unterteilen Mediziner noch weiter. Es wird stets autosomal-rezessiv vererbt und ist nicht so selten: In Deutschland leben schätzungsweise 5000 Betroffene.

Auch beim Bardet-Biedl-Syndrom treten außer den Augen­problemen weitere Symptome beziehungsweise Missbildun­gen auf wie überzählige Zehen oder Finger, allgemeine Entwicklungsstörungen und eine Unterentwicklung der Geschlechtsorgane. Die Erkrankung wird ebenfalls autosomal-rezessiv vererbt. Zwar liegen aus Deutschland keine Zahlen vor, aber wenn man Statistiken aus dem europäischen Ausland auf Deutschland überträgt, dürfte die Zahl der Betroffenen zwischen 500 und 1300 liegen.

Zum Verwechseln ähnlich

Bei Pseudo-Retinitis pigmentosa handelt es sich um Augenerkrankungen, denen kein genetischer Defekt zugrunde liegt. Die ärztliche Diagnose ergibt ganz ähnliche Veränderungen am Auge wie bei der RP. Daher bezeichnen Ärzte diese Fälle auch als Phänokopien. Auslöser der Pseudo-Retinitis pigmentosa sind Entzündungen oder Autoimmunerkrankungen sowie Vergiftungen durch Medikamente oder toxische Substanzen.

Die Retinitis pigmentosa gilt als unheilbar. Zwar wurde die Erkrankung schon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben, doch bis heute gibt es keine Therapie, die das Absterben der Sehzellen verhindert oder verlangsamt. Nur bei wenigen seltenen Formen der RP wurden erste Behandlungsansätze gewagt. Beispielsweise versuchten Ärzte in einer klinischen Studie durch Gabe eines Wachstumsfaktors den Untergang der Zäpfchen aufzuhalten. Der sogenannte Ciliary Neurotrophic Factor (CNTF) wurde in eine durchlässige Kapsel eingebettet und ins Auge implantiert. Nach 24 Monaten Therapie enthielt die Netzhaut der Probanden noch rund 9 Prozent mehr Zapfen als die der Placebogruppe. Leider stellten die Studienärzte aber auch fest, dass sich klinische Parameter wie Sehschärfe nicht verbesserten.

Möglicherweise verlangsamt auch die Gabe von Vitamin-A-Palmitat das Fortschreiten einiger Formen der RP. In einer Studie nahmen erwachsene Patienten sechs Jahre lang täglich 15 000 I. E. des Vitamins ein. Bei rund 20 Prozent konnte der Verlauf der Erkrankung gebremst werden.

Die Hoffnungen in die Gentherapie erfüllten sich bislang nicht. Defekte Gene durch intakte zu ersetzen, ist extrem schwierig. Ein Grund: Bereits beim Gen für das Sehpigment Rhodopsin kennen Wissenschaftler weit über 100 verschiedene Mutationen.

Technische Hilfen

Seit 1995 werden in Deutschland Retina-Implantate entwickelt. Sie sollen die untergegangenen Fotorezeptoren ersetzen, indem sie künstlich Impulse erzeugen und so deren Funktion übernehmen. Mit solchen Systemen könnten sich Betroffene zumindest wieder besser in ihrer Umgebung orientieren. Unter anderem werden Folien, die mit Mikroelektroden bestückt sind, auf die Netzhaut aufgebracht. Der Patient trägt dann an einem Brillengestell eine kleine Videokamera. Die Bilder sendet die Kamera an einen Computer, den der Patient beispielsweise an den Gürtel schnallt. Dort werden die optischen in Impulssignale umgewandelt und drahtlos an das Implantat im Auge gesendet. Diese Impulse werden vom Auge aus an das Gehirn weitergeleitet und in ein Bild umgewandelt.

Bei einer anderen Technik werden Fotodioden unter die Stelle der Netzhaut gepflanzt, wo sich bei Gesunden die lichtempfindlichen Sinneszellen befinden. Auf diese Weise soll die natürliche Funktion der Netzhaut deutlich verstärkt werden. Erste klinische Studien an erblindeten Menschen vermittelten den Patienten allerdings lediglich bescheidene Seheindrücke. Auch hier ist noch weitere Entwicklungsforschung nötig. /

Adressen für Betroffene

Da es viele Formen der degenerativen Netzhauterkrankungen gibt, benötigt jede ihre individuelle Therapie. Umfangreiches Informationsmaterial dazu erhalten Interessierte hier:

  • Der Verein Pro Retina stellt auf Anfrage umfangreiches Material zu den jeweiligen Erkrankungsformen zur Verfügung. Pro Retina Deutschland e.V., Vaalser Str. 108, 52074 Aachen, Tel. 0241 870018, E-Mail: pro-retina(at)t-online.de, Internet: www.pro-retina.de
  • Das Universitätsklinikum Aachen bietet jeden 1. Montag im Monat eine fachübergreifende Sprechstunde an. Anmeldung erforderlich unter mwesthofen(at)ukaachen.de oder Tel. 0241 8089360

E-Mail-Adresse der Verfasserin

irispriebe(at)gmx.de