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Vertigo

Drehen, Schwanken, Benommensein

26.04.2010  21:37 Uhr

Vertigo

Drehen, Schwanken, Benommensein

von Maria Pues

Schwindel ist keine Krankheit, sondern ein Symptom ganz unterschiedlicher Erkrankungen. Obwohl die Zahl der möglichen Ursachen begrenzt ist, haben Patienten häufig Schwierigkeiten, einen Arzt zu finden, der die richtige Diagnose stellt.

Wie im Karussell, wie auf einem Boot, völlig orientierungslos oder stark benommen – so beschreiben Patienten eine Schwindelattacke (lat. Vertigo). Alle äußern sich ähnlich, dennoch können den Beschwerden ganz unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen. Einige gezielte Fragen und ein Blick in die Augen des Schwindeligen geben bereits erste Hinweise auf den Ursprung des Schwindels. Wenn Betroffene dann die Ursache der beängstigenden Symptome erfahren, bedeutet dies für ­viele eine erste Linderung. »Die Patienten profitieren, wenn sie wissen, woher die Symptome kommen«, sagte Privatdozent Dr. Klaus Jahn von der Neurologischen Klinik der Universität München, Klinikum Großhadern, im Rahmen der Zentralen Fortbildungsveranstaltung der Landesapothekerkammer Hessen in Gießen. 

Verschiedene Systeme müssen gut aufeinander abgestimmt arbeiten, damit der Mensch im Gleichgewicht bleibt. Die Augen gehören dazu, das Gleichgewichtsorgan im Ohr und auch bestimmte Hirnregionen. Tritt an einem Teilsystem eine Störung auf, kann es entweder zu Problemen bei der räumlichen Orientierung kommen, oder es entsteht der Eindruck, man selbst oder die Umgebung bewege sich, obwohl sich beide in Ruhe befinden. Dem Betroffenen wird es dann schwindelig. Unter diesem Phänomen leiden zwar nur 2 Prozent der jüngeren Erwachsenen, doch steigt der Anteil der Betroffenen im Lebensalter über 65 Jahre auf 20 bis 30 Prozent.

Steinchen im Innenohr

Oft setzt der Schwindel ganz abrupt ein: Genüsslich möchte man sich im Bett noch ein wenig in die Decke kuscheln und dreht sich auf die andere Seite. Plötzlich gerät die ganze Welt in heftige Bewegung. Der Betroffene weiß kaum noch, wo oben und wo unten ist. Schlagartig dreht sich ihm der Magen um, Übelkeit kommt auf, mancher muss sich übergeben. Genauso schnell, kaum 20 bis 30 Sekunden später, ist der Spuk vorbei. Viele bleiben anschließend erst einmal ganz ruhig liegen, damit eine erneute Attacke ausbleibt. Doch bei jeder kleinsten Drehung des Kopfes geht es wieder los. Dass das die Patienten stark verunsichert, verwundert nicht. In den meisten Fällen bestünde kein Grund zur Besorgnis, sagen Mediziner. Das zu glauben, fällt den Pa­tienten allerdings schwer. 

Der gutartige Lagerungsschwindel, auch benigner peripherer paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPPV) genannt, ist die häufigste Form der Schwindelerkrankungen. Er wird durch kleine »Steinchen«, sogenannte Otokonien verursacht, die meist im hinteren Bogengang im Ohr liegen. Experten sprechen von einer Canalolithiasis. Charakteristischerweise beobachtet der Arzt bei den Patienten ein Augenkreisen zum Ohr hin, auf dem sie seitlich liegen. Dabei versuchen sie die vorgegaukelte Bewegung auszugleichen. Zur eindeutigen Diagnose setzen die Ärzte den Patienten eine sogenannte Frenzelbrille auf, damit diese ihren Blick nicht fixieren können. Oft könne man das Phänomen auch gut beobachten, wenn die Patienten einfach die Augen schlössen, erläuterte Jahn. Mithilfe bestimmter Übungen ließen sich die Otokonien aus dem Bogengangsystem wieder hinausbefördern. Dabei handelt es sich um Manöver, bei denen die »Steinchen« in Bewegung geraten und über den Abfluss aus dem Bogengang hinausgespült werden. Auf manche Patienten wirke das wie eine Wunderheilung, so Jahn. Rund 75 Prozent seien bereits nach einer Übung sofort beschwerdefrei, der Rest mache diese zu Hause eine Zeit weiter. 

