PTA-Forum online
Harninkontinenz

Raus aus dem Tabu!

11.04.2016  09:51 Uhr

Von Ulrike Viegener / Unter Harninkontinenz leiden zwar viele Menschen, dennoch versuchen die meisten, ihr Problem zu verheimlichen. Gezielte Aufklärung in der Apotheke trägt viel dazu bei, dass die Erkrankten die guten Therapiemöglichkeiten auch wirklich nutzen.

Niesen und Husten sind typische Situationen, in denen ein schwacher Blasenmuskel seinen Dienst verweigert und die Blase Urin abgibt – manchmal nur ein paar Tropfen, manchmal aber auch mehr. Urologen sprechen in diesem Fall von Belastungsinkontinenz. Bei leichten Formen verlieren die Betroffenen unter körperlicher Anstrengung unkontrolliert Harn, wobei ein herzhaftes Lachen mitunter als Auslöser ausreicht. Bei schweren Formen tritt die Belastungsinkontinenz auch in Ruhe auf. Betroffen sind vor allem Frauen im mittleren und höheren Alter.

Bei jeder kontrollierten Blasenentleerung spielen Blasenmuskel (Detrusor), Blasenschließmuskel (Sphinkter) und Beckenbodenmuskulatur zusammen. Während sich die Blase füllt, ist der Detrusor entspannt. Gleichzeitig sorgt die Spannung von Sphinkter und Beckenbodenmuskulatur dafür, dass die Blase nicht aus- beziehungsweise überläuft. Zur kontrollierten Blasenentleerung zieht sich der Detrusor zusammen, und Sphinkter sowie Beckenboden entspannen sich (siehe auch Grafik).

Mit zunehmendem Alter lässt die Spannkraft des Beckenbodens jedoch nach. Dies führt nicht selten zu einer Belastungsinkontinenz. Auch eine Lage­veränderung der Beckenorgane spielt dabei eventuell eine Rolle. Der Funktionsverlust der Beckenbodenmuskulatur ist unter anderem auf die nachlassende Estrogenproduktion in den Wechseljahren zurückzuführen. Oft sind angeborene Bindegewebsschwäche, Übergewicht und Schwangerschaften als zusätzliche Risikofak­toren beteiligt. Bei Männern dagegen tritt eine Belastungsinkontinenz in erster Linie nach Prostataoperationen auf.

Husten und Verstopfung

Und es gibt zwei weitere Faktoren, die – was oft nicht bedacht wird – das Risiko einer Belastungsinkontinenz erhöhen: chronischer Husten und chronische Verstopfung. Beim Husten wird der Beckenboden kurzfristig einem hohen Druck ausgesetzt, und das kann, zum Beispiel beim Raucherhusten, auf Dauer Bindegewebe und Muskeln schwächen. Denselben Effekt hat der Pressdruck bei chronischer Verstopfung, der die Beschwerden einer Harninkontinenz deutlich verschärfen kann. Deshalb gehört die Frage nach der Häufigkeit des Stuhlgangs immer zur Abklärung der individuellen Risikofaktoren. Liegt eine Verstopfung vor, muss diese behandelt werden.

Ursache oft unklar

Von der Belastungsinkontinenz zu unterscheiden ist die Dranginkontinenz: Hierbei tritt der Harndrang ohne äußere Auslöser plötzlich und unkontrollierbar auf. Oft entleert sich die Blase ohne Vorwarnung mit einem Schwall, und auch die Frequenz kontrollierter Blasenentleerungen ist häufig erhöht. Bei manchen Betroffenen stellt sich der Harndrang alle halbe Stunde ein, was ihr Alltagsleben zusätzlich beeinträchtigt. Blaseninfektionen, Blasentumoren und Nervenerkrankungen wie Multiple Sklerose sind mögliche Ursachen einer Dranginkontinenz. Sehr häufig jedoch kann ein Arzt bei Patienten mit einer überaktiven Reizblase keinen objektiven Befund erheben.

