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Tics und Tourette-Syndrom

Selbstkontrolle verloren

11.04.2016  09:51 Uhr

Von Barbara Erbe / »Einen Tic(k) haben«, das kann umgangs­sprachlich vieles bezeichnen – eine besondere Art, sich durch die Haare zu fahren, ebenso wie den Drang zu ständigem Räuspern oder Zucken. Neuropsychiater beschreiben den Begriff als eine unwillkürliche, zweckfreie Bewegung oder Lautäußerung, die immer wiederkehrt. Mehrere dauerhafte Tics können ein Tourette-Syndrom bilden.

Manchmal steht jemand, der regel­mäßig mit den Augen zwinkert, den Mundwinkel verzieht, die Nase rümpft oder immer wieder bestimmte Worte wiederholt, einfach unter Stress – schließlich sind die Arten, wie Menschen Spannungen abbauen, sehr verschieden. Vor allem bei Kindern sind kurzzeitige Tics harmlos und verschwinden schnell wieder von selbst, berichtet Hildegard Goletz, Dipl. Psychologin und Leiterin der Schwerpunkt­ambulanz für Angst-, Zwangs- und Tic-Störungen der Universitätsklinik Köln. Selten entwickeln Kinder oder Jugendliche jedoch mehrere, ein Jahr und länger dauernde Tics.

Gehören dazu mehrere motorische und mindestens ein vokaler Tic, sprechen Fachleute von einem Tourette-Syndrom oder TS, benannt nach dem französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette (1857–1904). Der Mediziner hatte im Jahr 1885 als Erster eine Studie über Tic-Erkrankungen veröffentlicht.

Die Beschreibung eines Tics als »unwillkürlich« führt indes manchmal zu Missverständnissen. Denn die meisten Betroffenen haben durchaus eine Vorahnung und können ihre Symptome in gewissem Maß kontrollieren. »Allerdings ist diese Eigenkontrolle, die für Sekunden bis Stunden anhalten kann, meist nur ein zeitliches Hinausschieben schwerer ›Tic-Entladungen‹«, erläutert Goletz. Meist ist der Drang so stark, dass schließlich die Muskelzuckung oder die Lautäußerung doch stattfinden muss – vergleichbar mit dem Drang zu Niesen oder zu einem Schluckauf. »Menschen mit Tourette-Syndrom suchen oft eine geschützte Umgebung, um ihren Symptomen freien Lauf zu lassen, nachdem sie versucht haben, sie bei der Arbeit oder in der Schule nicht zeigen zu müssen«, berichtet die Psychologin. Bei Ärger oder freudiger Erregung, Anspannung oder Stress nehmen Tics zu, in entspanntem Zustand oder bei Konzen­tration auf eine interessante Aufgabe eher ab.

Ursachen im Stoffwechsel

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass das Tourette-Syndrom in einem gestörten Stoffwechsel des Hirnbotenstoffs Dopamin begründet sein könnte, der für die Weiterleitung von Informationen im Gehirn wichtig ist. Auch andere Neurotransmitter, beispielsweise Serotonin, spielen vermutlich eine Rolle. Nach Informationen der Tourette-Gesellschaft Deutschland e. V. kann TS auch vererbt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Tics entwickelt, wenn ein Elternteil betroffen ist, schätzen Experten auf 5 bis 10 Prozent. Söhne sind drei bis vier Mal häufiger betroffen als Töchter.

»Genaues weiß man aber nicht, da der zugrundeliegende Gendefekt und der Erbgang nicht bekannt sind«, erläutert Prof. Kirsten Müller-Vahl, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie am Zentrum für Seelische Gesundheit der Medi­zinischen Hochschule Hannover.

»Eine pharmako­logische Behandlung ist aber nur angezeigt, wenn die Ticsymptomatik eine hohe Intensität hat, sehr komplex ist und viele Tics beinhaltet«, erläutert Goletz. Noch sel­tener entwickeln sich Tics als Symptom anderer Störungen, beispielsweise infolge einer Gehirnentzündung (Enzephalitis), eines Traumas oder bestimmter neurologischer Erkrankungen. In diesen Fällen handelt es sich um eine sogenannte sekundäre Tic-Störung.

Erste Symptome

Den größten Behandlungsbedarf sieht Müller-Vahl bei Kindern. Die Fachärztin berichtet, dass Tic-Störungen meist zwischen dem sechsten und dem achten Lebensjahr zum ersten Mal auftreten. »Um Kinder davor zu schützen, ausgelacht oder von ihrer Umgebung zurückgewiesen zu werden, aber vor allem um dem Kind eine möglichst günstige Entwicklung zu ermöglichen, ist eine frühe Diagnose und Beratung von Kind und Familie unbedingt anzuraten«, betont die Oberärztin, die auch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Tourette-Gesellschaft Deutschland ist. Im Alter zwischen 15 und 25 Jahren verbessern sich die Symptome bei den meisten Betroffenen deutlich, sodass sie dann gar nicht mehr oder kaum noch stören.

Fehlende Therapieplätze

Die Mehrheit der Menschen mit Tic-Störungen oder TS – beziehungsweise die Eltern betroffener Kinder – möchten diese am liebsten mit einer Verhaltenstherapie behandeln lassen, berichtet Müller-Vahl. »Aber leider reichen die Therapieplätze dafür bei weitem nicht.« Zwar könne ein Verhaltens­therapeut die Zusatzqualifikation, um Tic-Störungen zu behandeln, durchaus im Rahmen eines Wochenendworkshops erlangen. »Aber viele Therapeuten verorten TS leider vor allem im neurologischen Bereich und fühlen sich mit ihrer psychiatrischen Ausbildung der Behandlung nicht gewachsen.«

In der Verhaltenstherapie erlernen die Patienten vor allem, ihre Tics besser in den Alltag zu integrieren und auch zu kontrollieren. Besonders wirksam scheint dabei das sogenannte Habit Rever­sal Training (HRT). Es fußt auf der Vorstellung, dass problematische Verhaltensauffälligkeiten teilweise unbewusst stattfinden und durch ständiges Wiederholen irgendwann automatisch ablaufen. Im Rahmen des HRT schulen die Patienten ihre Selbstwahrnehmung und lernen, automatisierte Verhaltensketten durch andere, weniger störende Handlungen zu unterbrechen.

