Klasse statt Masse |
16.01.2017 10:38 Uhr |
Von Ulrike Becker / Fleisch gehört für viele täglich auf den Tisch. Doch das meiste, was auf dem Teller landet, stammt aus Massentierhaltung – mit Folgen für Mensch, Tier und Umwelt. Ein Umdenken ist dringend nötig.
Deutsche Landwirte produzieren trotz des Trends zu vegetarischem oder veganem Essen so viel Fleisch wie nie zuvor: über 8 Millionen Tonnen pro Jahr. Heute verzehrt jeder Deutsche jährlich im Schnitt etwa 61 Kilogramm Fleisch und Fleischwaren. Damit hat sich der Verbrauch seit den 1950er-Jahren verdoppelt. Zwar ist der Konsum in Deutschland gegenwärtig leicht rückläufig, doch der Export wächst beständig. Rein rechnerisch geht laut der Organisation Germanwatch jedes fünfte Schwein und jedes dritte Huhn in den Export. Daher werden weiter riesige Stallungen für die Massentierhaltung gebaut und Rinder, Schweine und Hühner mit importiertem Kraftfutter in Rekordzeit auf ihr Schlachtgewicht gemästet. Erst im November 2016 wurde Deutschland von der Europäischen Union verklagt, weil die Nitratwerte im Trinkwasser viel zu hoch sind. Das ist eine Folge der enormen Fleischproduktion, denn die Gülle der Tiere muss entsorgt werden und gelangt auf diese Weise in großen Mengen in Böden und Trinkwasser.
Foto: iStock/Lisovskaya Natalia
Selbst ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates für Agrarpolitik der Bundesregierung stuft die industrielle Tierproduktion als nicht zukunftsfähig ein und fordert ein stärkeres Engagement von Politik und Wirtschaft. 2017 soll es ein staatliches Tierwohl-Label geben, das hat der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt, im November 2016 angekündigt. Auf einen Blick soll dann zu erkennen sein, unter welchen Haltungsbedingungen die Tiere aufgewachsen sind. Die derzeitigen gesetzlichen Anforderungen reichen offenbar bei Weitem nicht aus, das Wohl der Tiere zu garantieren.
Was muss passieren?
Ein hoher Prozentsatz von Milchkühen mit Euterentzündungen, Gelenkerkrankungen bei Mastschweinen, gegenseitiges Verletzen bei Legehennen, massiver Antibiotikaeinsatz oder das legale Töten von Küken: Die Liste an Missständen in der Tierhaltung ist lang. Immer mehr Menschen machen sich daher Gedanken darüber, woher ihr Fleisch stammt. Allein in Deutschland wurden im Jahr 2015 rund 50 Millionen Küken getötet. Die männlichen Nachkommen von Legehennen eignen sich weder zur Mast noch können sie Eier legen. Derzeit gibt es keine Hühnerrasse, die gleichzeitig einen befriedigenden Fleischansatz bei männlichen Tieren und gute Legeleistung der weiblichen Tiere aufweist. Als erstes Bundesland untersagte Nordrhein-Westfalen das massenhafte Töten männlicher Küken in der Legehennenproduktion und wollte das Verbot bis Ende 2015 umsetzen. Doch die Hühnerhalter legten Protest ein und bekamen vom Oberverwaltungsgericht in Münster im Mai 2016 Recht. Die Richter entschieden, dass das Töten der männlichen Küken nicht gegen das Tierschutzgesetz verstoße, weil »ein vernünftiger Grund im Sinne des Gesetzes vorliegt«. Die Industrie und auch Minister Schmidt setzen nun auf eine Technik, bei der das Geschlecht des Kükens bereits im Ei bestimmt wird. Das Verfahren befindet sich jedoch noch in der Entwicklung und bis es flächendeckend eingesetzt werden kann, wird noch so manches Küken sterben.
Bruder-Küken
In der Biobranche gibt es Versuche, alte Hühnerrassen als sogenannte Zweinutzungshühner zu halten und die männlichen Küken als Fleischlieferanten aufzuziehen, auch wenn der Ertrag deutlich geringer ausfällt. Beispielsweise die Bruderhahn-Initiative Deutschland und die Bruderküken-Initiative von Alnatura verkaufen ihre Eier etwas teurer und verwenden den Aufschlag von einigen Cent pro Ei für die Aufzucht der männlichen Küken.
