Opioide in der Krebstherapie |
Den Schmerz erträglich machen: Das ist möglich in der Palliativversorgung Krebskranker. / Foto: iStock/Katarzyna Bialasiewicz
Der Bedarf an Schmerztherapeutika in der Palliativversorgung von onkologischen Patienten ist riesig. »Bis zu 80 Prozent der Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung haben mittlere bis starke Schmerzen«, sagte Pharmakologe Schmidtko auf der zentralen Fortbildungsveranstaltung der Landesapothekerkammer Hessen in Gießen. Dabei können die Schmerzen nozizeptiv, also von Schmerzrezeptoren ausgehend, aber auch neuropathisch bedingt sein. Neuropathischer Tumorschmerz, der rund 40 Prozent der Patienten zusetzt, wird als stärker beeinträchtigend empfunden und erfordert auch einen höheren Analgetika- beziehungsweise Medikamenten-Verbrauch. Sowohl das Tumorwachstum an sich als auch Bestrahlungen und Zytostatika (periphere Neuropathie) können die Nervenfasern schädigen.
Die medikamentöse Therapie nozizeptiver Tumorschmerzen erfolgt nach dem WHO-Stufenschema. Opioidanalgetika stehen dabei im Vordergrund. Dabei sollten starke (Stufe 3) und schwache (Stufe 2) Opioide nicht miteinander kombiniert werden, »da die schwachen einen Teil der Wirkung der starken Opioide wegnehmen«, informierte Schmidtko. Bei Patienten mit neuropathischen Tumorschmerzen gilt dagegen die systemische Applikation von Gabapentinoiden, selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) oder trizyklischen Antidepressiva als Mittel der ersten Wahl. »Sämtliche genannten Arzneistoffgruppen werden in der WHO-Leiter nur als Adjuvanzien berücksichtigt, sodass man Anleihen aus der nicht spezifischen Onkologie machen muss«, so der Pharmakologe.
Der Patient muss nicht die komplette WHO-Leiter medikamentös durchlaufen, ein Einstieg ist auch auf Stufe 2 oder 3 möglich, erklärte Schmidtko die Grundregeln der Schmerztherapie (»by the ladder, by the mouth, by the clock«). Prinzipiell ist die orale Applikation der intravenösen vorzuziehen. Falls Erste nicht möglich oder unerwünscht ist, stellen die transdermale und subkutane Applikation Alternativen dar. Zudem sollten sowohl die Basis- als auch die Bedarfsmedikation pünktlich und regelmäßig nach der Uhr erfolgen.
Starke Opioidanalgetika wie Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Buprenorphin oder Fentanyl üben ihre schmerzvermittelnde Wirkung über die Bindung an µ-Opioid-Rezeptoren aus. Das Binden an diese G-Protein-gekoppelten Rezeptoren kann zwei verschiedene Signalkaskaden anstoßen. Einerseits aktivieren sie das G-Protein, was zu einer Verminderung der cAMP-Konzentration und damit zur Analgesie führt. Andererseits kann auch eine Signaltransduktion G-Protein-unabhängig über β-Arrestin erfolgen. »Es sieht ganz danach aus, dass dieses β-Arrestin-Signalling für eine ganze Reihe von Nebenwirkungen wie Obstipation oder Übelkeit verantwortlich ist. β-Arrestine werden gewebespezifisch exprimiert.«
Schmidtko stellte in Aussicht, dass »wir eine neue Klasse von besser verträglichen Opioiden erwarten dürfen, also Opioide mit selektiver Wirkung auf das G-Protein-Signalling. Nebenwirkungen treten dann vermindert auf. Ein Kandidat befindet sich derzeit in Phase III der klinischen Prüfung«.
Obstipation belastet stark
Die für die Patienten am meisten belastende Nebenwirkung ist Umfragen zufolge in erster Linie Obstipation, gefolgt von Übelkeit, Sedierung und Abhängigkeit. »Die meisten Opioid-vermittelten Nebenwirkungen unterliegen einer Toleranz«, so Schmidtko, »allerdings in verschiedenen Geschwindigkeiten.« Dabei hat die Opioid-induzierte Obstipation die langsamste Toleranzentwicklung. »Somit wird es mit zunehmender Therapiedauer immer wahrscheinlicher, dass der Patient obstipiert. Die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass andere Nebenwirkungen wie etwa die Übelkeit auftreten, nimmt mit zunehmender Therapiedauer ab.«
Sind die Nebenwirkungen nicht zu tolerieren oder ist die Wirksamkeit unzureichend, ist ein Wechsel zu einem anderen Opioid in äquivalenter Dosis möglich, bekannt unter dem Schlagwort Opioidrotation. Allerdings zeigten klinische Studien mit Tumorschmerzpatienten eine vergleichbare analgetische Wirksamkeit von peroralem Morphin, Oxycodon und Hydromorphon. Wird dennoch rotiert, »sollte die Anfangsdosis niedriger sein als die berechnete Dosis«, empfiehlt der Experte.
Nicht nur die Opioide können ausgetauscht werden, auch ein Wechsel der Darreichungsform ist prinzipiell möglich, um eine bessere Schmerzhemmung zu erzielen. Viele Patienten bevorzugten etwa eine Pflastertherapie mit Fentanyl oder Buprenorphin, informierte der Pharmakologe. Diese hat den Vorteil einer langen Wirkdauer von 48 bis 72 Stunden, wobei das Pflaster nur alle zwei bis drei Tage gegen ein neues ausgetauscht werden muss. Doch die transdermale Applikation hat auch ihre Tücken: »So dauert es 12 bis 24 Stunden, bis die Wirkung eintritt. Falls im Therapieregime also schnell etwas geändert werden muss, ist die transdermale Gabe weniger geeignet«, erinnerte Schmidtko.
