K.o. für den Kreislauf |
22.01.2018 12:06 Uhr |
Von Judith Schmitz / Ein zu niedriger Blutdruck gilt als ungefährlich. Dennoch plädieren einige Experten dafür, die Hypotonie ernst zu nehmen, besonders, wenn häufig Kreislaufbeschwerden auftreten. Sowohl medikamentöse als auch nicht-medikamentöse Maßnahmen können Abhilfe schaffen.
Solange ein zu niedriger Blutdruck keine Beschwerden hervorruft, gilt er in der Regel als unproblematisch. Wissenschaftler wie der emeritierte, in der Forschung noch aktive Psychologie-Professor Dr. Rainer Schandry von der Ludwig-Maximilians-Universität München sind in der Minderheit mit ihrem Appell, Hypotonie als Krankheitsbild ernst zu nehmen. Sie berufen sich dabei auf Studien, die ergaben, dass ein zu niedriger Blutdruck zu einer Minderleistung des Gehirns führen kann.
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Tatsächlich wird ein niedriger Blutdruck im Gegensatz zu Bluthochdruck sogar als erstrebenswert wahrgenommen. Das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen ist niedriger, bereits ab Blutdruckwerten im Normalbereich ab 115/75 mmHg steige es exponenziell an, schreibt die Deutsche Hochdruckliga.
Eine arterielle Hypotonie entsteht, wenn ein Missverhältnis von Gefäß- und zirkulierendem Blutvolumen vorliegt, etwa durch einen verminderten Gefäßwiderstand, eine reduzierte kardiale Pumpfunktion, ein zu geringes Blutvolumen oder einen Blutrückstrom zum Herzen. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO besteht eine Hypotonie bei einem systolischen Druck unter 110 mmHg (Mann) beziehungsweise unter 100 mmHg (Frau) unabhängig vom diastolischen Druck unter Ruhebedingungen. Mediziner unterscheiden die konstitutionelle, die symptomatische und die orthostatische Hypotonie. Ein Blutunterdruck kann plötzlich und heftig auftreten (akut) oder der Druck kann dauerhaft zu niedrig sein (chronisch).
Akut unterversorgt
Bis zu 600 ml Blut können bei einem plötzlichen Blutdruckabfall in den Beinen versacken. Der Körper versucht dann, das Blut in die lebenswichtigen Organe umzuleiten. Wird das Gehirn dabei nicht ausreichend durchblutet und mit genügend Sauerstoff versorgt, entstehen Kreislaufprobleme. Sie können von Augenflimmern über Schwindelattacken, Ohrensausen und Schweißausbruch bis zum Kreislaufkollaps mit Ohnmacht reichen. Extreme Blutdruckstürze etwa durch einen großen Blutverlust, schwere Infektionen oder allergische Reaktionen können gar einen lebensbedrohlichen Schock verursachen.
Auch ein dauerhaft zu niedriger Blutdruck kann Kreislaufprobleme wie Augenflimmern, Schwindel und Übelkeit hervorrufen. Hypotoniker fühlen sich oft müde (vor allem morgens), antriebslos, verstimmt. Sie schlafen schlecht, haben kalte Hände und Füße, zittern, leiden unter Kopfschmerzen und Herzrasen. Autoregulatorische Prozesse kompensieren einen zu niedrigen Blutdruck und verhindern damit eine verminderte Hirndurchblutung, so die gängige Lehrmeinung. Doch zumindest die Untersuchungen von Schandry und einigen anderen Wissenschaftlern deuten darauf hin, dass eine chronische Hypotonie die Hirnfunktion hinsichtlich Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung negativ beeinflussen kann. Der niedrige Blutdruck könnte also womöglich doch mehr sein als die oft belächelte »deutsche Krankheit«, wie die Hypotonie im Ausland spöttisch bezeichnet wird.
Im Gegensatz zu Hypertonikern machen Hypotoniker mit geschätzten 3 bis 5 Prozent nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus. Bei mehr als 90 Prozent der Betroffenen liegt eine konstitutionelle Hypotonie vor, Ursache unbekannt. Vermutet wird ein Zusammenhang mit dem Körperbau und der körperlichen Verfassung. Denn betroffen sind vorwiegend junge Menschen, insbesondere schlanke, zierliche Frauen. Der Blutdruck ist zwar dauerhaft niedrig, die Kreislaufbeschwerden treten aber nicht permanent auf. Oft kommt es etwa bei Hitze im Sommer, nach langem Baden in zu heißem Wasser oder bei einem Temperaturwechsel zu Beschwerden. Auch nach langer Bettlägerigkeit oder während eines jugendlichen Längenwachstumsschubs treten verstärkt Kreislaufprobleme auf.
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Erkrankungen des Herzens, der Gefäße oder des Nervensystems oder auch Hormonstörungen wie eine Schilddrüsenunterfunktion können zu einer sekundären Hypotonie führen. Verschiedene Erkrankungen können die Herzleistung vermindern (wie die Herzinsuffizienz), den venösen Rückfluss zum Herzen stören (wie bei Lungenembolie, Krampfadern) oder zu Blutverlusten, etwa bei einer Nebenniereninsuffizienz, führen. Auch Medikamente können den Kreislauf negativ beeinflussen, darunter etwa einige Mittel gegen Bluthochdruck oder Parkinson, Antidepressiva oder Medikamente gegen die erektile Dysfunktion, wenn sie gleichzeitig mit Nitroglycerin eingenommen werden. Auch Schwangerschaft, Dehydrierung sowie ein Mangel an Vitamin B12 und Folsäure und eine damit verbundene Anämie können einen niedrigen Blutdruck bedingen.