Tierschützer kämpfen auch schon lange gegen das Kürzen der Schnäbel von Legehennen. Das ist oft gängige Praxis, damit sich die Hühner nicht gegenseitig verletzen oder sogar töten. Doch das Schnabelkürzen ist für die Tiere zum einen sehr schmerzhaft, zum anderen verlieren sie damit ein wichtiges Werkzeug zum Tasten, Greifen oder Federn putzen. Das gegenseitige Verletzen führen Forscher vielmehr auf die Haltungsbedingungen zurück. Denn die meisten der rund 40 Millionen Hühner, die in Deutschland zur Eierproduktion dienen, werden in drangvoller Enge gehalten.
Andrang vor einem Melkkarussell: Die Milchkühe werden in entsprechende Vorrichtungen getrieben und dort automatisiert gemolken.
Foto: Picture Alliance/Joker
Bei den Biobauern ist das Abschneiden der Schnabelspitze verboten. Um diese Maßnahme auch in der konventionellen Legehennenhaltung abzuschaffen, haben Verbände der Geflügelwirtschaft eine freiwillige Verpflichtung unterzeichnet, die ab 2017 einen Ausstieg aus der bisherigen Praxis verspricht. Strafrechtliche Konsequenzen müssen die Erzeuger bei Zuwiderhandlung allerdings nicht befürchten.
Auf der Agenda für mehr Tierwohl steht auch ein Verzicht auf die Ferkelkastration. Geschlechtsreife männliche Schweine bilden Hormone und Ebergeruchsstoffe, die über den Blutkreislauf auch in das Muskelfleisch gelangen. Bei einem Teil der Eber führen diese Stoffe zu unangenehmem Geruchs- und Geschmacksabweichungen, wenn das Fleisch erhitzt wird. Die geruchsbelasteten Tiere können bei der Schlachtung nicht mit Sicherheit aussortiert werden. Um auszuschließen, dass Fleisch dieser Tiere in den Handel gelangt, werden in Deutschland bisher jedes Jahr rund 25 Millionen männliche Ferkel kastriert. Das darf in den ersten sieben Lebenstagen bei vollem Bewusstsein ohne Ausschalten des Schmerzes erfolgen. Tierschützer beanstanden das schon lange. Denn gerade die ganz jungen Ferkel gelten als besonders schmerzempfindlich. Ab Januar 2019 soll das Kastrieren dann nur noch an betäubten Ferkeln erlaubt sein.
Um auf die schmerzhafte Praxis langfristig ganz verzichten zu können, müssten Eber künftig als Fleischlieferanten genutzt werden. Üblich ist das in einigen europäischen Ländern schon lange, beispielsweise in England oder Portugal. In den Niederlanden vertreibt bereits eine Lebensmittelkette bewusst Fleisch von unkastrierten Tieren. In Deutschland startete im April 2014 ein dreijähriges Projekt des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), das ein Konzept für die Erzeugung, Schlachtung und Verarbeitung ökologisch erzeugter Eber erarbeiten soll. Endgültige Ergebnisse stehen noch aus, kleinere Studien deuten aber bereits darauf hin, dass eine optimale, stressfreie Haltung und eine besondere Fütterung den Ebergeruch und -geschmack beeinflussen können; auch bei den Schweinerassen gibt es diesbezüglich Unterschiede.
Artgerechtere Haltung
Tierschützern sind die Haltungsbedingungen der Nutztiere schon lange ein Dorn im Auge. Der Deutsche Tierschutzbund hat daher bereits 2013 das Label »Für mehr Tierschutz« entwickelt, mit dem Verbraucher Fleisch erkennen können, das von Betrieben mit tiergerechter Haltung stammt. Die Vergabe erfolgt in zwei Stufen, wobei erst die sogenannte Premiumstufe einer artgerechten Tierhaltung entspricht; die Einstiegsstufe soll aber möglichst viele Erzeuger motivieren, wenigstens kleinere Veränderungen umzusetzen, beispielsweise mehr Platz pro Tier. Ein weiteres Label vergibt die Tierschutzorganisation Vier Pfoten. Ihr Gütesiegel »Tierschutz-kontrolliert« garantiert etwa Tageslicht und Frischluft oder Regelungen für stressfreien Transport und Schlachtung. Die Vorgaben für Rinder, Masthühner und Schweine bestehen ebenfalls aus zwei Stufen: einer niedrigeren Einstiegsstufe (ein Stern) und der höheren Premiumstufe (drei Sterne). Produkte mit den Zeichen der beiden Tierschutzorganisationen sind allerdings kaum im Handel zu finden.
