Medizin emanzipiert |
05.02.2018 10:35 Uhr |
Von Ulrike Viegener / Männer und Frauen ticken verschieden. Ein Umstand, der in der Medizin lange Zeit vernachlässigt wurde. Inzwischen hat die Genderforschung eine Vielzahl von Unterschieden zwischen den Geschlechtern ans Licht gebracht.
Erst in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts begannen Wissenschaftler, das Augenmerk auf medizinisch relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu richten. Bis dahin hatte in erster Linie der Mann als »Forschungsobjekt« gedient, und Forscher waren davon ausgegangen, dass sich die gewonnenen Erkenntnisse eins zu eins auf die Frau übertragen lassen. Mittlerweile wissen sie, diese Denkweise stimmt nicht. Als Pionierin der Gendermedizin gilt die amerikanische Kardiologin Marianne Legato, die auch für die Wortschöpfung verantwortlich zeichnet. Ursprünglich steht der englische Begriff »Gender«, im Unterschied zu »Sex«, für das soziale Geschlecht, wobei aber in der medizinischen Genderforschung sowohl soziale als auch biologische Aspekte Berücksichtigung finden. In ihrem Buch »Evas Rippe« hat Legato dem Umstand, dass Frauen auch medizinisch ein Geschlecht mit besonderen Eigenschaften und eigenen Bedürfnissen sind, erstmals eine breitere Öffentlichkeit verschafft. Hierzulande gehen wichtige Impulse der Genderforschung von der Charité in Berlin aus. Dort leitet Professor Dr. Vera Regitz-Zagrosek das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. Die Kardiologin wurde 2003 auf die erste und bislang einzige Professur für »Frauenspezifische Gesundheitsforschung mit Schwerpunkt Herz-Kreiskauf- Erkrankungen« berufen, die in punkto Genderaspekte derzeit die am besten untersuchten Krankheiten sind.
Eine Vielzahl von Puzzlesteinen hat die Genderforschung inzwischen zusammengetragen. Es existieren Unterschiede hinsichtlich Häufigkeit, Ausprägung und Verlauf von Erkrankungen, außerdem sprechen Männer und Frauen unterschiedlich auf bestimmte Therapien an. Querbeet über verschiedene medizinische Teilgebiete hinweg wurden Divergenzen zwischen Mann und Frau aufgedeckt, die, abgesehen von kardiovaskulären Krankheiten, unter anderem immunologische und psychische Erkrankungen betreffen.
Die Unterschiede sind zum Teil so beträchtlich, dass ihre medizinische Relevanz außer Frage steht. Das heißt: Männer und Frauen bräuchten in mancherlei Hinsicht eine geschlechtsspezifische Therapie.
Viele Puzzlesteine liegen allerdings erst mal auf dem Tisch, ohne dass sie sich genau zuordnen lassen. Die Ursachen der gefundenen Unterschiede müssen Wissenschaftler erst noch entschlüsseln, bevor sie therapeutisch die richtigen Konsequenzen ziehen können.
Nicht nur die Hormone
Die Vermutung liegt nahe, dass Hormone eine wichtige Rolle spielen. Doch sie sind nicht allein für die Genderspezifika verantwortlich, so viel lässt sich heute schon sagen. Viel eher scheinen verschiedene Faktoren ursächlich zusammenzuspielen, so etwa genetisch bedingte physiologische Unterschiede, aber auch psychische und psychosoziale Faktoren.
Ein Beispiel: Frauen mit Typ-2-Diabetes tragen ein deutlich höheres Risiko für einen Herzinfarkt als männliche Typ-2-Diabetiker. Im Vergleich zu Stoffwechselgesunden sind weibliche Typ-2-Diabetiker vier- bis sechsmal so stark gefährdet, männliche Typ-2-Diabetiker hingegen zwei- bis dreimal so stark. Offenbar hängt dies damit zusammen, dass die Störungen des metabolischen Syndroms bei Frauen oft stärker ausgeprägt sind: LDL-Cholesterin und Trigylzeride liegen im Schnitt höher als bei Männern, während das »gute« HDL-Cholesterin stärker erniedrigt ist. Und auch in punkto Bluthochdruck schneiden Frauen schlechter ab.
