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Seltene Erkrankungen

Enzymmangel schädigt Muskeln

18.02.2011  15:21 Uhr

Von Iris Priebe / Für die Erkrankten wird jede Bewegung zu einem Kraftakt. Das Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen und sogar das normale Gehen werden zu fast unüberwindbaren Problemen. Der Grund: Die angeborene Stoffwechselstörung Morbus Pompe führt zu einem fortschreitenden Funktionsverlust der Muskeln.

Im Jahr 1932 beschrieb der niederländische Arzt und Pathologe Johannes Cassianus Pompe (1901 bis 1945) erstmals eine Erkrankung, die mit dem Hauptsymptom Muskelschwäche einhergeht. Außerdem stellte er fest, dass sich das Herz der Betroffenen ungewöhnlich stark vergrößert hatte. Ihm zu Ehren wurde die Krankheit Morbus Pompe benannt. 30 Jahre später klärten Forscher die Ursache auf: Die Patienten bilden das lysosomale Enzym Alpha-Glucosidase (auch saure Maltase genannt oder acid alpha-glucosidase, kurz GAA) entweder aufgrund eines genetischen Defekts überhaupt nicht oder die Aktivität des Enzyms ist verringert.

Alpha-Glucosidase baut in den Lysosomen der Körperzellen, vor allem in den Zellen der Muskulatur, Glykogen zu Glucose ab. Die bei diesem Prozess freigesetzte Energie benötigen die Muskelzellen für Bewegungsabläufe. Bei Menschen mit einem GAA-Mangel füllen sich die Glykogenspeicher unaufhaltsam, bis die Lysosomen platzen. Zunächst schädigen die lysosomalen Enzyme die Muskelzellen und führen jedoch mit der Zeit zu ihrem Untergang. Nach der internationalen Klassifikation ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation gehört Morbus Pompe zu den Glykogenspeicherkrankheiten.

Enzymaktivität entscheidend

In Deutschland leiden schätzungsweise rund 100 Menschen an Morbus Pompe, weltweit zwischen 5 000 bis 10 000. Wie schwer die Erkrankung verläuft, hängt unter anderem davon ab, wie viel GAA der ­Patient noch bildet. Das Tückische dieser Krankheit: Sie kann in jedem Lebensalter auftreten. Erkranken Säuglinge und bleiben diese unbehandelt, sterben circa 80 Prozent dieser Babys vor ihrem ersten Geburtstag. Bricht die Muskelschwäche erst in späteren Jahren aus, verläuft die Krankheit langsamer und weniger schwer.

Die Stoffwechselerkrankung Morbus Pompe wird autosomal-rezessiv vererbt. Der Gendefekt ist nicht auf einem Geschlechtschromosom lokalisiert, daher erkranken Frauen und Männer etwa gleich häufig. Bei den Eltern der Patienten ist normalerweise nur ein Gen mutiert. Das gesunde Gen sorgt dafür, dass sie selbst nicht erkranken. Erst wenn ein Kind gleichzeitig von beiden Elternteilen das defekte Gen erbt, bricht bei ihm die Krankheit aus. Grundsätzlich wird zwischen zwei Varianten unterschieden: der frühen Verlaufsform, die auch infantile heißt, und der späten Verlaufsform, auch juvenile und adulte genannt. Die infantile Form macht sich schon im Säuglingsalter bemerkbar, die späte bricht erst in der Kindheit oder im ­Erwachsenenalter aus.

Frühe Verlaufsform

Die Lebenserwartung für die an der infantilen Form Erkrankten ist deutlich geringer. Erste Anzeichen bemerken die Eltern meist schon im zweiten Lebensmonat. Ihnen fallen vor allem die ausgeprägt schlaffen Muskeln ihres Kindes auf. Heben sie das Kind beispielsweise an den Armen hoch, fällt sein Kopf in den Nacken und es kann ihn aus eigener Kraft nicht halten. Weil die Muskelschwäche fortschreitet, bewegt sich das Kind auffällig wenig und kann nicht mehr richtig trinken. Fast immer müssen die Säuglinge zwischen dem dritten und vierten Monat in einer Klinik stationär versorgt werden. Dort fällt den Ärzten auf, dass sie sich allgemein schlecht entwickeln.

