Erste Waffe im Kampf gegen Krebs |
26.01.2015 11:34 Uhr |
Von Edith Schettler / Für die Behandlung von Krebspatienten ist die Chemotherapie neben der Chirurgie und der Radiologie ein wichtiger Bestandteil des gesamten Therapiekonzeptes. Aktuell können Onkologen aus einer Vielzahl von Zytostatika wählen und für jeden Patienten einen individuellen Medikationsplan erstellen. Die Entwicklung dieser Arzneistoffgruppe begann Mitte des vergangenen Jahrhunderts und geht auf den Einsatz einer Massenvernichtungswaffe zurück.
Krebszellen unterscheiden sich von gesunden Zellen unter anderem durch eine erhöhte Zellteilungsrate. Arzneimittel, die den Zellteilungsmechanismus stören, wirken deshalb stärker auf entartete Zellen, haben jedoch auch Nebenwirkungen an gesunden Geweben zur Folge. Denn alle Zellen teilen sich fortwährend, um ihren Fortbestand zu sichern.
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Im Verlauf der Therapie mit den ersten Zytostatika mussten die Patienten schwere Nebenwirkungen verkraften. Heute hingegen konnte die Zahl der Nebenwirkungen durch moderne, so niedrig wie möglich dosierte Chemotherapeutika massiv gesenkt werden.
Zellentartung
Bevor sich eine eukaryotische (kernhaltige) Zelle teilt, wird zunächst das Erbmaterial dupliziert. Nur so kann die Zelle ihre genetische Information identisch an die Tochterzelle weitergeben. Die Teilung beginnt damit, dass Enzyme, die sogenannten Helikasen, die Basenpaare der Doppelhelix des DNA-Stranges in den Chromosomen voneinander trennen. Meist beginnt dieser Prozess in der Mitte der Doppelhelix und setzt sich zu beiden Enden synchron fort. Weitere Enzyme, die DNA-Polymerasen, steuern den Vorgang, sodass stets Adenin und Thymin beziehungsweise Guanin und Cytosin als Basenpaare zu dem jeweils neuen DNA-Strang miteinander verknüpft werden. Gelingt die Replikation fehlerlos, ist die Tochter-DNA somit identisch mit der Mutter-DNA. Bei Störungen gibt das Tochter-Erbmaterial jedoch fehlerhafte Informationen an die Tochterzellen weiter. Das ist meist unbedeutend, da das Immunsystem solche Zellen erkennt und eliminiert oder die Zellen selbst leiten ihren programmierten Zelltod (Apoptose) ein. Häufen sich die Fehler jedoch, ist das Reparatursystem überfordert und es entsteht ein neuer, mutierter Zelltyp. Solche Zellen können den Ausgangspunkt für einen Tumor darstellen. Zu den Auslösern für Mutationen zählen Onkoviren, bestimmte Bakterien, energiereiche Strahlen und Chemikalien.
Zellgifte im Krieg
Während des ersten Weltkriegs setzte die 4. Armee des Deutschen Kaiserreiches im Juli 1917 in Flandern als chemischen Kampfstoff erstmals Senfgas, Bis(2-chlorethyl)sulfid, ein, auch als S-Lost bezeichnet. Soldaten, die mit der neuen Waffe in Kontakt kamen, erlitten schwere Verätzungen der Haut und Schleimhäute und erstickten meist qualvoll – Gasmasken und Schutzanzüge und gehörten erst danach zur Ausrüstung der Armeen.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs glaubte man in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht zu Unrecht, dass Deutschland wieder Giftgas als Waffe einsetzen würde. Daher erteilte das eigens gegründete Office of Scientific Research and Development (OSRD), in den Jahren 1941 bis 1947 die Koordinationsstelle für militärische Forschung der US-Army, den Wissenschaftlern der Yale University in New Haven (Connecticut) die Aufgabe, chemische Kampfstoffe zu analysieren und ein Antidot gegen das Senfgas zu entwickeln.
Als die USA im Jahr 1941 nach dem Angriff Japans auf den Stützpunkt ihrer Kriegsflotte in Pearl Harbour in den Krieg eingriffen, waren zwei junge Pharmakologen in Yale, Louis Goodman (1906–2000) und Alfred Gilman (1908–1984), in einem geheimen Projekt damit beschäftigt, die Wirkung von Senfgasen an Mäusen und Kaninchen zu erforschen. Unter anderem injizierten sie den Versuchstieren unterschiedliche Senfgase und provozierten so die Entwicklung von Tumoren. Vor allem untersuchten die beiden Pharmakologen die Toxizität verschiedener chemischer Abwandlungen des Senfgases, von denen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hunderte hergestellt worden waren.