Mehr Bluthochdruck, Adipositas und Diabetes: Das steigert auch das Schlaganfallrisiko bei Frauen gegenüber Männern.
Quelle: Kompetenznetz Schlaganfall
Infolgedessen steigt das kardiovaskuläre Risiko bei Frauen bereits im Vorfeld der Diabetesmanifestation deutlich an – und zwar mehr als bei Männern. Was den Blutzucker betrifft, so weisen Frauen mit Diabetes bei mit diabetischen Männern vergleichbaren Nüchternwerten tendenziell höhere Werte nach den Mahlzeiten auf (postprandiale Werte). Da der postprandiale Blutzuckeranstieg die Blutgefäße besonders gefährdet, kann auch dieser Sachverhalt zum hohen kardiovaskulären Risiko bei Frauen beitragen. Ein weiterer wichtiger Faktor: Bei bauchbetonter Adipositas laufen Entzündungsprozesse ab, die das Gefäßendothel negativ beeinflussen. Diese Reaktionen zünden bei Frauen heftiger – ein Phänomen, das grundsätzlich von Immunreaktionen bekannt ist.
Schutz fehlt bei Typ 2
Das unterschiedliche kardiovaskuläre Risiko von männlichen und weiblichen Diabetikern lässt sich mit dem Einfluss der Estrogene auf die Insulinsensitivität allerdings nicht erklären. Denn das höhere Risiko der Frauen mit Diabetes besteht unabhängig vom Alter, also auch bereits vor den Wechseljahren. Während stoffwechselgesunde Frauen vor der Menopause durch die Wirkung der Estrogene einen gewissen kardiovaskulären Schutz genießen, ist ein protektiver Estrogeneffekt bei jüngeren Typ-2-Diabetikerinnen nicht festzustellen. »Der Estrogenvorteil, der stoffwechselgesunden Frauen vor der Menopause einen kardiovaskulären Vorteil beschert, wird offenbar durch den Typ-2-Diabetes zunichte gemacht«, betont Professor Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger, Ärztliche Direktorin des Zentrums für Innere Medizin Fünf Höfe, München, die sich sehr für eine bessere Versorgung von Frauen mit Diabetes engagiert.
Es ist nicht auszuschließen, dass weibliche beziehungsweise männliche Sexualhormone das kardiovaskuläre Risiko in bislang nicht verstandener Weise beeinflussen. In diese Richtung forschen Mediziner also weiter. Andererseits vermuten sie, dass auch nicht-hormonelle Faktoren das geschlechtsspezifische kardiovaskuläre Risiko determinieren. Verschiedene psychische Aspekte stehen deshalb ebenfalls im Fokus des Forscherinteresses.
So erkranken Frauen grundsätzlich deutlich häufiger an Depressionen als Männer. Auch wenn die Dunkelziffer für Depressionen bei Männern hoch liegt, weil sie die Erkrankung seltener ansprechen und häufiger mit Alkohol oder Drogen betäuben, scheinen doch biologische Unterschiede zu existieren, die Frauen für die Entwicklung depressiver Verstimmungen anfälliger machen.
Die Psyche spielt mit
Depressionen können sich – im Sinne einer nicht gelungenen Krankheitsbewältigung – im Gefolge körperlicher Erkrankungen entwickeln und deren Verlauf dann ungünstig beeinflussen. Dies ist zum Beispiel für den Typ-2-Diabetes belegt. In einer Depression fällt es oft schwer, Therapievereinbarungen in die Tat umzusetzen. Das betrifft einen gesunden Lebensstil ebenso wie die korrekte Anwendung der verordneten Medikamente. Auch brechen Diabetiker mit Depressionen nachweislich häufiger die Patientenschulung ab oder verweigern sie von vorneherein. Umgekehrt führen hohe Blutzuckerwerte zu hirnphysiologischen Veränderungen, die wiederum Depressionen Vorschub leisten. Mit denselben Folgen für die Therapie – in diesem Fall jedoch geschlechtsunspezifisch.
Schlechte Adhärenz infolge Depression steht in dringendem Verdacht, für das erhöhte kardiovaskuläre Risiko weiblicher Typ-2-Diabetiker mitverantwortlich zu sein. Zudem fördert bei Frauen mit Typ-2-Diabetes auch ein erhöhter gesellschaftlicher Druck die Entstehung von Depressionen. Typ-2-Diabetikerinnen beziehungsweise Frauen im prädiabetischen Stadium leiden in der Mehrzahl unter oft starkem Übergewicht und entsprechen damit nicht dem propagierten Schönheitsideal. Dadurch entsteht ein zusätzlicher Druck, von dem adipöse Männer weitgehend verschont bleiben.
Und noch etwas könnte eine Rolle spielen: Essstörungen sind bei Frauen mit Typ-2-Diabetes ebenfalls weiter verbreitet als bei männlichen Patienten. So auch das »Binge Eating«, unkontrollierbare Essattacken, die die Stoffwechseleinstellung negativ beeinflussen und so das Risiko für Herz und Kreislauf erwiesenermaßen erhöhen.
Auch wenn Wissenschaftler noch nicht jede Theorie belegen konnten, steht bereits heute fest: Einfache Erklärungen wird es für viele Einzelbefunde der Genderforschung nicht geben. Es bedarf kriminalistischer Feinarbeit, um den Ursachen auf die Spur zu kommen. Das aber ist erforderlich, wenn es darum geht, die Erkenntnisse in geschlechtsspezifische präventive beziehungsweise therapeutische Strategien umzusetzen.
Frauen werden schlechter behandelt
Im Moment ist man davon noch weit entfernt. Mehr noch: Frauen werden oft sogar schlechter therapiert als Männer. Angesichts der »Gefahrenlage« ist dies besonders fatal. Verschiedene Studien untermauern die Benachteiligung von Frauen bei der kardiovaskulären Primär- und Sekundärprävention: Frauen mit Bluthochdruck beziehungsweise mit Fettstoffwechselstörungen erhalten seltener antihypertensive Medikamente wie Cholesterinsenker als Männer. Außerdem bekommen Frauen nach Myokardinfarkt seltener Thrombozytenaggregationshemmer und auch weniger häufig einen Bypass gelegt. Das Geschlechterverhältnis bei Bypass-Operationen beträgt vier zu eins. Katheteruntersuchungen führen Ärzte bei Frauen nur halb so oft durch, und auch bei nicht-invasiven Methoden wie EKG und Herzultraschall stellen Frauen die Minderheit.
Höhere Sterblichkeit
Es mehren sich Hinweise, dass die Prognose von Frauen im Fall von Herzerkrankungen schlechter ist als die von Männern. Und es scheint wahrscheinlich, dass die schlechtere Behandlung zumindest einer der Gründe dafür ist. Sowohl die Früh- als auch die Spätmortalität nach Myokardinfarkt liegt bei Frauen höher als bei Männern. In einer 2017 veröffentlichten Studie, die von Kardiologen der TUM (Technische Universität München) durchgeführt wurde, lag das Risiko zu versterben bei Frauen eineinhalbfach höher als bei Männern. Die Autoren der Studie identifizierten Depressionen als einen wichtigen negativen Prognosefaktor und forderten eine besonders intensive Nachsorge für Frauen, mit Augenmerk auf Anzeichen einer psychischen Überlastung. Die vergleichsweise schlechtere Prognose von Frauen ist auch für andere Herzerkrankungen nachgewiesen. Besonders gilt dies für die Herzinsuffizienz, und auch Herzrhythmusstörungen enden beim weiblichen Geschlecht öfter tödlich.
Foto: Shutterstock/wavebreakmedia
Voraussetzung einer adäquaten Therapie ist eine treffsichere Diagnose. Auch diesbezüglich haben Frauen Pech, wie Studien gezeigt haben: Bei ihnen vergehen demnach im Schnitt sechs Jahre, bis ein verengtes Herzkranzgefäß diagnostiziert wird. Bei Männern dagegen liegt der Befund innerhalb von im Mittel neun Monaten vor. Warum das so ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Der Verdacht liegt nahe, dass Mediziner das Herzrisiko von Frauen nach wie vor unterschätzen. Lange Zeit galten Frauen als kardial weniger gefährdet, und Herzerkrankungen wurden in erster Linie als Männersache angesehen. Solche medizinischen Mythen – das ist bekannt – besitzen oft eine lange Halbwertszeit.
Der Eva-Infarkt
Erschwerend kommt hinzu, dass einige Diagnosemethoden bei Frauen eine geringere Aussagekraft besitzen als bei Männern. Auf das EKG sowohl in Ruhe als auch unter Belastung trifft dies zu. Und auch die Symptomatik kann in die Irre führen: Die bekannten Leitsymptome kardialer Erkrankungen sind männertypische Symptome, bei Frauen kommen dieselben Erkrankungen oft ganz anders daher. Beim weiblichen Herzinfarkt zum Beispiel können Brustenge und Vernichtungsschmerz völlig fehlen. Nicht selten äußern sich Herzinfarkte bei Frauen lediglich in Müdigkeit und/oder einem diffusen Unwohlsein. Auch Schmerzen im Oberbauch sind ein mögliches Zeichen des »Eva-Infarkts«. Gefährdete Frauen, darunter auch jede Frau mit Diabetes, müssen wissen, dass sie bei solch harmlos anmutenden Symptomen an einen Herzinfarkt denken sollten. Das Beratungsgespräch in der Apotheke bietet eine gute Möglichkeit, in dieser Hinsicht aufzuklären.
Medikamente wirken anders
In den Kompetenzbereich von Apotheker und PTA gehört zudem ein weiterer Aspekt der Gendermedizin: Es gibt nicht wenige Medikamente, die bei Männern und Frauen eine unterschiedliche Wirkung entfalten. Das kann eine geschlechtsspezifische Dosisanpassung erforderlich machen. Oder Medikamente eignen sich für Frauen gar nicht, weil sie nicht optimal anschlagen.
Solche Unterschiede der Medikamentenwirkung finden in der praktischen Anwendung und auch bei der klinischen Prüfung nach wie vor zu wenig Beachtung, betonte unlängst die Schweizer Genderpionierin Professor Elisabeth Zemp (Schweizerisches Tropen- und Public Health-Institut, Basel) gegenüber der Wochenzeitung »Die Zeit«. Traditionell werden klinische Studien an jungen, weißen Männern durchgeführt. Nicht zuletzt der Contergan-Skandal habe dazu beigetragen, dass Studien an Frauen Mangelware sind. Auch heute noch komme bei der Testung von Herz-Kreislauf-Medikamenten auf vier männliche Probanden nur eine Frau.
Auch in punkto Immunsystem gibt es offenbar Unterschiede zwischen Mann und Frau. Die genauen Zusammenhänge sind zwar noch nicht geklärt, doch deutet alles daraufhin, dass das weibliche Immunsystem eine stärkere Aktivität aufweist. Einige Indizien:
Dabei liegt es auf der Hand, dass sich Pharmakokinetik und Pharmakodynamik bei Männern und Frauen unterscheiden können. Dabei spielen zum Beispiel Verteilungsvolumen, Körperzusammensetzung und Enzymausstattung eine Rolle. Und tatsächlich sind für verschiedene Medikamente zur Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen geschlechtsspezifische Unterschiede nachgewiesen:
Spreu und Weizen
Fast täglich – so hat man den Eindruck – publizieren Wissenschaftler derzeit neue Ergebnisse der Genderforschung. Die Herausforderung besteht darin, Spreu von Weizen zu trennen. Nicht alle Einzelbefunde besitzen klinische Relevanz und verlangen nach therapeutischen Konsequenzen. Nachdem die medizinischen Unterschiede zwischen Mann und Frau lange Zeit ignoriert wurden, sollte man jetzt nicht ins andere Extrem verfallen und Genderaspekte überbewerten. Manche Befunde allerdings sind geradezu eklatant und mit so guter Evidenz belegt, dass die Zeit für differenzierte Behandlungsstrategien überreif erscheint. /
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