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Sondenernährung bei Kindern

Abhängigkeit verhindern

08.02.2016  10:38 Uhr

Von Carina Steyer / Ernährungssonden sind Lebensretter für Kinder, die zu schwach sind, um selbst zu essen und zu trinken. Verweigert das Kind später die orale Ernährung, sprechen Experten von einer Sondenabhängigkeit. Dieses äußerst hartnäckige Phänomen kann nur mit intensiver Therapie überwunden werden.

Vor allem Frühgeborene, Kinder mit angeborenen Fehlbildungen, neurologischen oder onkologischen Erkrankungen oder die sich nicht altersgerecht entwickeln, benötigen häufig eine Ernährungssonde. In den meisten Fällen ist die Sondenernährung eine zeitlich begrenzte Maßnahme, die nach Besei­tigung der medizinischen Grundproblematik wieder beendet wird. Viele Kinder schaffen den Übergang zur oralen Ernährung problemlos. Einige verweigern allerdings vehement jeglichen Kontakt mit Nahrung. Sie husten, würgen oder erbrechen, wenn sie essen sollen oder – im Extremfall – bereits beim Anblick angebotener Speisen. Andere reagieren völlig desinteressiert. Experten nennen dieses Phänomen Sondenabhängigkeit oder Sondendependenz.

Von der Sondenernährung abhängig werden besonders häufig Frühgeborene und schwer erkrankte Neugeborene, denen gleich nach der Geburt eine Sonde gelegt wurde. Je früher und je länger das Kind über eine Sonde ernährt wird, umso größer ist das Risiko einer Sondenabhängigkeit. Essen und Trinken ist ein Lernprozess, der im Normalfall kurz nach der Geburt beginnt. Sobald das Neugeborene durch Schreien auf sein Bedürfnis aufmerksam macht, legt die Bezugsperson es an die Brust oder gibt ihm ein Fläschchen. Dieses Zusammenspiel wird durch die Sondenernährung gestört. Daher trainieren die meisten Kliniken mit Frühgeborenen das Saugen, sobald es der Gesundheitszustand der Kleinen erlaubt. Manche Säuglingsschwestern bieten ihnen auch während der Sonden­ernährung kleine Nahrungsmengen an, damit sie zwischen satt werden und oraler Nahrungsaufnahme einen Zusammenhang herstellen.

Viele künstlich ernährte Säuglinge lernen die positiven Erfahrungen durch den Körperkontakt und die Zuwendung während des Fütterns nicht kennen. Stattdessen lassen negative Erlebnisse das Interesse an oraler Ernährung erst gar nicht aufkommen. Denn einige Kinder leiden unter gesteigertem Reflux mit dem damit verbundenen unangenehmem Geschmack im Mund.

Die meisten Kinder kennen kein Hungergefühl und einige sind sogar ständig übersättigt, da sie keinen Einfluss auf den Zeitpunkt und die Menge der verabreichten Nahrung haben. Bei anderen ist die Mundmotorik durch die zu geringe Stimulation nicht ausreichend entwickelt, sodass sie nicht richtig kauen und schlucken können. Manchmal irritieren Ernährungssonden, die über die Speiseröhre in den Magen gelegt werden, die Schleimhäute so stark, dass sie Schmerzen und Sensibilitätsstörungen verursachen. Beides führt zur lang­sameren Schluckfrequenz. Eine bereits bestehende Schluckstörung wird so zusätzlich verstärkt.

So lange wie nötig, so kurz wie möglich

Je früher die Säuglinge oder Kinder auf orale Ernährung umgestellt werden, umso leichter gelingt der Umstieg. Leider sind nicht alle Mitarbeiter in Kliniken ausreichend geschult und für das Thema sensibilisiert. Gelingt dem Kind den Umstieg nicht allein, wird es mit einer neuen Sonde nach Hause entlassen. Ab einem Alter von etwa drei Jahren kommt erschwerend hinzu, dass viele Kinder die Sonde als Teil ihrer selbst wahrnehmen, von dem sie sich gar nicht mehr trennen möchten.

Einige Eltern sehen in der Sonde ein Symbol ihres eigenen Versagens. Andere arrangieren sich mit ihr. Entscheiden sich die Eltern, die Sonde entfernen zu lassen, ist die ganze Familie gefordert. Während die Kinder eine neue Welt kennenlernen und erobern, müssen die Eltern ihrem Kind vertrauen und ihm die Führung über seine Nahrungsaufnahme vollständig übergeben.

Entwöhnungsprogramme nutzen

In Deutschland bieten mehrere Kliniken Programme zur Sondenentwöhnung an (siehe Kasten). Meist wird das Kind dort gemeinsam mit der Mutter aufgenommen, und beide bleiben während der Entwöhnung stationär im Krankenhaus. Der Vater und vorhandene Geschwister werden in die Therapie mit einbezogen.