Initiative Tierwohl
Auch die Fleischerzeuger haben erkannt, dass immer mehr Verbraucher nach der Herkunft ihres Fleisches fragen. So haben sich Verbände aus Land- und Fleischwirtschaft, Unternehmer und Lebensmittelhändler 2013 zur »Initiative Tierwohl« zusammengeschlossen, der Deutsche Tierschutzbund saß im Beratungsausschuss. Erfüllen die Landwirte bestimmte Kriterien bei der Tierhaltung – zum Beispiel mehr Platz, Tageslicht oder mehr Beschäftigungsmaterial –, erhalten sie Zuschüsse aus einem Tierwohl-Fond. Finanziert werden die Zahlungen von den Handelsketten, die vier Cent pro verkauftem Kilogramm Fleisch in den Fond einzahlen.
Bei der Schweinezucht gibt es Verbesserungspotenzial. Tierschützer kritisieren vor allem die Praxis, dass Ferkel bei vollem Bewusstsein kastriert werden.
Foto: Picture Alliance/AP Images
Ein großer Kritikpunkt: Die Landwirte dürfen selbst bestimmen, welche Maßnahmen sie für bessere Haltungsbedingungen umsetzen. Auf ein entsprechendes Label verzichtet die Initiative. Die Produkte tragen lediglich das QS-Prüfsiegel der Lebensmittelwirtschaft, das bei anderen Industrieprodukten lediglich die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben signalisiert. Die Verbraucher erfahren folglich nicht, ob und welche Verbesserungen es für die Tiere gibt. Auf Seiten der Produzenten war das Interesse an der Initiative aber so groß, dass nur etwa die Hälfte der mitwirkenden Bauern einen Zuschuss erhält und ihre Motivation so ins Leere läuft. Nach eigenen Angaben machen derzeit 3270 Betriebe mit.
Die freiwilligen Absichtserklärungen der fleischproduzierenden Industrie halten viele Tierschützer für wenig zielführend. Aus Protest über unzureichende Beschlüsse zur langfristigen Verbesserungen in der Tierhaltung hat der Deutsche Tierschutzbund im November 2016 die Beratertätigkeit eingestellt. Der Verband kritisiert, dass weiter auf Quantität statt Qualität gesetzt würde und die nötige Transparenz für die Verbraucher fehle. Die Tierschützer fordern stattdessen gesetzliche Regelungen, die bundesweit die Tierhaltung verbessern. Die neue staatliche Tierwohl-Initiative, die Landwirtschafts- und Ernährungsminister Schmidt angekündigt hat, basiert allerdings ebenfalls auf freiwilliger Basis. Zugrunde liegen sollen »dynamisch angelegte Kriterien«, die den Bauern ausreichend Handlungsspielraum lassen. Zunächst soll es Vorgaben zur Haltung von Schweinen geben, später dann auch für Geflügel, Milchkühe und Rinder.
Kennzeichnungspflicht
Der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) begrüßt die staatliche Initiative und hofft, dass ein Umdenken einsetzt und mehr Verbraucher Informationen über die Tierhaltung bekommen. Nur so kann eine gezielte Nachfrage nach Fleisch aus besseren Haltungsbedingungen entstehen. Damit beim Einkauf artgerecht produziertes Fleisch erkennbar ist, fordern Umwelt- und Tierschutzverbände allerdings eine deutliche Kennzeichnungspflicht, wie sie sich bei Eiern inzwischen etabliert hat. Die Null könnte für Fleisch aus Biohaltung stehen, die eins für die Prämienstufe mit Weide und Stroh, die zwei für eine Einstiegsstufe mit mehr Stallplatz pro Tier und die drei für den gesetzlichen Mindeststandard, erklären Experten der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch. Die Kennzeichnungspflicht bei den Eiern habe immerhin dazu geführt, dass es heute kaum noch Käfigeier gibt.