Für Überlaufinkontinenz schließlich ist tröpfelnder Harnabgang charakteristisch. Ursächlich ist die Verengung der Harnröhre. Dies hat zur Folge, dass sich der Urin staut und die Blasenwand überdehnt wird. Irgendwann wird der Blaseninnendruck so groß, dass er den Engpass überwindet und den Urin tröpfchenweise austreten lässt. Typisches Beispiel ist die Überlaufinkon­tinenz bei Männern mit vergrößerter Prostata.

Diskretes Gespräch

Angesichts der hohen Dunkelziffer ist es schwierig, genaue Angaben zur Häufigkeit der Harninkontinenz zu machen. Nach Angaben des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) benötigen rund 1,5 Millionen Versicherte regelmäßig aufsaugende Inkontinenzmittel. Die Deutsche Gesellschaft für Urologie geht in Deutschland von rund 6 Millionen Betroffenen aus. Aus Scham verschweigen viele ihr Problem, obwohl sie sehr darunter leiden. Die Angst, andere Menschen könnten etwas bemerken, führt nicht selten dazu, dass die Betroffenen ihre sozialen Kontakte einschränken.

Viele wissen nicht, dass es effektive Behandlungsmöglichkeiten und ein breites Angebot an Hilfsmitteln gibt. Hier sind PTA und Apotheker gefragt: Wenn sich in der Beratung der Verdacht auf Harninkontinenz ergibt, sollten sie – mit viel Finger­spitzen­gefühl – nachhaken. Idealerweise besteht in der Apotheke die Möglichkeit, das Gespräch über ein derart sensibles Themen diskret ohne Zuhörer zu führen.

Ziel des Beratungsgesprächs ist es, Menschen mit Harninkontinenz davon zu überzeugen, dass sie nur davon profieren, wenn sie mit PTA oder Apotheker offen über ihr Handicap sprechen. Da sich viele Betroffene isoliert fühlen, sind sie oft erleichtert, wenn sie erfahren, dass es Millionen von Menschen ebenso geht. Diese Information ist ein guter Türöffner, und mit einer geschickten Gesprächsführung gelingt es häufig, die Betroffenen zum Arzt­besuch zu bewegen. Denn die exakte Diagnostik beim Arzt ist die Basis einer differenzierten Therapie.

Medikamente als Auslöser?

Ein wichtiger Aspekt bei der Diagnose ist die Medikamentenanamnese. Manche Arzneimittel stimulieren den Blasenmuskel, beispielsweise Beta-Blocker, ACE- sowie Cholinesterase-Hemmer, und kommen somit als mögliche Auslöser einer Reizblase in Frage. Dagegen führen Benzodiazepine und Alpha-Blocker zur Erschlaffung der Blasenmuskulatur. Des Weiteren spielen auch harntreibende Medikamente mög­licherweise bei Menschen mit Inkon­tinenz eine Rolle.

Die therapeutischen Strategien bei Belastungs- beziehungsweise Drang­inkontinenz sind unterschiedlich, wobei Ärzte dabei auch Mischformen der Inkontinenz berücksichtigen. Frauen mit Belastungsinkontinenz sollten gezielt Beckenbodentraining durchführen (siehe Kasten). Das Training bietet sich bei stark Übergewichtigen zudem als präventive Maßnahme an. Übergewichtige Frauen mit bereits bestehender Harninkontinenz sollten unbedingt abnehmen, da sich die Beschwerden dadurch oft deutlich bessern. Auch bei Männern hat sich gezieltes Becken­bodentraining als wirksam erwiesen. Sie sollten die Übungen nach einer Prostataentfernung möglichst früh erlernen, um eine Belastungsinkontinenz zu bessern beziehungsweise zu ver­hindern.

Beckenboden trainieren

Das Beckenbodentraining bei Belastungsinkontinenz sollte unbedingt unter Anleitung eines qualifizierten Physiotherapeuten erfolgen. Dann lässt sich die Beckenbodenmuskulatur oft so weit stärken, dass sich die Inkontinenzbeschwerden deutlich bessern oder sogar ganz verschwinden. Voraussetzung ist die langfristige und regelmäßige Anwendung der Übungen, kurzfristiges Training bringt dagegen keinen dauerhaften Erfolg.