Einen ganz neuen Weg gingen die Ärzte der Grazer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde. Sie begannen bereits in den 1980er-Jahren, mit sondenabhängigen Kindern zu arbeiten. Dabei entwickelten sie über Jahre hinweg das »Grazer Modell« zur Sondenentwöhnung, das heute weltweit bekannt ist. Da die Nachfrage nach Therapieplätzen von Familien aus dem Ausland sowie Beratungen per E-Mail schließlich die Kapazität der Klinik überstiegen haben, bietet seit 2009 das Unternehmen NoTube das vierwöchige Online-Entwöhnungsprogramm »Netcoaching« an. Dabei bleibt die Familie in ihrem gewohnten Umfeld und wird virtuell von den Experten begleitet. Nach eigenen Angaben von No­Tube gelang es mit dem Programm, bisher 300 Kinder aus 35 Ländern mit einer Erfolgsquote von 90 Prozent zu entwöhnen.

NoTube beschreibt den Ablauf des »Netcoachings« folgendermaßen: Vor Programmstart müssen die Eltern online in einen Fragebogen wichtige medizinische, biometrische, ernährungs- und sondenbezogene Daten eintragen, sämtliche Arztbriefe und ein Video einer typischen Esssituation übermitteln. Anhand der Unterlagen prüfen die Experten, ob das Kind von der Sonde entwöhnt werden kann. Zentral sind dabei Fragestellungen wie: Kann das Kind überhaupt schlucken? Wie ausgeprägt sind vorhandene Schluckstörungen? Besteht Aspirationsgefahr?

Ein virtuelles Gespräch dient dazu, die medizinischen Voraussetzungen, Probleme und Risiken zu besprechen sowie erreichbare Ziele festzulegen. Wird das Kind in das Programm aufgenommen, verläuft die Entwöhnung nach dem »Grazer Modell«.

Hunger kennenlernen

Der zentrale Punkt dieses Programms ist, dass die Kinder Hunger spüren. Der überwiegende Teil kennt durch die regelmäßige Nahrungszufuhr über die Sonde kein Hungergefühl. Nach Ansicht der Experten müssen sie den Zusammenhang zwischen Hunger, Nahrungsaufnahme und Sättigungsgefühl verstehen lernen, bevor sie ihren Nährstoffbedarf selbst decken können. Dafür wird die Sondennahrung schrittweise reduziert und im Umfeld des Kindes überall Essen verteilt, das sie jederzeit erreichen können. Auf keinen Fall dürfen die Eltern das Kind zum Essen zwingen. Vielmehr soll es die Nahrungsmittel erkunden, damit spielen, die Konsistenz verschiedener Lebensmittel testen und – wenn es möchte – davon kosten.

Kinderarzt einbezogen

Einige Kinder interessieren sich früh für die angebotene Nahrung, andere verweigern über Tage hinweg selbst kleinste Flüssigkeitsmengen. Diese Kinder werden selbstverständlich weiter durch Sondennahrung unterstützt, deren Menge die Ärzte über NoTube täglich neu bestimmen. Während der Entwöhnungsphase stehen Eltern und Experten zumindest einmal täglich in virtuellem Kontakt. Zusätzlich wird das Kind von seinem ortsansässigen Kinderarzt betreut.

Hat das Kind erste Versuche zur oralen Nahrungsaufnahme gemacht, beginnt die Stabilisierungsphase. Nun geht es vor allem darum, dass es verschiedene Lebensmittel besser kennenlernt, die aufgenommene Menge steht erst einmal im Hintergrund. Als gelungene Sondenentwöhnung bezeichnen die NoTube-Experten die Situation, wenn das Kind seinen Energiebedarf über einen Zeitraum von 35 Tagen mit oraler Ernährung deckt und sein Gewicht zumindest hält.

Inzwischen wurde NoTube um weitere Programme erweitert. »Learn to Eat« ist als Nachsorgeprogramm konzipiert und soll Familien nach der gelungenen Entwöhnung weiter unterstützen. Beim »Spiele-Essen« treffen sich Familien und veranstalten gemeinsam ein großes Picknick, bei dem die Eltern essen, ohne den Kindern etwas anzubieten. Wie im Entwöhnungsprogramm können die Kinder mit den Lebensmitteln tun, was sie wollen.

Außerdem bieten die Experten in Graz die »Esslernschule« an, einen zweiwöchigen Intensivkurs, in dem die Kinder mit ihrer Unterstützung vor Ort von der Sonde entwöhnt werden.

Ein Nachteil der NoTube-Programme sind die hohen Kosten. So werden für ein »Spiele-Essen« 45 Euro verrechnet, das »Netcoaching« kostet 4200 Euro und für die »Esslernschule« müssen Eltern 8500 Euro plus Anreise und Unterkunft zahlen. Nach Aussage von NoTube sei es je nach Herkunftsland und Krankengeschichte des Kindes durchaus möglich, die Kosten mit der Krankenkasse abzurechnen. /

Kliniken, die Sonden­entwöhnungs­programme anbieten