Nur kurze Bettruhe

Dauerdrehschwindel verursacht hingegen eine Neuritis vestibularis, ein meist einseitiger Ausfall des Gleichgewichtsnervs durch eine Entzündung. Auch hier können heftige Übelkeit sowie Erbrechen hinzukommen, und die Patienten fallen plötzlich hin. Ärzte beobachten, dass die Patienten ihre Augen spontan horizontal zur gesunden Seite hin bewegen. Antivertiginosa wie Dimenhydrinat sollte der Patient jedoch nur während der ersten drei Tage einnehmen, um die akuten Beschwerden zu lindern. Innerhalb dieser Zeit sollte eine Cortisolbehandlung starten, die nach ein bis zwei Wochen ausgeschlichen werden kann. Nach maximal drei Tagen sollten die Patienten nicht mehr das Bett hüten. »Besser wird es nur dadurch, dass man sich wieder bewegt«, betonte Jahn. »Die rasche Mobilisation mit einem speziellen Gleichgewichtstraining ist entscheidend für den Behandlungserfolg.«

Da häufig ältere Menschen betroffen sind, befürchten viele, der Schwindel könne Symptom eines Schlaganfalls sein. In einem solchen Fall kämen jedoch noch weitere Krankheitszeichen wie Lähmungserscheinungen, das Sehen von Doppelbildern oder ein Taubheitsgefühl hinzu, informierte der Mediziner.

Eine Flüssigkeitsansammlung von Endolymphe im Innenohr verursacht den Morbus Menière. Reißt die feine Membran, die verschiedene Flüssigkeiten voneinander trennt, durchmischen sich diese, und es kommt zur Depolarisation. Dann setzt plötzlich ein heftiger Drehschwindel ein, oft begleitet von Sturzgefahr und Übelkeit. Auch hier bewegen die Patienten ihre Augen horizontal und rotierend. Hörminderung, Tinnitus und Druckgefühl auf dem betroffenen Ohr können auftreten. Während das Druckgefühl innerhalb von Minuten bis Stunden langsam abklingen kann, bleiben eine Hörminderung und Tinnitus manchmal bestehen oder treten in Intervallen wieder auf. Während der akuten Attacke führt häufig die Behandlung mit Betahistin zum Erfolg, wenn es ausreichend hoch dosiert (dreimal 48 mg) wird. Als Gegenanzeige für das Arzneimittel gilt Asthma.

Phobie oder Migräne

Die zweithäufigste Schwindelform ist der phobische Schwankschwindel, immer wieder in derselben Situation: Plötzlich flutet das Schwindelgefühl an – und wieder ab. »Der Supermarkt ist der klassische Auslöser«, berichtete Jahn. Die Patienten haben plötzlich das Gefühl, nicht mehr sicher auf ihren Beinen zu gehen und zu stehen. Meist versuchen sie, genau die Situationen zu vermeiden, in denen sich der Schwindel eingestellt hat. »Häufig trifft es Menschen, die sehr ordentlich und kontrolliert sind«, erläuterte Jahn. »Chaoten, die zwei Wochen ihr Geschirr nicht abwaschen, trifft es selten.« Die gute Nachricht: Auch nach vielen beschwerdereichen Jahren lohnt sich der Gang zum Arzt. Bei über 70 Prozent der Betroffenen bessert eine Behandlung die Beschwerden. »Man muss den Patienten erklären, was sie haben«, ergänzte Jahn. »Wenn sie wissen, was ihre Beschwerden verursacht, hilft ihnen das oft bereits.«

Migräne ohne Kopfschmerzen – auch das gibt es. Zum Beispiel bei der Vestibulären Migräne: Die Patienten leiden unter Schwindelattacken, Sehstörungen und Ataxie. Bei 30 Prozent von ihnen blieben Kopfschmerzen dagegen aus, erläuterte Jahn. Plötzlicher Beginn, kurze Dauer und ein Wiederkehren des Schwindels kennzeichnen diese Form. Sehr oft treten die Symptome familiär gehäuft auf. Auch den Experten fällt die Diagnose dieser Erkrankung meist schwer. Zuweilen ist erst dann klar, was die Symptome ausgelöst hat, wenn man sie erfolgreich im Griff hat. Die Behandlung entspricht der einer Migräne mit Aura.

Ein Kandidat steht nur in den allerseltensten Fällen auf der Liste der Auslöser des Schwindels: Die Halswirbelsäule ist in den meisten Fällen nicht dafür verantwortlich, wenn die Welt für die Patienten ins Schwanken gerät.

E-Mail-Adresse der Verfasserin:
maria.pues(at)t-online.de