Bei etwa 20 Prozent vergrößert sich das Herz deutlich, was zu Herzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen führt. Oft ist die Leber der Kinder auch abnorm vergrößert oder auch die Zunge. Viele der kleinen Patienten atmen zu schnell, manchmal 100 Atemzüge pro Minute, und ihre Haut verfärbt sich bläulich. Den Kindern fließt der eigene Speichel in die Lunge und sie erkranken sehr schnell an Atemwegsinfekten. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung müssen die Kleinen schließlich künstlich beatmet werden. Ohne Behandlung würden sie im sechsten oder siebten Lebensmonat an Herz-Kreislauf-Versagen sterben. Diese frühe Form des Morbus Pompe verläuft deshalb so dramatisch, weil die Aktivität der Alpha-Glucosidase gleich Null ist.

Neben diesem frühen Verlauf kennen Fachleute eine weitere »nicht klassische« infantile Form. Bei diesen Fällen scheint noch eine Restaktivität der GAA zu bestehen. Die erkrankten Kinder zeigen deshalb erste Krankheitssymptome zwischen dem vierten und elften Monat. Danach schreitet der Morbus Pompe auch nicht ganz so schnell voran, und die Beschwerden fallen weniger heftig aus. Der Herzmuskel ist beispielsweise kaum betroffen. Lässt sich das Gewicht dieser Kinder mit Sondennahrung stabilisieren und überstehen sie die Atemwegsinfekte gut, können sie unbehandelt mehrere Jahre alt werden.

Juveniler und adulter Verlauf

Wesentlich länger leben die Patienten, wenn sich die Krankheitssymptome erst ab dem dritten Lebensjahr oder im Erwachsenenalter zeigen. Bei diesen Patienten bleibt der Herzmuskel zwar meist verschont, doch auch bei ihnen nimmt die Muskelschwäche zu. Betroffen sind vor allem die Skelettmuskulatur am Rumpf und die Muskeln der Gliedmaße, später auch die Atemmuskulatur. Meist fällt den Eltern des betroffenen Kindes um das fünfte Lebensjahr auf, dass es weniger leistungsfähig ist als seine Altersgenossen und sich nicht gerne bewegt.

Das Kind kann sich nicht so rasch aufrichten oder läuft plötzlich wieder ganz ungelenk und zögerlich. Es entwickelt sich langsamer, ist physisch nicht belastbar und weigert sich, längere Zeit zu laufen oder zu spielen. Einige Monate später sieht man dem Kind an, dass es zunehmend an Gewicht verliert und nur noch eigenartig, zunächst wiegend, später schwankend läuft. Die Wirbelsäule krümmt sich immer stärker, und die Bänder an den Hüft-, Knie- und Sprunggelenken verkürzen sich.

Bei der juvenilen Verlaufsform können Ärzte noch eine 1- bis 10-prozentige, bei den adulten Formen noch eine bis zu 40-prozentige GAA-Aktivität nachweisen. Erwachsene mit Morbus Pompe bemerken in der Regel zwischen dem dritten und vierten Lebensjahrzehnt erstmalig Muskelkrämpfe und -schmerzen, vor allem in den Beinen. Weil die Muskeln in Rumpf und Extremitäten massiv an Kraft einbüßen, fällt ihnen das Gehen, sogar das Aufstehen aus dem Sitzen, zunehmend schwerer.

Viele Patienten fühlen sich abgeschlagen und ständig müde, da sie durch die geschwächte Atemmuskulatur weniger Sauerstoff einatmen und weniger Kohlendioxid abatmen. Manche benötigen schließlich einen Rollstuhl oder ein Beatmungsgerät. Für die Prognose entscheidend ist der Zustand der Atemmuskulatur. Die meisten Betroffenen sterben aufgrund der Ateminsuffizienz.

