Im Dialog mit Schmerzpatienten |
23.03.2015 10:53 Uhr |
Von Christiane Berg, Hamburg / Die professionelle Beratung von Schmerzpatienten stand im Fokus des traditionellen, nunmehr 9. PTA-Praxisworkshops der Apothekerkammer Schleswig-Holstein am winterlichen Wittensee im Herzen von Schleswig-Holstein.
An zwei Kongresstagen schilderten fünf Referenten nicht nur die Grundprinzipien der Schmerzentstehung und -therapie. Sie erläuterten zudem Gesprächsführungstechniken und Zusatzkenntnisse, mit deren Hilfe es gelingen kann, Betroffenen den Weg aus dem Schmerz zu weisen.
Die Apotheke muss sich als kompetenter Ansprechpartner für hilfesuchende Menschen profilieren: Kammerpräsident Gerd Ehmen und Jutta Clement, Leiterin der Akademie für Fortbildung und Qualitätssicherung
Es besteht Handlungsbedarf
Ob Rx oder OTC: Zu den Aufgaben der Apotheke gehöre es, Schmerzpatienten so zu begleiten, dass der Anwendungserfolg der medikamentösen Therapie weitestgehend gesichert ist, aber möglichst auch die Lebensqualität der Betroffenen, meinte Hartmut Brandt, Starnberg. Mit rund 15 Millionen Patienten seien Schmerzerkrankungen in Deutschland kein Randproblem, so Brandt. Die Betroffenen berichten nicht nur über körperliche, sondern auch psychische und soziale Auswirkungen ihrer Krankheit. Viele schildern Gefühle der Angst und Hilflosigkeit und entwickeln eine Depression.
Allein 22 Prozent der Frauen und 16 Prozent der Männer leiden an chronischen Rückenschmerzen, 38 Prozent an »Nerven«-, also neuropathischen Schmerzen, informierte der Referent. 54 Millionen sind regelmäßig von Kopfschmerzen, davon 6 Prozent von Migräne und 3 Prozent von chronischen Spannungskopfschmerzen geplagt. »Über das Jahr gerechnet haben 67 Prozent der Bevölkerung eine Kopfschmerzepisode, die länger als zwei Tage dauert. 2,4 Millionen Menschen haben täglich Kopfschmerzen«, sagte Brandt.
2 Prozent der Bevölkerung leiden an chronisch-entzündlichen rheumatischen Systemerkrankungen und damit verbundenen Beschwerden. 8,5 Millionen Erwachsene sind von Arthrose betroffen. Davon klagen 30 Prozent über Knie-, 25 Prozent über Schulter- und 21 Prozent über Handschmerzen. Auch 60 Prozent der Tumorpatienten berichten täglich über Schmerzen.
Optionen schildern
Was ist Schmerz? Welche Ursachen liegen ihm zugrunde? Warum nehmen Patienten ihn so unterschiedlich wahr? Gibt es ein Schmerzgedächtnis und wenn ja, wie wird es gebildet? Wie wirken welche Analgetika? Gibt es begleitende Therapieempfehlungen? PTA und Apotheker müssen die Patienten nicht nur über die Grundprinzipien der Schmerzwahrnehmung, sondern auch über die Möglichkeiten und Grenzen der Therapie informieren, forderte Brandt. Sinnvoll sei es, ihnen im Beratungsgespräch weitere Handlungsoptionen wie Entspannungstechniken zu nennen oder den Kontakt zu Selbsthilfegruppen zu vermitteln.
Circa 80 PTA kamen zum 9. PTA-Praxisworkshop der Apothekerkammer Schleswig-Holstein in Bünsdorf, um sich über professionelle Möglichkeiten der Begleitung von Schmerzpatienten zu informieren.
Fotos: AK Schleswig-Holstein
Durchaus hilfreich könne es sein, im Gespräch auch darauf hinzuweisen, wie stark Angst und Wut sowie Religion, Erziehung, Geschlecht und Stimmung die Schmerzwahrnehmung beeinflussen. Eventuell ziehe der Patient dann neben der medikamentösen Schmerzbehandlung auch psychosomatische Therapiekonzepte in Erwägung. »Nicht die Schmerzen selbst, sondern das Gefühl, keinen Einfluss auf sie zu haben, ist für die Betroffenen am schlimmsten«, zitierte der Referent einen Schmerztherapeuten.
Oberste Regel im Umgang mit Schmerzpatienten sei es, diese stets ernstzunehmen. »Nehmen Sie sich Zeit. Hören Sie aktiv zu, denn zuhören ist Zuwendung. Akzeptieren Sie den Umgang des Patienten mit seinem Schmerz, aber fördern Sie vor allem seine Souveränität und zeigen Sie dabei die Gefahren sowohl von Bagatellisierung als auch von Katastrophisierung auf«, appellierte Brandt an das Auditorium.
