PTA-Forum online
Flugangst und Reiseübelkeit

Die Hürden vor der Erholung

22.04.2014  16:02 Uhr

Von Susanne Poth / Die Koffer sind gepackt, das Haus verlassen und die Tür abgeschlossen. Die Reise kann losgehen. Für viele beginnt bereits jetzt die große Entspannung, andere sehen der Fahrt oder dem Flug zum Urlaubsort mit Schrecken entgegen. Für sie ist die Anreise das reinste Martyrium, da Reiseübelkeit oder Flugangst sie quälen. Doch können einige Arzneimittel sowie einfache Maßnahmen für entspanntes Reisen sorgen.

Das Auto ist gerade für Familien mit Kindern nach wie vor das beliebteste Verkehrsmittel, wenn es in den Urlaub geht. Es ist preisgünstiger, flexibler und bietet eine Menge Platz für das Gepäck. Doch was Eltern so praktisch erscheint, erzeugt auf der Rückbank häufig wenig Begeisterung. Denn vielen Kindern wird auf der Fahrt mit dem Auto schlecht. Beim Umdrehen blicken die Eltern in müde kleine Augen und blasse, teilnahmslose Gesichter. Das betroffene Kind spürt ein flaues Gefühl im Magen und bekommt Schweißausbrüche. Im Mund bildet sich vermehrt Speichel, Übelkeit stellt sich ein. Häufig muss sich das Kind sogar übergeben.

Kinder zwischen 2 und 12 Jahren leiden am häufigsten unter Kinetose, sehr selten hingegen Kleinkinder unter zwei Jahren und über Fünfzigjährige. Auch Erwachsene, die zu Schwindelgefühlen oder Migräne neigen, können Opfer der Reiseübelkeit werden. Insgesamt leiden etwa 5 bis 10 Prozent der Menschen an der Reisekrankheit, gegen die übrigens auch Tiere nicht immun sind. Auch betrifft die Kinetose nicht nur Autoreisende, sondern ebenso Bus-, Flug- und vor allem Schiffsreisende. Sogar bei virtuellen Trips in 3D-Filmen oder bei Computerspielen kann der Bewegungsschwindel auftreten.

Schuld an der Misere ist ein Konflikt im Gehirn. Er entsteht dadurch, dass Informationen von Auge und Gleichgewichtsorgan (Vestibularapparat) nicht übereinstimmen und das zentrale Nervensystem widersprüchliche Informationen verarbeiten muss. Die Rezeptoren für Bewegungsreize sitzen im Innenohr. Lymphflüssigkeit, die sich in den dort liegenden Bogengängen hin und her bewegt, stimuliert die Gleichgewichtsrezeptoren. Diese Rezeptoren registrieren Abweichungen von der Horizontalen in alle drei Richtungen des Raumes und leiten diese Information ans Gehirn weiter. Das ZNS verarbeitet die Reize und interpretiert sie als Drehbewegung.

Hinzu kommen Meldungen der Gleichgewichtssteinchen, der Stato­lithen aus Calciumcarbonatkristallen, auch Gehörsand genannt. Die Kristalle liegen in einer gelartigen Masse und erfassen die Beschleunigung des Körpers im Raum. Dieses komplexe System ist bei Kleinkindern noch nicht ausgereift. Bei älteren Menschen hingegen ist die Wahrnehmung der Statolithen hingegen nicht mehr so fein. Darum leiden sie eher selten an Kinetose.

Während einer kurvenreichen Autofahrt oder bei ständigen Stop-and-go-Bewegungen werden die Rezeptoren der Reisenden im Innenohr heftig gereizt. Blickt der Reisende zur selben Zeit auf einen Gegenstand im Auto, der sich nicht bewegt, zum Beispiel ein Buch oder eine Landkarte, registrieren die Augen keinerlei Bewegung. Auch rasch vorbeiziehende Objekte beim Herausblicken aus den Seitenfenstern des Wagens können die Augen nicht ausreichend fixieren. Beides führt zu nicht übereinstimmenden Meldungen der Sinnesorgane, Verwirrungen in der Schaltzentrale sind die Folge. Da sich der Körper durch diese Ungereimtheiten bedroht sieht, reagiert das vegetative Nervensystem mit Schweißausbrüchen, und das Brechzentrums im Stammhirn mit den bekannten Symptomen Übelkeit und Erbrechen.