Transdermale Systeme eignen sich auch nicht für Opioid-naive Patienten, da die Gefahr einer Überdosierung besteht. Schmidtko empfahl, die Patienten erst auf ein orales Opioid stabil einzustellen, bevor ein Wechsel auf die Pflaster-Variante erfolgt. Außerdem ist zu bedenken: In fortgeschrittenen Tumorstadien sind transdermale Resorptionsstörungen aufgrund von Kachexie, Fieber oder vermehrtem Schwitzen möglich, die die Wirksamkeit der Pflaster beeinträchtigen können. Bei Patienten mit Gesicht-Hals-Tumoren oder des Gastrointestinaltrakts, denen die orale Einnahme des Analgetikums schwerfällt, seien dagegen transdermale Systeme eine echte Alternative.
Schmerz bricht durch
Zusätzlich zur Basismedikation braucht der Patient ein schnell wirksames Bedarfsmedikament gegen Durchbruchschmerzen. Dabei ist die Arzneistoffwahl »nicht trivial«, da die Dauer einer Schmerzattacke variabel ist. Wenn der Patient das Bedarfsmedikament zu oft anwendet, müsse man die Dosis der Basisanalgesie überprüfen. Ein Tipp des Experten: Bei Änderungen der Medikation nicht alles auf einmal umstellen, sondern schrittweise und versetzt vorgehen, um einzelne Effekte im zeitlichen Kontext bewerten zu können.
Für eine schnelle Analgesie bei Durchbruchschmerzen gibt es laut Schmidtko prinzipiell zwei Strategien: Entweder man arbeitet mit schnell und kurz wirkenden Fentanyl-Präparaten in Form von Lutschern (orales transmukosales therapeutisches System, oTTS), Lutsch-, Buccal- oder Sublingualtabletten sowie als Nasenspray (»Vermutlich greift die intranasale Applikation am schnellsten.«) oder mit unretardierten oralen Opioiden. »Diese short-acting opioids haben allerdings eine entsprechend längere Wirkungslatenz von 30 bis 40 Minuten, dafür aber eine Wirkungsdauer von mehreren Stunden.«
Tapentadol als Option
Unter den schwachen Opioiden unterstrich Schmidtko besonders das Potenzial einer relativ neuen Wirksubstanz. Tapentadol, seit dem Jahr 2010 auf dem Markt, tauche zwar derzeit in Behandlungsleitlinien zu onkologischen Erkrankungen noch nicht auf, doch werde seine Bedeutung in Zukunft wachsen.
Um eine optimale Schmerzhemmung zu erzielen, können die Opioide untereinander ausgetauscht werden. Auch ein Wechsel der Darreichungsform ist möglich.
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Tapentadol ist eine Weiterentwicklung des Tramadols, des derzeit weltweit am häufigsten eingesetzten Opioids. Aufgrund seines kombinierten Wirkmechanismus, bestehend aus einer Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung und einer µ-Rezeptor-Hemmung, sei eine gute Analgesie schon bei niedrigeren Opioid-Dosen möglich. »Das Verträglichkeitsprofil scheint im Vergleich zu anderen Opioiden besser zu sein«, sagte der Pharmakologe. Nimmt man Anleihe bei Studien mit Rückenschmerz- oder Osteoarthritis-Patienten, treten etwa Obstipation oder Übelkeit um die Hälfte weniger auf. ZNS-Nebenwirkungen, schränkte Schmidtko ein, treten allerdings aufgrund des Wirkmechanismus genauso häufig auf.
Da neuropathischen Schmerzen eine andere Pathophysiologie zugrunde liegt, werden auch andere Arzneistoffe benötigt, um sie zu unterdrücken. Die systemische Applikation von Gabapentin und Pregabalin, selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern wie Duloxetin oder trizyklischen Antidepressiva wie Amitriptylin gilt bei Patienten mit neuropathischen Tumorschmerzen als Mittel der ersten Wahl, listete Schmidtko auf. »Die Evidenz zur Schmerzhemmung ist bei ihnen mit Abstand am besten.« Bei den Antidepressiva arbeitet man in der Schmerztherapie mit Dosierungen, die »meist unterhalb der der antidepressiv wirksamen Dosis liegen«, so Schmidtko.
Tramadol und starke Opioide sind bei neuropathischem Schmerz nur Mittel der zweiten oder gar dritten Wahl. »Das hat vermutlich damit zu tun, dass bei anhaltenden neuropathischen Schmerzen µ-Opioidrezeptoren herunterreguliert werden. Damit wird ihnen der Angriffspunkt entzogen. Bei Entzündungsschmerzen werden sie dagegen vermehrt exprimiert«, erklärte Schmidtko. Die Gabapentinoide hemmen dagegen die Aktivität der α2δ-Untereinheit von speziellen Calciumkanälen, was die Glutamatfreisetzung hemmt. Schmidtko: »Deren Wirkung kommt dadurch zustande, weil beim Tumorschmerz diese Untereinheit hochreguliert wird. Das Target wird also verstärkt exprimiert.«