Dass Morbus Pompe bei vielen älteren Kindern und Erwachsenen oft Jahre lang nicht erkannt wird, liegt daran, dass viele Ärzte an diese seltene Erkrankung nicht denken. Seltene Erkrankungen kennen die meisten Ärzte nur aus der Theorie, ganz wenige hatten bereits einen eigenen Patienten mit Morbus Pompe in ihrer Praxis. Außerdem ist nur die infantile Verlaufsform aufgrund ihrer drei ausgeprägten Hauptmerkmale Muskel- und Trinkschwäche und ein stark vergrößertes Herz leicht und schnell zu diagnostizieren. Im Unterschied dazu sind die Symptome bei älteren Kindern und Erwachsenen über Jahre hinweg ausgesprochen unspezifisch: geringe Belastbarkeit, schnelle Ermüdung, Muskelschmerzen oder Atemnot. Wenn aber eines Tages der Verdacht doch auf Morbus Pompe fällt, wird der behandelnde Arzt spezifische Blutuntersuchungen, eventuell auch eine Muskelbiopsie veranlassen. Die Diagnose lässt sich inzwischen eindeutig stellen.

Neue kausale Therapie

Seit dem Jahr 2006 ist in Deutschland ein Arzneimittel zur spezifischen Enzymersatztherapie bei Morbus Pompe im Handel. Das verschreibungspflichtige Präparat Myozyme® enthält Alpha-1,4-Glucosidase, das gentechnisch mit Hamsterzelllinien hergestellt wird. Als Orphan Drug ist das Arzneimittel zur langfristigen Behandlung aller Verlaufsformen der Morbus-Pompe-Krankheit zugelassen. Das Wirkstoffkonzentrat muss im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C gelagert werden. Die Patienten erhalten alle zwei Wochen eine intravenöse Infusion in der Dosis von 20 mg pro kg Körpergewicht.

Inzwischen gilt es eindeutig erwiesen: Je früher die Patienten das Arzneimittel erhalten, desto besser sind ihre Überlebenschancen. In einer Studie mit 90 Morbus-Pompe-Patienten stabilisierten sich deren Lungenfunktion und Gehfähigkeit deutlich bereits innerhalb der ersten sechs Behandlungsmonate.

Zusätzlich werden die Betroffenen symptomatisch therapiert. Einen hohen Stellenwert nimmt die rasche Behandlung aufkeimender Atemwegsinfektionen ein. Die bakteriellen Infekte müssen sofort mit Antibiotika behandelt werden, um Atemnot und Erstickungsgefahr zu verhindern.

Viel bewegen und gut ernähren

Muskelschmerzen und Versteifungen lassen sich durch Physiotherapie lindern, sodass sich die Patienten wieder besser bewegen können und ihre Lebensqualität steigt. Zusätzlich versuchen viele, ihre Muskeln zu kräftigen, zum Beispiel durch Spazierengehen, Walken, Schwimmen, Wassergymnastik, Pilates-Training oder durch Übungen am Heimtrainer.

Da vielen Patienten das Beißen, Kauen und Schlucken immens schwer fällt, ermüden sie rasch und essen zu wenig. Pürierte Speisen oder angedickte Suppen beugen einer Unterernährung vor. Einige benötigen zusätzlich eine enterale Ernährung über eine Sonde durch die Nase oder durch die Bauchdecke.

Manche Erkrankte richten sich nach speziellen Ernährungsempfehlungen, wissenschaftlich belegt ist ihr Vorteil jedoch nicht. So soll eine kohlenhydratarme Ernährung den Krankheitsverlauf verlangsamen, weil der Körper weniger Glykogen in der Muskulatur speichern kann. Auch soll eine sehr proteinreiche Ernährung die Muskelkraft und Gehfähigkeit verbessern. Daher empfahlen manche Ärzte früher auch die Substitution der Aminosäure Alanin in kleinen Dosen über den Tag verteilt. Das sollte mehr Energie bereitstellen. Seit es die Enzymersatztherapie gibt, spielen diese Ernährungsformen aber nur noch eine untergeordnete Rolle. /

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