Paradoxerweise können diese Körperreaktionen auch ohne echte Bewegung auftreten, zum Beispiel in einem Flugsimulator, bei bestimmten Computerspielen oder im 3D-Kino. Dieses Phänomen nennen Mediziner Pseudo-Kinetose. In dem Fall vermitteln nur die Augen den Eindruck ungewohnter ruckartiger oder schwankender Bewegung.

Bewährte Klassiker

Haben Betroffene beziehungsweise deren Eltern den Mechanismus der Reisekrankheit verstanden, fällt es auch leichter, die Symptome zu verhindern. Einige Tipps enthält der Kasten. Sollten diese Ratschläge für eine angenehme Reise nicht ausreichen, können PTA oder Apotheker Mittel zur Vorbeugung der Reiseübelkeit empfehlen. Klassiker sind hier die beiden H1-Antihistaminika Diphenhydramin und Dimenhydrinat. Diese gut ZNS-gängigen Arzneistoffe blockieren dort H1-Rezeptoren und hemmen dadurch den Histamin-induzierten Brechreflex. Als Nebenwirkung machen die Antihistaminika der ersten Generation müde. Aus diesem Grund wurde beim Wirkstoff Dimenhydrinat das Diphenhydramin mit 8-Chlortheophyllin kombiniert. Chlortheophyllin soll als mildes Stimulans der Müdigkeit entgegenwirken. Trotzdem lässt sich diese Nebenwirkung nicht völlig ausschließen, sie ist ja in vielen Fällen durchaus auch erwünscht.

Tipps

  • Wem im Auto leicht übel wird, sollte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen.
  • Erwachsene übernehmen am besten selbst das Steuer.
  • Im Bus sind die vorderen Plätze empfehlenswert.
  • Im Zug sollten sich Betroffene in Fahrtrichtung setzen.
  • Schiffsreisenden hilft es, den Horizont zu fixieren. Nach Möglichkeit sollten sie an Deck bleiben.
  • Auf Lesen, Smartphone-Spiele o. ä. verzichten
  • Betroffene sollten Alkohol, Kaffee und schwer verdauliche Mahlzeiten meiden, jedoch auch nicht mit ganz nüchternem Magen reisen.
  • Leichte Übelkeit bessert sich meist an der frischen Luft.
  • Manchen hilft es, wenn sie die Augen schließen und etwas schlafen oder ruhen.

Welche Arzneiform sich im Einzelfall am besten eignet, hängt von einigen Gegebenheiten ab, die PTA oder Apotheker im Beratungsgespräch klären sollten. Wird dem Betroffenen regelmäßig schlecht, sollte er bereits prophylaktisch eine halbe bis eine Stunde vor Reiseantritt – eventuell auch drei bis vier Stunden danach – Reisetabletten einnehmen. Kinder oder Patienten, die keine Tabletten schlucken können oder wollen, können sich mit Zäpfchen weiter helfen oder alternativ mit Kaugummis als schnell wirkende »Stand-by-Medizin«. Sie geben den Wirkstoff beim intensiven, etwa fünf-minütigen Kauen frei und dieser gelangt über die Mundschleimhaut direkt ins Blut. Kaugummis eignen sich für Erwachsene und Kinder ab sechs Jahren.

Als Phytotherapeutikum ist Ingwer ein bewährtes Mittel gegen Übelkeit. Den frischen Wurzelstock hatten schon zu früheren Zeiten die großen chinesischen Seefahrer an Bord. In einem Review von elf Studien führte gepulverter Ingwer sowie ein Fertigpräparat zu positiven Ergebnissen, sowohl im Vergleich mit Placebo als mit Diphenhydramin. Als Hauptwirkstoffe gelten die Gingerole und Shoagole. Diese Scharfstoffe wirken Serotonin-antagonistisch. Die Serotonin-Rezeptoren befinden sich in hoher Dichte unter anderem im Magen-Darm-Trakt und im Zentralnervensystem.

Neben der zentralen Wirkung lösen die Scharfstoffe Verspannungen im Magen. Als Tagesdosis empfiehlt die Kommission E zwei bis vier Gramm Droge. Von dem Fertigpräparat nehmen Erwachsene und Kinder, die älter als sechs Jahre sind, eine halbe Stunde vor Reisebeginn zwei Kapseln und dann alle vier Stunden zwei weitere Kapseln. Der Vorteil des Pflanzenpräparates: Es macht nicht müde.