Mit N-Lost, Bis-(2-chlorethyl)-methylamin, fanden sie eine Verbindung, die zytotoxische Eigenschaften aufwies und das Tumorwachstum bei den Versuchstieren bremste. Zuvor war ihnen bei der Untersuchung von Soldaten, die einen Giftgasangriff überlebt hatten, aufgefallen, dass deren Blut auffallend wenig weiße Blutzellen enthielt. Diese Forschungsergebnisse mussten sie allerdings zunächst geheim halten.
Im Sommer 1942 kam den Wissenschaftlern ein Zufall zu Hilfe, als sich bei Professor Gustaf E. Lindskog (1903–2002) vom Lehrstuhl für Medizin in Yale ein 47-jähriger polnischstämmiger Fabrikarbeiter als Patient vorstellte, der als »J. D.« in die Medizingeschichte einging. J. D. litt schon seit Längerem an Hals- und Nackenschmerzen. Daher waren ihm bereits die Mandeln und auch ein Zahn entfernt worden, ohne dass sich die Beschwerden besserten. Schließlich hatte ein Arzt einen stark angeschwollenen Lymphknoten in seinem Hals entdeckt und versucht, diesen mittels Bestrahlung zu eliminieren. Dabei erlitt J. D. starke Hautverbrennungen, doch besserte diese Behandlung seinen Zustand nicht. Als letzten Ausweg wandte er sich nun an die Mediziner in der renommierten Universitätsklinik.
Erfolgreiches Experiment
Nach eingehender Untersuchung des Patienten beschloss Lindskog, die Forschungsergebnisse von Goodman und Gilman erstmalig am Menschen anzuwenden. Er schlug J. D. vor, ihn mit einer neuen Methode zu behandeln, und dieser willigte in Anbetracht seiner hoffnungslosen Situation ein. Lindskog hatte die aggressive Form eines B-Zell-Lymphoms (Morbus Hodgkin) diagnostiziert und notierte in der Krankenakte: »The patient’s outlook is utterly hopeless«. (Die Aussichten für den Patienten sind völlig hoffnungslos).
Am 27. August 1942 begann Lindskog, seinem Patienten täglich eine Dosis der »Substanz X« (N-Lost) zu injizieren, deren wahre Identität während des Krieges nach wie vor geheim gehalten werden musste. Die Höhe der Dosis legte er fest, indem er vom Körpergewicht des Kaninchens, für welches Goodman und Gilman bereits die therapeutische Dosis ermittelt hatten, auf das seines Patienten hochrechnete. Nach einem Monat war der Tumor geschrumpft, J. D. konnte wieder essen und seinen Kopf bewegen, die Schwellungen seines Gesichtes waren abgeklungen. Dennoch starb der Patient im Dezember 1942. Aus seinem Krankenblatt ist ersichtlich, dass seine weißen Blutzellen stark vermindert waren – eine Nebenwirkung der Chemotherapie.
Trotz des enttäuschenden Ausgangs dieses Experimentes gaben die Wissenschaftler die Hoffnung nicht auf, künftig Krebspatienten mit einer neuen Arzneistoffklasse heilen zu können.
Moderne Chemotherapie
Nach der Behandlung des Patienten J. D. folgten in den Jahren 1942 und 1943 weitere Tierexperimente und klinische Untersuchungen. Diese verliefen nach strengen wissenschaftlichen Kriterien und setzten wichtige Standards für moderne klinische Studien.
Das erste »Tumortherapeutikum« N-Lost kam unter dem Freinamen Chlormethin als Arzneimittel in den Handel. In der Schweiz und den USA ist es heute noch unter dem Namen Mustargen® als Zytostatikum zur Therapie des Hodgkin-Lymphoms zugelassen.
Chlormethin ist die Muttersubstanz für die sogenannten alkylierenden Mittel. Die Arzneisubstanzen dieser Zytostatikagruppe heften Alkylgruppen an die Basenpaare im DNA-Strang. Diese stören die Replikation, indem sie stabile Quervernetzungen bilden, die enzymatisch nicht teilbar sind. Damit verhindern sie die Teilung der Zellen. Weitere Vertreter dieser Gruppe kamen in späteren Jahren auf den Markt, so die noch heute verwendeten Verbindungen Cyclophosphamid (Endoxan®), Chlorambucil (Leukeran®) und Melphalan (Alkeran®). /