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Arzneimitteltherapie

Neue Arzneistoffe im Mai 2008

10.06.2008  09:08 Uhr

Arzneimitteltherapie

Neue Arzneistoffe im Mai 2008 

Sven Siebenand, Eschborn

Mit Dabigatranetexilat und Antithrombin alfa kamen in den vergangenen Wochen zwei neue Gerinnungshemmer auf den Markt. Antithrombin alfa ist das weltweit erste Arzneimittel, das mithilfe von transgenen Tieren hergestellt wurde. Der dritte Neuling, Docosan-1-ol, soll dafür sorgen, dass Lippenherpes gar nicht erst richtig aufflammt.

Gerade nach Knie- und Hüftgelenk-Operationen haben Patienten ein hohes Risiko für venöse Thromboembolien. Untersuchungen konnten zeigen, dass ohne Thromboembolie-Prophylaxe bis zu 60 Prozent aller Patienten nach einer größeren orthopädischen Operation eine tiefe Venenthrombose entwickelten. Bis zu 10 Prozent der Patienten erleiden Studien zufolge eine Lungenembolie, die im schlimmsten Fall tödlich endet. Bisher erhalten die meisten Patienten nach größeren operativen Eingriffen ein- oder zweimal täglich eine Spritze mit niedermolekularen Heparinen wie Enoxaparin, die subkutan injiziert werden. 

Dabigatranetexilat

Ein wesentlicher Vorteil des neuen Wirkstoffs Dabigatranetexilat (Pradaxa® 75 und 110 mg Hartkapseln, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH) ist die orale Anwendung. Das lässt eine bessere Compliance erwarten und erleichtert die Arbeit des Krankenhauspersonals. Zugelassen ist das seit Mitte April auf dem Markt verfügbare Präparat zur Vorbeugung von venösen thromboembolischen Ereignissen bei Erwachsenen, die sich größeren chirurgischen Eingriffen an den unteren Extremitäten unterziehen müssen (Hüft- oder Kniegelenkersatz). Der Hersteller empfiehlt folgende Dosierung: Bis zu vier Stunden nach der Operation sollen die Patienten eine 110-mg-Kapsel einnehmen. Anschließend erhalten Patienten mit Kniegelenkersatz 10 Tage lang einmal täglich zwei 110-mg-Kapseln und Patienten mit Hüftgelenkersatz die selbe Dosis 28bis 35 Tage lang. Bei Über-75-Jährigen oder Personen mit mäßig eingeschränkter Nierenfunktion muss die Dosis auf zwei Kapseln zu je 75 mg reduziert werden. Dabigatranetexilat ist ein sogenanntes Prodrug, das nach oraler Einnahme sehr schnell vom Körper in die eigentliche Wirkform Dabigatran umgewandelt wird. Dabigatran ist ein direkter Thrombinhemmer. Thrombin besitzt eine Schlüsselstellung in der Blutgerinnungskaskade.

Zusammengefasst kann man sagen: Ohne Thrombin bildet sich kein Thrombus, ohne Thrombus besteht keine Thromboemboliegefahr. Dabigatran bindet direkt anThrombin, blockiert damit das Molekül und macht es »funktionsunfähig«. Weitere Vorteile der neuen Arzneisubstanz: Die Wirkung von Dabigatranetexilat setzt sehr rasch ein und klingt nach Absetzen der Medikation schnell wieder ab. Derantikoagulierende Effekt ist gut vorhersehbar, so dass eine Gerinnungskontrolle entfällt. Zudem besteht ein geringes Potenzial für Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder Nahrungsmitteln. Kontraindiziert ist das neue Präparat bei Patienten, die gleichzeitig Chinidin einnehmen müssen, ebenso bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz, akuten Blutungen und beeinträchtiger Leberfunktion.  

Da das Medikament die Heparinspritzen überflüssig macht, verringert es die mit Spritzen verbundenen Schmerzen und Hämatome der Patienten und das Verletzungs- sowie Infektionsrisiko des Krankenhauspersonals. Außerdem dürfte die orale Therapie die Compliance der Patienten bei der Weiterbehandlung verbessern. Und die Nebenwirkungen? Wie bei anderen blutgerinnungshemmenden Arzneimitteln kommt es auch unter Dabigatranetexilat häufig zu Blutungen. Gemäß Fachinformationen traten sie bei etwa 14 Prozent der Studienteilnehmer auf, bei weniger als 2 Prozent kam es zu schweren Blutungen.