Eine solche Herkunftsbezeichnung ist allerdings nicht geplant. Kritik gibt es auch von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch, die die Kriterien der staatlichen Initiative als viel zu schwach einstuft. Laut Foodwatch rechnet selbst der wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik nur mit einem Marktanteil von maximal 20 Prozent für Fleisch mit dem staatlichen Siegel. Das hieße für 80 Prozent der Tiere, dass sich auch in Zukunft nichts an den teilweise verheerenden Zuständen in der Massentierhaltung verändert.
Besser Bio
Auf Bio-Bauernhöfen ist es in aller Regel besser um das Tierwohl bestellt als in konventionellen Betrieben. Vorgaben zur Tierhaltung sind für Biobauern in der EU-Öko-Verordnung festgeschrieben. Im Gegensatz zur konventionellen Landwirtschaft gibt es für jede Tierart eine Mindestfläche im Stall und vorgeschriebene Haltungsbedingungen: Dazu zählen unter anderem Frischluft und Tageslicht in den Ställen, je nach Tierart eine Mindestauslauffläche oder eine geringere Besatzdichten bei Masthähnchen. Schmerzhafte Eingriffe wie Schnäbel kürzen oder Schwänze kupieren sind verboten. Medikamente dürfen nicht vorsorglich gegeben werden und bei einem Einsatz im Krankheitsfall sind doppelt so lange Wartezeiten vorgeschrieben wie bei herkömmlicher Tierhaltung. Die strengsten Kriterien erfüllen die deutschen Bioverbände: Bioland, Demeter, Naturland, Biopark, Biokreis, Gäa und Ecoland.
Wissenschaftler sind sich jedoch einig, dass bislang nicht eindeutig zu beantworten ist, unter welchen Bedingungen ein Tier tatsächlich gesund bleibt und sich wohl fühlt. Auch in der ökologischen Tierhaltung beziehen sich die meisten Vorschriften auf bestimmte bauliche Vorgaben oder Maßnahmen wie das Verbot von Schnäbelkürzen. Daher haben die Bioverbände in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Experten aus verschiedenen Bereichen mittlerweile Indikatoren entwickelt, anhand derer sich die Gesundheit einzelner Tiere bestimmen lässt.
Verbraucher schaffen Nachfrage
Bis die Politik tatsächlich verbindliche Regelungen für eine bessere Tierhaltung auf den Weg bringt, wird es noch eine Weile dauern. Daher liegt es momentan an den Verbrauchern, durch ihre Kaufentscheidungen das Wohl der Tiere zu unterstützen. Jeder kann ein Zeichen setzen, indem er ausschließlich zu Fleisch aus tiergerechter Produktion greift. Neben Biobauern setzen auch viele kleinere konventionelle Betriebe auf das Wohl ihrer Tiere. Im konventionellen Lebensmittelhandel sollten Verbraucher genau nachfragen, woher das Fleisch kommt, das sie essen. Denn nur eine zielgerichtete Nachfrage wird den Markt verändern. Eine aktuelle Umfrage der Universität Göttingen zeigt, dass immerhin 80 Prozent der Befragten bereit sind, einen Mehrpreis von bis zu 20 Prozent für Fleisch aus tiergerechter Haltung zu bezahlen. Ein Fünftel würde sogar deutlich mehr dafür ausgeben.
Nicht zuletzt sollte der Fleischkonsum reduziert werden. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt 300 bis 600 Gramm pro Woche, der tatsächliche Verzehr liegt deutlich darüber. Wer beim Fleischeinkauf Qualität vor Quantität stellt und die Billigware im Discounter liegen lässt, trägt dazu bei, die Massentierhaltung schrittweise zu verringern. /
Einen Überblick über die verschiedenen Haltungsbedingungen für Tiere und die Aussagekraft der unterschiedlichen Kennzeichnungen finden Verbraucher auf den Internetseiten der jeweiligen Initiativen: