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Selbstmedikation

Stress, lass nach

16.03.2018  14:34 Uhr

Von Ulrike Viegener / Die Nachfrage nach Präparaten zur Behandlung stressbedingter Beschwerden in der Apotheke ist groß. Chronischem Stress ist mit Medikamenten aber meist nicht bei­zukommen. Dafür sollte das Beratungsgespräch in der Apotheke sensibilisieren.

Die Anzahl der Deutschen, die unter Stress leiden, steigt und steigt. Und was vielleicht noch alarmierender ist: Die Gestressten werden immer jünger. Laut Daten des DAK-geförderten Präventionsradars 2017 steht schon jedes zweite Schulkind unter Dauerstress. Knapp 7000 Mädchen und Jungen aus sechs Bundesländern haben an der repräsentativen Studie teilgenommen. 43 Prozent von ihnen gaben an, oft oder sehr oft gestresst zu sein. In der fünften und sechsten Jahrgangsstufe waren es bereits 35 Prozent, und der Prozentsatz stieg dann mit dem Alter bis auf 51 Prozent an. Die gestressten Schüler aller Altersklassen litten zwei- bis dreimal häufiger als ihre nicht gestress­ten Klassenkameraden unter Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen, Schlafstörungen und Schwindel.

Schuld am Stress in der Schule sind meist hohe Leistungsanforderungen. Aber es gibt noch weitere Gründe, allen voran Mobbing. Etwa ein Fünftel der befragten Schüler berichtete, im vergangenen halben Jahr Opfer von Gewalt­ gewesen zu sein. Sie waren von Mitschülern geschlagen, getreten oder beraubt worden.

Stress macht krank

Dass Stress und der Griff zu Drogen oder Medikamenten eng assoziiert sind, gilt als relativ sicher. Es gibt zum Beispiel belastbare Daten, dass viele Studenten Psychopharmaka schlucken, weil sie glauben, sonst dem Stress nicht gewachsen zu sein. Laut Daten der Techniker Krankenkasse (TK) ist bei den Studenten der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch­ an Psychopharmaka zwischen 2006 und 2010 um 55 Prozent angestiegen. Besonders auffällig war der Konsum von Antidepressiva. Im genannten Zeitraum schnellten die Verordnungszahlen um 40 Prozent in die Höhe.

Im Berufsleben hört der Stress na­türlich nicht auf. Die Krankenkassen verzeichnen seit vielen Jahren einen Anstieg stressbedingter Krankmeldungen. Laut der 2016 veröffentlichten TK-Stressstudie fühlen sich zwei Drittel ­aller deutschen Erwachsenen gestresst. Viele leiden unter Dauerstress und können auch am Wochenende nicht abschalten. Und das kann de­finitiv krank machen: Mit Muskelverspannungen und Rückenschmerzen hatten 64 Prozent der Befragten mit hohem Stresspegel zu tun. Über Erschöpf­ung und Ausgebranntsein berichteten 49 Prozent. Schlafstörungen, Kopfschmerzen/Migräne sowie Nervosität/Gereiztheit traten mit einer Häufigkeit von jeweils rund 40 Prozent auf. 20 beziehungsweise 14 Prozent der Stark-Gestressten hatten depressive Verstimmungen oder Angstzustände.

Auch bei den Berufstätigen ist der Griff zum Medikament keine Seltenheit, wie eine Analyse der Daten von 2,6 Millionen DAK-Versicherten dokumentiert. Psychopharmaka, aber auch Betablocker und Methylphenidat werden zur Stressbekämpfung ange­wendet. Es ist oft gängige Praxis, vor allem bei Männern, vor einem wich­tigen Meeting oder einer Präsentation eine Tablette als Dopingmittel ein­zuwerfen. Frauen dagegen wenden Psycho­pharmaka eher an, um Nervo­sität und Ängste zu bekämpfen.

Es wäre jedoch falsch, die Stress­problematik allein mit dem Beruf zu assoziieren. Und es ist keineswegs ausschließlich Druck von außen, der Stress erzeugt. Stress ist häufig »haus­gemacht«, das heißt, viele Menschen setzen sich selbst unter Druck – auch im Privatleben. Ständig »in action« und gefragt zu sein, das gilt heutzutage als erstrebenswert. Ein typisches Szenario: morgens zum Job, dann schnell die Kinder­ abholen, Mittag essen, Hausaufgaben kontrollieren, und dann zum Reiten oder zum Ballett. Groß und Klein sind ständig auf Achse. Wie die TK-Stressstudie zeigt, empfinden viele gerade den Spagat zwischen Karriere und Familie als besonders stressig, aber ­einen Gang runterzuschalten, das schaffen sie nicht.

Chancen nutzen

Gestresste Menschen neigen dazu, erst einen Arzt aufzusuchen, »wenn gar nichts mehr geht«. Erste Anlaufstelle ist häufig die Apotheke. Viele Stress­geplagte versuchen lange Zeit, sich mit OTC-Präparaten über Wasser zu halten. Wenn jemand nach einem Mittel gegen Stressbeschwerden fragt, sollten Apotheker und PTA erst einmal erfragen, wie lange die Symptome schon be­stehen. Zeichnet sich ab, dass der Betroffene unter chronischem Stress leidet, sollte er im Beratungsgespräch motiviert werden, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Medikamente – das sollte klar sein, sind auf Dauer keine Lösung.

Menschen, die unter chronischem Stress leiden, müssen aktiv werden. Den Chef kann man nicht ändern, wenn er etwa zu viel verlangt oder den Konkurrenzkampf unter Kollegen schürt. Man kann nur lernen, anders damit umzugehen. Selbstbewusst der eigenen Stimme folgen und sich nicht von anderen diktieren zu lassen, was man zu tun und zu lassen hat, das ist ein wichtiger Schritt beim Abbau von Stress. Wer sich traut, auch mal »nein« zu sagen, wird deswegen nicht gleich seinen Job verlieren. Der eigene ­Umgang mit Stress ist der Dreh- und Angelpunkt, dafür sollten chronisch ­gestresste Menschen im Beratungs­gespräch sensibilisiert werden.

Eine Selbstmedikation ohne vorigen Arztbesuch ist bei Anzeichen von chroni­schem Stress möglichst zu vermeiden. Es ist zu befürchten, dass das Problem weiter verschleppt wird. Anders­ sieht es aus, wenn jemand wegen­ akutem Stress oder wegen einer bevorstehenden Stresssituation nach einem Arzneimittel fragt. Bei Prüfungsangst oder Lampenfieber zum Beispiel scheint eine kurzfristige Selbstmedi­kation vertretbar.

Positive Monographie

In der Selbstmedikation kommen in erster Linie pflanzliche Arzneimittel zum Einsatz. Stehen im Rahmen eines Stresssyndroms Müdigkeit und das Gefühl­ des Ausgepowertseins im Vordergrund, ist beispielsweise Rosenwurz eine Option. Die stimulierende Wirkung von Rhodiola rosea wird in der Volksmedizin seit Jahrhunderten genutzt. Inzwischen liegen wissenschaftliche Studien vor, die das Potenzial von standardisiertem Rosenwurz-Extrakt speziell bei stressbedingten Beschwerden untermauern. Die Beurteilung des Therapieerfolgs stützt sich dabei auf die Einschätzung der Patienten, aber auch standardisierte Tests kamen in Untersuchungen zur Anwendung.

Heilpflanze Präparate-Beispiele
Rosenwurz Vitango®, Rhodiolan®
Ginsengwurzel Ginsana® G 115, Ginseng Twardypharm®
Baldrian Baldriparan®, Euvegal Balance®, Sedonium®
Passionsblume Lioran®, Pascoflair®, Kytta-Sedativum® für den Tag
Kombination Baldrian, Hopfen Allunapret®, Luvased®
Kombination Baldrian, Melisse, Hopfen Sedacur®
Kombination Baldrian, Passionsblume, Hopfen Kytta® Sedativum
Johanniskraut Jarsin®, Laif® 900 Balance, Neuroplant®
Kombination Johanniskraut, Baldrian Sedariston®
Kombination Johanniskraut, Baldrian, Passionsblume Neurapas®
Lavendel Lasea®

Unter dem Rosenwurz-Spezial­extrakt WS® 1375 (Vitango®) ließen meist innerhalb weniger Tage Müdigkeit und Erschöpfung nach, und die Konzentrationsfähigkeit nahm zu. Gleichzeitig berichteten die Probanden über eine beruhigende Wirkung des Rosenwurz-Extrakts. Die Verträglichkeit des Phytopharmakons gilt als sehr gut. Auch das Präparat Rhodiolan®, das in Deutschland zunächst als Nahrungsergänzungsmittel eingeführt wurde, steht seit Herbst 2016 als Arzneimittel zur Behandlung von Stressbeschwerden zur Verfügung. Vorausgegangen war eine Einstufung als traditionelles Arzneimittel durch den Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) der Europäischen Arzneimittelagentur EMA.