Antithrombin alfa

Mit Antithrombin alfa (Atryn® Pulver zur Herstellung einer Infusionslösung, Leo Pharma GmbH) ist Anfang Mai ein weiteres gerinnungshemmendes Mittel auf den deutschen Markt gekommen. Jede Durchstechflasche enthält 1750 Internationale Einheiten des neuen Arzneistoffs. Im Unterschied zu Dabigatranetexilat wird Antithrombin alfa bei Patienten mit erblich bedingtem Antithrombinmangel angewendet, um einer venösen Thromboembolie bei chirurgischen Eingriffen vorzubeugen. Erblich bedingte Antithrombindefizienz ist relativ selten: Schätzungsweise 1 von 3000 bis 1 von 5000 Menschen sind betroffen. 

Wie der Name sagt, blockiert Antithrombin im Körper die Funktion des Thrombins und schützt damit vor Blutgerinnseln. Liegt ein erblich bedingter Mangel an Antithrombin vor, ist dieser Schutz aufgehoben und es besteht ein erhöhtes Risiko, dass sich Blutgerinnsel beispielsweise nach großen Operationen bilden. Das neue Präparat, das normalerweise zusammen mit niedermolekularem Heparin verabreicht wird, gleicht den Antithrombinmangel aus und bringt die Gerinnungsstörung wieder unter Kontrolle.

Die in Studien am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen waren Schwindel, Kopfschmerzen, Blutungen und Übelkeit. Außerdem trat an der Stelle der Operationsnarbe Wundflüssigkeit aus.

Antihrombin-Präparate aus menschlichen Blutprodukten gibt es schon einige auf dem Markt. Der Hersteller von Atryn ging einen neuen Weg, denn das Produkt wird in transgenen Ziegen gebildet. Dieses Vorgehen bezeichnen Fachleute auch als »pharming« (englisch »pharma-« und »farming«). Der Wirkstoff Antithrombin alfa wird mittels rekombinanter DNA-Technologie aus Ziegenmilch gewonnen. Die Infusion des Proteins kann zu einer allergischen Reaktion führen. Patienten, die auf Ziegenmilch allergisch reagieren, dürfen nicht mit dem Medikament behandelt werden.

Das neue Arzneimittel wird an krankenhausversorgende Apotheken ausgeliefert und muss im Kühlschrank bei Temperaturen zwischen 2 bis 8 Grad Celsius gelagert werden. 

Docosan-1-ol

Wer in den USA oder Kanada in einer Apotheke nach einem Mittel gegen Lippenherpes fragt, erhält normalerweise das Präparat Abreva®. Mit Erazaban®-Creme (Health Care Brands International) ist seit einigen Wochen das Pendant dazu auch in Deutschland verfügbar. Das apothekenpflichtige Medikament enthält den Wirkstoff Docosan-1-ol. Wie die antivirale Wirkung dieses langkettigen Alkohols zustande kommt, ist noch nicht genau geklärt. Wahrscheinlich blockiert es die Aufnahme der Viren in die Zelle und verhindert damit auch die Virusvermehrung. 

Wichtig ist der frühzeitige Beginn der Therapie. Sobald der Betroffene Herpes-Symptome wie Jucken, Brennen, Rötung oder Spannungsgefühl der Lippe bemerkt, sollte er die Creme auftragen. Empfohlen wird die fünfmalige Anwendung pro Tag, bis die Infektion abgeheilt ist. Das dauert in der Regel vier bis sechs Tage. Nach der Anwendung müssen die Patienten ihre Hände gründlich waschen, damit sie die Herpesviren nicht an anderen Körperstellen verteilen. Vor allem darf die Infektion im wahrsten Sinne des Wortes nicht ins Auge gehen. Wer mit infizierten Fingern seine Augen reibt oder Kontaktlinsen einsetzt, riskiert eine Binde- und Hornhautinfektion mit bleibenden Schäden, die sogenannte herpetische Keratokonjunktivitis. 

Da Docosan-1-ol praktisch nicht in den Blutkreislauf gelangt, sind Wechselwirkungen mit anderen Arzneistoffen unwahrscheinlich. Auch das Nebenwirkungsrisiko ist gering. In Studien berichteten einige Anwender über Beschwerden am Applikationsort wie trockene Haut und Ausschlag, jeder Zehnte bekam Kopfschmerzen.

 

E-Mail-Adresse des Verfassers:
S.Siebenand(at)govi.de