Die Krankheit beherrschen lernen |
10.06.2008 09:38 Uhr |
Brigitte M. Gensthaler, München
Die Diagnose ist ein Schock für alle Beteiligten: Stellt ein Arzt die »Zuckerkrankheit« bei einem Kind fest, verändert sich damit das Leben des kleinen Patienten und ebenso der ganzen Familie. Eltern und Kind brauchen in dieser Situation viel Unterstützung, damit sie lernen, wie sie das Leben mit der chronischen Erkrankung meistern.
»Man darf sich von der Krankheit nicht beherrschen lassen. Wichtig ist, den Diabetes selbst zu regieren.« Dies sagte der 13-jährige Nico bei einem Bayer-Pressegespräch in München. Der Junge aus München erhielt die Diagnose des Typ-1-Diabetes vor rund zwei Jahren. Nico gehört zur Gruppe der etwa 25 000 Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die an Diabetes mellitus vom Typ 1 erkrankt sind. »Diabetes ist die häufigste chronische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter«, sagte Professor Dr. Thomas Danne, Chefarzt im Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover. »Eines von 600 Kindern in Deutschland leidet daran.« Und es werden immer mehr. Die Zahl der Neuerkrankungen steigt um 3 bis 4 Prozent pro Jahr, und besonders der Anteil der jungen Patienten wächst.
Um die Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken, hatten die Weltgesundheitsorganisation und die Internationale Diabetes-Föderation (IDF) das Jahr 2007 zum »Jahr des Kindes mit Diabetes« erklärt. Wegen der großen Bedeutung dieses Problems wurde die Initiative um ein Jahr verlängert. Nun finden auch 2008 zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen statt.
»Viele Menschen wissen gar nicht, dass auch Kinder zuckerkrank werden können«, beklagt Nico im Interview mit Katrin Jost von Bayer HealthCare. Oder sie machen dem Kind und seinen Eltern Vorwürfe. Im Gegensatz zu Typ-2-Diabetes hängt Diabetes vom Typ 1 nicht ursächlich mit dem Lebenswandel der Patienten zusammen. Typ-2-Diabetes wird durch Fehlernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel gefördert und hieß früher auch Altersdiabetes, weil er normalerweise erst bei Erwachsenen über 40 Jahren auftrat.
Als Folge des dramatischen Anstiegs von Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) bei Kindern und Jugendlichen diagnostizieren Ärzte jedoch den Typ-2-Diabetes bereits bei jungen Menschen. 4 bis 8 Prozent der Schulkinder sind adipös, bei 7 Prozent davon ist die Glucosetoleranz gestört. Diese gilt als ernstes Warnzeichen für einen beginnenden Diabetes mellitus.
Auf einmal ändert sich vieles
Wie äußert sich Diabetes bei Kindern? Oft fällt den Eltern zunächst auf, dass ihr Kind sehr häufig auf die Toilette muss, immer Durst hat und viel trinkt. Kopfschmerzen, Übelkeit und Müdigkeit können weitere Warnzeichen sein. Auch sollten Eltern, Erzieher oder Lehrer aufmerksam werden, wenn ein Kind die Lust am Spielen verliert und ständig schlechte Laune hat.
Nico beschrieb die Diagnose als Schock. Er wusste vorher nicht viel über die Krankheit und fürchtete sich vor dem Spritzen. Am meisten beschäftigte ihn die Sorge: »Ob ich weiter Fußball spielen darf und auf meiner Schule bleiben kann.« Das ist nicht ganz unbegründet: Nicht selten schließen Erzieher und Lehrer Kinder und Jugendliche mit Diabetes mellitus von schulischen und anderen Aktivitäten wie Ausflügen und Sportveranstaltungen aus, weil sie die Verantwortung für mögliche Gesundheitsprobleme nicht übernehmen möchten.
Die Diagnose des Arztes verändert auch die Welt der Eltern. Sie müssen lernen, die Krankheit ihres Kindes zu akzeptieren und die Therapie auf Dauer sicher zu stellen. Viele Eltern nehmen auch finanzielle Einbußen in Kauf: Eine aktuelle Umfrage bei über 500 Familien zeigte, dass nahezu alle Mütter der jüngeren Kinder und die Hälfte der Frauen mit älteren Kindern nach der Diagnose ihre Berufstätigkeit aufgaben oder nicht wieder aufnahmen. Und schließlich müssen die Geschwister damit zurecht kommen, dass ihre Schwester oder ihr Bruder chronisch krank ist und die Aufmerksamkeit der Familie auf sich zieht.
Nicos Familie hat die Diagnose inzwischen gut verkraftet. »Meine Eltern und mein älterer Bruder haben mir toll geholfen, mit allem zurecht zu kommen. Und auch meine Freunde passen auf mich auf, wenn ich zum Beispiel mal blass werde oder stark schwitze. Mein Lehrer hat sich sogar ein Buch über Diabetes gekauft und im Unterricht darf ich jetzt essen, wenn es nötig ist.« Nico besucht weiterhin sein Sportgymnasium, misst regelmäßig den Blutzucker, passt die Insulinzufuhr an die Werte an und achtet auf Anzeichen einer Unterzuckerung.