Man geht davon aus, dass die Inhaltsstoffe der Rosenwurz die Anpassungsfähigkeit des Organismus an Stressbelastungen verbessern, indem sie einen harmonisierenden Einfluss auf relevante neuroendokrine Systeme ausüben. Man spricht deshalb von einer adaptogenen Wirkung. Bei chronischem Stress verliert der Körper seine Fähigkeit zur Selbstregulation. Die HPA- Achse (Hypothalamus-Hypophysen- Nebennierenrinden-Achse) bleibt in einem erhöhten Aktivitätsmodus, was dauerhaft erhöhte Spiegel des Stresshormons Cortisol zur Folge hat. Und auch die Catecholamine Noradrenalin und Adrenalin geraten aus der Balance.

Der Ginsengwurzel, die in der traditionellen chinesischen Medizin seit 2000 Jahren genutzt wird, wird ebenfalls eine adaptogene Wirkung zugeschrieben. Der HMPC hat Ginsengwurzel ebenfalls als traditionelles pflanzliches Arzneimittel eingestuft. Die Kommission E des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) empfiehlt Ginseng als Tonikum bei Ermüdungserscheinungen und Schwächegefühl, bei nachlassender Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit sowie in der Rekonvaleszenz. Auch die Abwehrkräfte lassen sich nachweislich durch Ginseng stimulieren.

Die wirksamen Inhaltsstoffe, die in keiner anderen Pflanze vorkommen, zählen zu den Saponinen. Im Handel sind verschiedene Darreichungsformen, deren Gehalt an den Ginsenosiden Rg1 und Rb1 laut der Monographie des Europäischen Arzneibuches mindestens 0,4 Prozent betragen sollte. Die Tagesdosis liegt bei 1 bis 2 g Droge beziehungsweise bei mindestens 10 mg Ginsenosiden im Extrakt. Empfehlenswert sind Monopräparate, ­beispielsweise Ginsana® G 115 oder ­Ginseng Twardypharm®. Wegen vermuteter hormonartiger Effekte rät die Kommission E, die Einnahmedauer zunächst auf drei Monate zu begrenzen und dann zu pausieren.

Hoch genug dosiert

Steht stressbedingte Nervosität, eventuell begleitet von Schlafstörungen, im Vordergrund, lässt sich die beruhigende Wirkung von Baldrian, Hopfen, Passionsblume und/oder Melisse nutzen. Alle Heilpflanzen sind gut untersucht und haben positive Empfehlungen des HMPC. Grundsätzlich gilt bei An­wendung dieser Phytos: Sie müssen ausreichend hoch dosiert werden.

Bei stressbedingten depressiven ­Verstimmungen ist Johanniskraut das ­Mittel der ersten Wahl. Wichtig ist hier, das Interaktionspotenzial des Johanniskrauts zu beachten, unter anderem mit Phenprocoumon, oralen Kontrazeptiva, trizyklischen Antidepressiva, Ciclosporin, Theophyllin und Digoxin. Bis Johanniskrautextrakt optimal wirkt, dauert es außerdem zwei bis vier Wochen. Ebenfalls gut untersucht ist die Wirkung von Lavendelöl, das bei Unruhezuständen und bei ängstlicher Verstimmung bei Erwachsenen eingesetzt wird.

Inwieweit eine Supplementierung mit ausgewählten Mikronährstoffen bei Stress sinnvoll ist, bleibt Diskussions­gegenstand. Nahrungs­er­gänzungsmittel mit Vitaminen und Mineralstoffen sollen die Vitalität bei Stresszuständen steigern, so die These. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Studie zum Einfluss von Magnesium auf die Herzratenvariabilität. Diese ist Ausdruck der Fähigkeit des Herzens, das Intervall zwischen zwei Kontraktionen belastungsabhängig zu verändern. Bei chronischem Stress ­verringert sich diese Variabilität – ein Phänomen, das zur Objektivierung von Stresszuständen genutzt wird. Unter täglicher Einnahme von Magnesium (zum Beispiel Biolectra® Magnesium 400 mg ultra Direct) verbesserte sich die Herzratenvariabilität deutlich. Ob dies bedeutet, dass Stressgeplagte von einer Supplementierung mit Magne­sium profitieren, müssen Studien aber noch überprüfen. /