Ergänzend zum Beckenbodentraining ist eine medikamentöse Behandlung mit dem Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Duloxetin zu erwägen. Dieser Wirkstoff aus der Gruppe der Antidepressiva ist zur Behandlung der Belastungsinkontinenz zugelassen. In diesem Fall steigern Ärzte langsam die Dosierung, um unerwünschte Wirkungen möglichst zu vermeiden. Bei Frauen in beziehungsweise nach der Menopause ist zudem die lokale Estrogentherapie mit Scheidenzäpfchen oder Scheidencremes geeignet, die Beschwerden einer Belastungsinkontinenz zu bessern.

Reizblase besänftigen

Bei Dranginkontinenz sind Anticholinergika die Mittel der ersten Wahl. Ist eine Grunderkrankung für die Beschwerden verantwortlich, muss diese möglichst kausal behandelt werden. Bei unklarer Ursache erfolgt eine Therapie der Symptome mit dem Ziel, die Überaktivität der Blasenmuskulatur zu dämpfen. Dazu stehen dem Arzt verschiedene orale Anticholinergika zur Verfügung. Den Wirkstoff Oxybutynin kann er außerdem als transdermales System einsetzen.

Vor einer abschließenden Beurteilung des Therapieerfolgs sollte der Patient das ausgewählte Anticholinergikum einige Wochen lang konsequent eingenommen beziehungsweise angewendet haben. Sollte die Wirkung nach diesem Zeitraum unzureichend sein, ist es sinnvoll, dem Patienten ein anderes Präparat aus dieser Wirkstoffgruppe zu verordnen. Als Nebenwirkungen der Anticholinergika stehen Mundtrockenheit und Verstopfung im Vordergrund. Lässt sich die Obstipation nicht durch andere Maßnahmen beseitigen, wechselt der Arzt meist das Präparat.

Blase trainieren

Bei Dranginkontinenz ist das Training der überaktiven Blase hilfreich. Ziel ist es, dem Drang zu widerstehen und die Blase an die regelmäßige Entleerung zu gewöhnen. Auf Basis eines Miktionsprotokolls werden die Trinkmengen so angepasst, dass die Betroffenen feste Zeiten für die Blasenentleerung einhalten können. Allerdings dürfen sie auch nicht zu wenig trinken und sollten auf Reizstoffe wie scharfe Gewürze und Kaffee möglichst verzichten.

Nicht nur gegen Falten

Eine weitere medikamentöse Option bei Dranginkontinenz ist Mirabegron, ein Beta-3-Adrenozeptor-Agonist. Dieser Arzneistoff ist sowohl als Monotherapeutikum und auch in Kombination mit einem Anticholinergikum zugelassen. Und für hartnäckige Fälle gibt es Botulinumtoxin. Der Wirkstoff, der sich als Anti-Falten-Mittel großer Beliebtheit erfreut, wird bei Dranginkontinenz unter Lokalnarkose direkt in den überaktiven Blasenmuskel gespritzt. So lässt sich die Dranginkontinenz häufig für mehrere Monate beseitigen. Allerdings ist nach sechs bis zwölf Monaten in der Regel eine erneute Injektion erforderlich.

Der Nachteil dieser Behandlung ist eine eventuell überschießende Wirkung von Botulinumtoxin mit der Folge, dass eine vollständige Blasenentleerung unmöglich wird. Dieser unerwünschte Effekt lässt ebenso wie die erwünschte Wirkung mit der Zeit nach.Vorübergehend ist aber eventuell ein Katheter erforderlich, um den Harn auszuleiten.

Spezielle Hilfsmittel

Ein wichtiger Aspekt beim Beratungsgespräch zum Thema »Harninkontinenz« sind spezielle Slipeinlagen und andere Hilfsmittel. Viele Betroffene sind nicht über das große Produktangebot informiert und behelfen sich oft zum Beispiel mit Menstruationsbinden, die für diesen Zweck nicht optimal geeignet sind. Neben Slipeinlagen unterschiedlicher Saugstärke gibt es für Harninkontinente spezielle Slips und für Männer Kondomurinale. Diese Hilfsmittel binden den Urin geruchsneutral, halten die Haut weitgehend trocken und sind in aller Regel unauffällig zu tragen. In Abhängigkeit vom Schweregrad der Inkontinenz übernehmen die Krankenkassen die Kosten. /