Der Referent warnte davor, dass sich weder PTA noch Apotheker »überverantwortlich« fühlen. »Nehmen Sie nicht die Rolle des Retters an. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Aufgabe, die pharmazeutische Betreuung, und akzeptieren Sie Ihre eigenen Grenzen: Sie sind in letzter Konsequenz nicht zuständig für das Tun eines anderen.«
Risikofaktoren nennen
Während der akute Schmerz eine Schutzfunktion für den Körper hat, ist der chronische Schmerz eine eigenständige Erkrankung, bei der die Warnfunktion verloren gegangen ist. Noch schlimmer: Der chronische Schmerz führt ein Eigenleben, da er sich von der ursächlichen Gewebetraumatisierung abgekoppelt hat. Das betonte in einem weiteren Vortrag Matthias Bastigkeit, Geschendorf.
Patienten muss im Beratungsgespräch ein umfassendes Verständnis für ihre Beschwerden vermittelt werden, so der Fachdozent für Pharmakologie. Nur so können diese Zusammenhänge zwischen Ursachen, Chronifizierungsfaktoren und Ausprägungsart der Schmerzen erkennen.
Detailliert erläuterte Bastigkeit unter anderem die pathophysiologischen Mechanismen der Entstehung des Schmerzgedächtnisses. Zunächst leiten Nerven aufgrund mechanischer, physikalischer oder thermischer Reize Schmerzsignale aus der Peripherie ins ZNS weiter. Das führt dazu, dass sich die dafür zuständigen Natrium- und Kaliumkanäle verändern, vermehren und die Schmerzempfindung zunimmt. Dadurch wiederum verändert sich die neuronale Plastizität zuständiger Hirnregionen.
Bastigkeit betonte, dass die rechtzeitige und ausreichende Gabe von Schmerzmitteln gemäß Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation WHO die Entstehung des Schmerzgedächtnisses verhindern kann.
Dieses Schema umfasse sowohl starke Opioide wie Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Fentanyl oder Methadon als auch schwache Opioide wie Codein, Tramadol, Tilidin/Naloxon, Nicht-Opioide wie ASS, Ibuprofen, Diclofenac oder Paracetamol sowie sogenannte Co-Analgetika wie Antidepressiva, Antikonvulsiva (Pregabalin), Bisphosphonate, Spasmolytika, periphere Muskelrelaxantien (Flupirtin) und Cortison.
Alternativen schildern
Indem Co-Analgetika die Wirkung von Analgetika unterstützen, helfen sie, diese einzusparen, so Bastigkeit. Sie werden bedarfsgerecht auf jeder Stufe des WHO-Stufenschemas eingesetzt. Dabei komme Flupirtin besondere Bedeutung zu, informierte der Pharmakologe.
Flupirtin lindere Schmerzen, wirke muskelrelaxierend und neuroprotektiv und sorge dafür, dass sich die Kaliumkanäle der Neurone öffnen und Kalium ausströmen kann. Das Ruhepotenzial der Nervenzellen werde so stabilisiert. Sogenannte NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptoren werden herunterreguliert und das Schmerzgedächtnis somit außer Gefecht gesetzt. Flupirtin verordnen Ärzte vorrangig Patienten mit schmerzhaften Muskelverspannungen und Rückenschmerzen, so Bastigkeit. Wegen der Lebertoxizität ist die Anwendung jedoch eingeschränkt.
Wissen vermitteln und Verständnis aufbringen: Matthias Bastigkeit
Der Einsatz des Co-Analgetikums Pregabalin hingegen habe sich insbesondere bei Patienten mit Trigeminusneuralgie, Clusterkopfschmerz, Restless-Legs-Syndrom sowie Neuropathien bewährt. Der Arzneistoff reduziert den Calciumeinstrom in die Nervenzelle und mindert dadurch die Freisetzung von Glutamat und Substanz P, zwei für die Schmerzverarbeitung wichtige Botenstoffe.
Trizyklische Antidepressiva (TZA) werden unter anderem bei Patienten mit Diabetischer Polyneuropathie und Fibromyalgie empfohlen, ergänzte der Referent. Unabhängig vom antidepressiven Effekt vermindere die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin die Schmerzleitung im Rückenmark. Die dafür erforderliche Dosis liegt unterhalb der antidepressiven Wirkung.
Bastigkeit empfiehlt als physikalisches »Alternativ-Verfahren« die hochfrequente Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS). Die Reizung schnell leitender A-ß-Fasern peripherer Nerven aktiviert im Hinterhorn des Rückenmarks inhibitorische Mechanismen und lindert somit Schmerzen.
Erfolgreich werde TENS bei Patienten mit Spannungskopfschmerz, Trigeminusneuralgie, Schulter-Arm-Schmerzen, Kreuz-, Hüft- und Lendenwirbelschmerzen oder Postzosterneuralgie eingesetzt. Zwar sei der therapeutische Effekt individuell nicht vorhersehbar. Doch berichten 30 bis 75 Prozent der Betroffenen über Linderung.
Eine weitere sinnvolle Alternative bei Spannungskopfschmerz sei unter anderem Pfefferminzöl in ethanolischer Lösung. Die Wirkstoffe, zum Beispiel Menthol, blockieren spannungsabhängie Calciumkanäle und somit die langsam leitenden Nervenfasern im Rückenmark. /