Darüber hinaus kann eine Verhaltenstherapie seelische Folgen der Erkrankung auffangen, zum Beispiel ein lädiertes Selbstwertgefühl, Unsicherheit im Umgang mit anderen, soziale Phobien, Angststörungen und Depressionen. Verhaltenstherapeuten vermitteln den Patienten häufig auch Entspannungstechniken, sodass sie lernen Stress abzubauen, der die Symptome bei vielen Betroffenen verstärkt. Deshalb rät Müller-Vahl Eltern, die bei ihrem Kind einen Verdacht auf Tics oder Zwänge hegen, sich an einen Arzt oder Psychologen zu wenden: »Je jünger die Kinder sind, desto besser kann man ihnen helfen.« Während nur wenige Menschen mit TS eine Verhaltenstherapie durchlaufen, nehmen die meisten regelmäßig Medikamente – manchmal auch in Kombination mit einer Verhaltenstherapie, erklärt Müller-Vahl. Denn Tics können, müssen aber nicht mit Medikamenten behandelt werden. »Das hängt davon ob, wie stark die Tics sind und ob das Kind unter seinen Tics tatsächlich leidet.«

Off-Label-Medikation

Die meisten dieser Mittel – vor allem Antipsychotika – zielen auf den Dopamin-Stoffwechsel im Gehirn: Dopaminrezeptor-Antagonisten docken an die verschiedenen Dopaminrezeptoren an und blockieren sie. Bei dieser Behandlung steigert der Therapeut die Dosis vorsichtig und langsam, bis sich eine positive Wirkung entfaltet.

Allerdings ist Haloperidol der ein­zige Wirkstoff, der in Deutschland zur Behandlung des Tourette-Syndroms zugelassen ist. Da der Arzneistoff die Patienten jedoch müde macht, sie an Gewicht zunehmen und ihre Sexualfunktion stört, setzen Ärzte ihn meist nur dann ein, wenn andere Medikamente versagen. Diese anderen Mittel gibt es durchaus, allerdings nur »Off Label«, wie Fachärztin Müller-Vahl betont. »Das ist gut zu wissen, zum Beispiel wenn jemand ein Rezept für ein Schizophrenie-Medi­kament einlöst. Es kann immer auch ein Tourette-Syndrom dahinter­stecken.«

Doch auch die Off-Label-Medikamente haben starke Nebenwirkungen, beispielsweise Appetit- und Gewichts­zunahme, Müdigkeit, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Reizbarkeit oder Konzentrationsstörungen. Dazu kommt, dass viele TS-Betroffene neben den Tics noch weitere Verhaltensprobleme wie ADHS, Zwänge, Lernschwierigkeiten oder Schlafstörungen haben oder depressiv sind. »Das bedeutet, dass sie manchmal eine Reihe von Medikamenten nehmen und die Behandelnden immer mögliche Wechselwirkungen im Blick haben müssen.«

Letzte Option

Für schwerstbetroffene erwachsene Patienten, deren Lebensqualität durch das Tourette-Syndrom stark eingeschränkt ist und denen andere Thera­pien nicht ausreichend helfen, kommt eine Tiefenhirnstimulation infrage. Dazu wird ihnen ein Hirnschritt­macher ins Unterhautfettgewebe unter­halb des Schlüsselbeins eingepflanzt, der das Gehirn über Elektroden stimuliert. Bei anderen Erkrankungen, insbesondere bei Parkinson, ist der Eingriff schon vergleichsweise verbreitet. Beim Tourette-Syndrom sind die Fallzahlen und damit die Erfahrung noch relativ gering. »In Hannover hatten wir in den letzten Jahren erst dreizehn solche Operationen, und das, obwohl wir Hunderte von Menschen mit TS behandelt haben«, berichtet Müller-Vahl.

Der Erfolg dieser Behandlung ist sehr unterschiedlich: Bei manchen Patienten verbessern sich die Symptome deutlich, andere spüren jedoch kaum einen Effekt. /

Das Tourette-Syndrom im Film

Annette van Gessel / Menschen mit einer psychischen Störung oder neurologischen Erkrankung zur Haupt­figur eines Films zu machen, stellt den Regisseur vor eine besondere Herausforderung. In der deutschen Film­komödie »Ein Tick anders« leidet die 17-jährige Eva an Tourette-Syndrom. »Meine Ticks machen mich zu einem echten Freak«, erklärt sie gleich zu Beginn des Films. Sie habe »Schluckauf im Gehirn«. Wegen ihrer ständigen Ticks hat sie zwar die Schule abgebrochen, doch fühlt sie sich im Kreis ihrer Familie wohl und fast normal. Als ihre Welt durch den Arbeitsplatzverlust ihres Vaters ins Wanken gerät, spürt sie, wie viel Kraft in ihr steckt. In der Komödie entführt die fantasievolle Eva die Zuschauer mit großer Leichtigkeit in ihre farbenfrohe Welt. Mit viel Fingerspitzengefühl bringt Regisseur Andreas Rogenhagen die Zuschauer zum Lachen, ohne dabei die oft leidvolle Lebenssituation der Betroffenen ins Lächerliche zu ziehen. /