Anpassungsstörung
Normalerweise reguliert das Kreislaufzentrum im Hirnstamm die Leistung des Herzens und der Blutgefäße, je nach Bedarf des Körpers. Funktioniert diese Steuerung nicht richtig, kann eine orthostatische Hypotonie entstehen: Infolge eines Versagens des Spannungszustandes der Venen und ungenügender Blutförderung entgegen der Schwerkraft kann der Körper den Blutdruck nicht an die Lage des Körpers anpassen. Etwa schnelles Aufstehen aus dem Liegen oder langes Stehen in der Sonne können dann einen plötzlichen Blutdruckabfall mit Kreislaufproblemen bis hin zur Ohnmacht verursachen. Setzen oder legen sich die Betroffenen wieder hin, lassen die Beschwerden in der Regel schnell nach. Bei Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Parkinson oder Diabetes können Steuerungsmechanismen allerdings durch Nervenschäden gestört sein.
Ein niedriger Blutdruck mit kaum oder nur gelegentlich auftretenden leichten Kreislaufproblemen ist bis zum mittleren Alter meist harmlos. Wichtig ist, den Blutdruck durch eigene Messungen und ärztliche Kontrolle im Auge zu behalten. Fühlt sich ein Betroffener jedoch durch entsprechende Beschwerden in seiner Lebensqualität eingeschränkt oder tritt ein akuter Blutdruckabfall mit heftigen Kreislaufproblemen auf, sollte er zum Arzt gehen. »Die Hypotonie sollte nicht unterschätzt werden. Klagen über Anlaufschwierigkeiten am Morgen, Leistungsminderung und Konzentrationsschwäche sind kein Gejammer, sondern tatsächliche Begleiterscheinungen des Blutunterdrucks«, sagt Schandry.
Wenn einem Betroffenen schwindelig wird oder er das Gefühl hat, das Bewusstsein zu verlieren, sollte er sich hinlegen und die Beine hochlegen. Droht ein Schock, sollten Anwesende sofort einen Notarzt rufen. Ein Arzt sollte abklären, ob eventuell eine sekundäre Hypotonie vorliegt, weil sich dahinter zum Teil lebensbedrohliche Erkrankungen verbergen können. Sie müssen dann ebenfalls behandelt werden.
In Schwung kommen
Es gibt einige Maßnahmen, um den Kreislauf anzuregen. Vor allem regelmäßige Bewegung (am besten morgens eine halbe Stunde lang mit moderater Intensität) bringt den Kreislauf in Schwung und trainiert die Gefäße. Sie werden elastischer und können besser auf Blutdruckschwankungen reagieren. Beingymnastik trainiert die Muskelpumpen der Gefäße und verhindert, dass das Blut in den Beinvenen versackt.
Sauna und Wechselduschen
Hypotoniker sollten aus diesem Grund auch nicht lange stehen, sondern bevorzugt gehen oder zumindest mit den Füßen wippen. Das Tragen von Kompressionsstrümpfen ist eine weitere Option. Gegen kalte Hände hilft Fingergymnastik. Auch warm-kalte Wechselduschen nach Kneipp helfen, denn sie üben eine starke Reizreaktion aus: Man führt einen bis zu 10 °C kalten Wasserstrahl kurz auf warme Hautregionen, bis sie kribbeln oder rot werden. Dabei beginnt man von rechts nach links, von außen nach innen und von unten nach oben. Startpunkt ist der rechte Fuß, Endpunkt ein Guss über den Rücken. Anschließend lässt man die Haut von allein trocknen. Zum Einstieg sollte man dies am besten erst einmal an den Gliedmaßen ausprobieren. Ebenso stärken Saunagänge und Bürstenmassagen den Kreislauf. Auch hier beginnt man an den Füßen und streicht mit einer weichen Bürste über die Haut zum Herzen hin. Eine gesunde Lebensweise mit möglichst wenig Stress, gesunder Ernährung mit vermehrter Flüssigkeitszufuhr können ebenfalls dabei helfen, Kreislaufbeschwerden vorzubeugen.
Der Elektrolythaushalt sollte zudem im Gleichgewicht gehalten werden. Die Kochsalzzufuhr sollte nicht reduziert werden: Salz bindet im Körper Wasser, der Blutdruck steigt. Zu den kreislaufanregenden Pflanzen zählen Ginsengwurzel, Weißdorn und Rosmarin. Sie bewirken, dass sich die Venen stärker zusammenziehen und das Blut mit stärkerem Druck zum Herzen gepumpt wird. Auch Kaffee und schwarzer Tee können den Kreislauf anregen.
Menschen mit Kreislaufproblemen sollten morgens generell langsam aufstehen und schon am Bett ein Glas Wasser trinken. Bei einigen hilft auch ein Aufenthalt in klimatischen Reizzonen wie im Hochgebirge oder an der Nordsee. Wichtig ist auch, auf die passende Kleidung zu achten, um nicht unnötig zu schwitzen und den Kreislauf so zu belasten. Besser mehrere Kleidungsstücke übereinander tragen, die man bei Bedarf ausziehen kann.
Eine Arzneimitteltherapie kann erforderlich sein, wenn andere Maßnahmen keine Besserung bringen. Etilefrin (wie in Effortil®) erhöht die Wandspannung der Blutgefäße und regt über α-Rezeptoren die Herztätigkeit an. Zur Unterstützung der Herz-Kreislauf-Funktion können auch pflanzliche Kardiotonika mit Weißdornblättern und -früchten wie Crataegutt® novo, Esbericard® novo oder Koro Nyhadin® eingesetzt werden. Die Kombination von Weißdornfrüchte-Extrakt mit D-Campher (wie Korodin®) wirkt schnell bei akuten Kreislaufbeschwerden. /