Ein guter pflanzlicher Reisebegleiter ist auch das Pfefferminzöl, dessen frischer Geruch auf die Stirn getupft, leichtes Unwohlsein bei Kindern und Erwachsenen lindert.

Hilfe aus der Homöopathie

Homöopathen empfehlen bei Reiseübelkeit Cocculus D6. Das Kockelskorn ist der Samen der Scheinmyrte, Anamirta cocculus, einer Schlingpflanze aus der Familie der Mondsamengewächse (Menispermaceae). Ihre Samen enthalten das psychoaktive Alkaloid Picrotoxin, das zu Schwindel, Übelkeit, Krämpfen bis zu epileptischen Anfällen und dosisabhängig beim Menschen zum Tode führen kann.

Früher verwendeten es Fischer zum Fang. Schluckten die Fische den neurotoxischen Köder, wurde ihnen schwindlig, sie trieben auf und konnten mit der Hand eingefangen werden. Aus dieser Wirkung leitet sich die homöopathische Verwendung bei bewegungsbedingtem Schwindel und Übelkeit ab. Die Behandlung mit Cocculus D6 Globuli soll drei Tage vor Reiseantritt mit dreimal täglich fünf Globuli starten, bei kleineren Kindern reichen drei Globuli. Während der Fahrt wird die Gabe vier bis sechsmal täglich wiederholt.

Bringen die rezeptfreien Präparate keine Erleichterung, so kann ein Arzt dem Patienten ein Scopolaminpflaster verordnen. Die Pflaster wirken sehr schnell und effizient, häufig treten jedoch als Nebenwirkungen Sehstörungen und Mundtrockenheit auf. In den meisten Fällen sind derartige Symptome allerdings nur sehr schwach und verschwinden von allein wieder. Als Kontraindikation gilt Engwinkelglaukom. Das transdermale Pflaster mit dem Alkaloid der Tollkirsche müssen die Betroffenen bereits am Vorabend der Reise oder mindestens fünf Stunden vor Reiseantritt hinter ein Ohr kleben. Es wirkt dann circa 72 Stunden.

Über den Wolken …

… ist die Freiheit durchaus nicht für jeden grenzenlos. Rund 20 Prozent aller Deutschen haben Angst vor Flugreisen. Für sie ist die Zeit zwischen Start und Landung eines Flugzeuges der reinste Alptraum. Das gilt bei weitem nicht nur für Menschen, die noch nie ein Flugzeug bestiegen haben. Auch Vielflieger, die das Transportmittel beruflich häufig nutzen müssen, begeben sich bisweilen nur mit größtem Widerwillen in die Lüfte.

Hinter dieser Angst verbergen sich die unterschiedlichsten Ursachen: Manchen Menschen fehlt das Vertrauen in die Sicherheitstechnik des Flugzeugs, andere leiden unter Höhenangst oder sie ertragen die Enge in der Flugkabine nicht. Außerdem können unangenehme Erfahrungen wie unruhige Flüge oder das plötzliche Absacken der Maschine in Luftlöchern Grund für diese Ängste sein.

Wer beim Fliegen lediglich mit Unbehagen kämpft, kann sich mit einigen Tipps den Flug erleichtern. So sollten Menschen mit Höhenangst einen Gangplatz wählen. Die frühzeitige Reservierung ermöglicht einen Platz relativ weit vorne oder in Höhe der Tragflächen. Dort sackt das Flugzeug weniger ab als hinten. Fluggäste, denen leicht schlecht wird, sollten aus dem Fenster schauen oder sich durch ein Gespräch mit dem Nachbarn ablenken. Phytopharmaka mit Baldrian- oder Johanniskrautextrakt wirken angenehm beruhigend und können bereits vor Reiseantritt eingenommen werden.

Setzt die Flugangst bereits Tage vor der Reise ein, kann ein entsprechendes Coaching helfen. Beim zweitägigen »Seminar für entspanntes Fliegen« beispielsweise, das die Deutsche Lufthansa anbietet, lernen die Teilnehmer mit ihrer Angst umzugehen. Ziel ist es, dass sie durch gezielte Informationen das Fluggeschehen realistischer einschätzen. Dazu zählen Details über technische Gegebenheiten des Fluges, die Mehrfachabsicherung der Flugzeuge sowie über die Ausbildung und regelmäßige Schulung der Piloten. Sinnvoll ist es auch, Entspannungsmethoden zu erlernen, zum Beispiel die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson. /

E-Mail-Adresse der Verfasserin
redaktion.poth(at)arcor.de