Altersgerechte Schulung
»Kinder brauchen von Anfang an eine gute Insulintherapie«, betonte der Diabetologe Danne. Die konventionelle Insulintherapie sei unzureichend, stattdessen werde bei Kindern die intensivierte Therapie mit häufigen Blutzuckerkontrollen und angepassten Insulininjektionen empfohlen.
Inzwischen gibt es auch neue pädagogische Konzepte für die Schulung der Kinder. »Schon Kleinkindern kann man altersgemäß erklären, was sie haben«, so der Arzt. Ab etwa sechs Jahren kann das Kind eine altersgerechte Schulung mitmachen; ab zwölf ist eine umfassende Diabetesschulung möglich.
Viele Besonderheiten erschweren allerdings die Behandlung der sehr jungen Kinder. Dazu gehören bei Säuglingen beispielsweise die lange Schlafdauer und die kleinen Areale zur Insulininjektion. Mit zunehmendem Alter kommen der ständige Bewegungsdrang, das oft unkontrollierbare Essverhalten sowie häufige Infektionskrankheiten hinzu.
Viele Kinder wehren sich mit aller Kraft gegen das häufige Stechen und Spritzen, weil sie den Sinn nicht verstehen. Jugendliche wiederum verweigern sich, weil sie gegen ihr Umfeld aufbegehren. Zudem schwankt die Stoffwechselaktivität und damit auch die Blutglucosewerte durch Wachstum und Pubertät viel stärker als bei Erwachsenen.
Mehr als die Hälfte der Kinder, die von den Diabetologen des Krankenhauses auf der Bult in Hannover betreut werden, erreicht einen Langzeitblutzuckerwert unter 7,5. Jede Senkung des HbA1c-Werts reduziere das Risiko für Folgeerkrankungen, so Danne. »Man muss einen Kompromiss finden.« Viele junge Diabetiker verwenden einen Pen zum Insulinspritzen. Noch mehr Flexibilität ermöglicht die Pumpentherapie, die etwa so viel Insulin wie bei einem Gesunden freisetzt.
In die Pumpe ist eine automatische Basalrate einprogrammiert, die individuell dem Tagesrhythmus des Kindes angepasst werden kann. Zusätzlich können Eltern oder ältere Kinder selber zu jeder Tages- und Nachtzeit per Knopfdruck die erforderliche Menge an kurzwirksamem Insulin injizieren. Ein strenger Ernährungsplan, der bei Kindern ohnehin schwer durchzusetzen ist, entfällt dann. Bereits ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen mit Diabetes trägt heute Tag und Nacht die Pumpe. Bei Kindern unter fünf Jahren sind es sogar 37 Prozent.
Neuerdings überwachen subkutan gelegte Sensoren sogar die Glucosewerte im Gewebe und übertragen diese auf das Display der Insulinpumpe. Bei zu hohen oder zu niedrigen Werten, beispielsweise im Schlaf, werden die Patienten durch ein Signal gewarnt. Die Abgabe eines Insulinbolus lösen sie bei Bedarf manuell aus. Dazu Danne: »Die Tendenz geht zur kontinuierlichen Blutzuckermessung kombiniert mit einer Pumpe.«
Den Kopf nie hängen lassen
Nico hat sich mit seiner Krankheit arrangiert und schätzt die moderne Technik: »Der Diabetes ist halt immer dabei. Aber das wichtigste für mich war, dass ich weiter Fußball spielen kann. Und seit ich die Pumpe habe, ist vieles einfacher geworden.« Sein Tipp für andere Kinder: nie den Kopf hängen lassen.
»Fine Star« heißt der mit insgesamt 17 500 Euro dotierte Preis, den die Bayer Vital GmbH im Herbst dieses Jahres erstmals vergibt. Damit will das Unternehmen Projekte und Aktionen auszeichnen, die dazu beitragen, die Lebensqualität der erkrankten Kinder und Jugendlichen zu verbessern und ihre Fähigkeit zum Selbstmanagement zu fördern. Der Preis soll zudem mithelfen, das Thema Kinder-Diabetes in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Maskottchen ist die pfiffige Stoffgiraffe »Fine«, die in einem Beutel am Bauch ein großes Stück Traubenzucker trägt. »Jeder, der kreative und innovative Aktionen und Initiativen im Bereich Kinder-Diabetes umsetzt, kann teilnehmen«, erklärte Jörn Oldigs, Leiter des Bayer-Geschäftsbereichs Diabetes Care, in München. Es muss kein wissenschaftliches Projekt sein, soll aber bereits laufen. Bewerben können sich Eltern, Erzieher, Lehrer oder Betroffene. Bewerbungsformulare gibt es unter www.bayerdiabetes.de oder Telefon 0800 7261880. Einsendeschluss ist der 15. August 2008.
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