Zittern als Krankheitsbild |
11.04.2016 09:51 Uhr |
Von Carina Steyer / Menschen, die heftig zittern, werden oftmals für Alkoholiker gehalten oder gelten als übermäßig aufgeregt. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um eines der sogenannten Tremor-Syndrome handelt.
Zittern, in der Fachsprache als Tremor bezeichnet, zählt zu den häufigsten neurologischen Krankheitsbildern: Schätzungsweise acht Millionen Europäer sollen betroffen sein. Für die kommenden Jahrzehnte prognostizieren Wissenschaftler steigende Zahlen. Hier sehen sie vor allem einen Zusammenhang zur zunehmenden Lebenserwartung großer Teile der Bevölkerung.
Die Vorstellung, jeder würde im Alter zittern, ist falsch.
Foto: Shutterstock/Tolikoff Photography
Hat das Zittern keine physiologischen Ursachen wie Kälte, steckt meist eines der sogenannten Tremor-Syndrome dahinter. Das kann eine Parkinson-Erkrankung sein, die insbesondere ältere Menschen häufig befürchten. Doch es gibt noch verschiedene andere Tremor-Syndrome, von denen einige gut behandelbar sind.
Von einem Tremor sind meist die Arme, Hände, Beine und manchmal auch der Kopf oder die Stimme betroffen. Mediziner unterscheiden zwischen einem Ruhetremor, der nur bei Entspannung der betroffenen Körperpartie auftritt, und einem Aktionstremor. Dieser setzt ein, wenn der Betroffene einen Gegenstand gegen die Schwerkraft halten möchte, etwa ein Glas bei ausgestrecktem Arm (Haltetremor), ein Ziel mit der Hand ansteuert (Zielbewegungstremor) oder auch bei nicht zielgerichteten Bewegungen (Bewegungstremor). Die Art des Tremors weist zusammen mit der Frequenz und Amplitude der Bewegung auf die Ursache der Erkrankung hin (siehe auch Kasten auf der nächsten Seite).
Essenzieller Tremor
Ist das Zittern kein Symptom einer anderen Erkrankung, sprechen Mediziner von essenziellem Tremor. Diese häufigste Form betrifft in Europa fast sechs Millionen Menschen. Die größte Gruppe leidet unter einem Haltetremor, bei dem ihre Hände mit einer Frequenz von vier bis sechs Hertz (Schwingungen pro Sekunde) zittern. Nur selten sind der Kopf, die Stimme oder die Beine betroffen. Besonders deutlich wird der Tremor im sogenannten Armvorhalteversuch, bei dem die Arme waagerecht nach vorne weggestreckt werden. In schweren Fällen schwingen die Fingerspitzen 15 Zentimeter auf und ab. Viele alltägliche Handlungen, beispielsweise selbst zu essen, sind in diesem Stadium nicht mehr möglich. Aber auch bei kleineren Amplituden sind feinmotorische Aufgaben wie Schreiben, Knöpfe schließen oder das Essen mit Besteck eine tägliche Herausforderung für die Betroffenen. Typisch für diese Tremor-Form ist, dass Alkoholkonsum die Symptome abschwächt.
Bei essenziellem Tremor unterscheiden Mediziner zwischen der juvenilen Form, die zwischen dem 11. und 20. Lebensjahr beginnt, und der senilen Form, mit Beginn zwischen dem 51. und 60. Lebensjahr. Bisher ist unklar, ob es sich dabei um dieselbe Erkrankung handelt. Beide Arten verlaufen schleichend. Während die senile Form schneller voranschreitet, verstärkt sich die juvenile Form über die Lebensjahrzehnte und führt meist erst nach dem 50. Lebensjahr zu einer funktionellen Beeinträchtigung. Dennoch raten Ärzte Betroffenen, keinen Beruf zu ergreifen, der feinmotorische Fertigkeiten erfordert.
Bei 50 Prozent an essenziellem Tremor Erkrankten ist die Familienanamnese positiv. Aus Zwillingsstudien ist bekannt, dass bei eineiigen Zwillingspaaren zu 90 Prozent beide betroffen sind. Zwar konnten Wissenschaftler Variationen im sogenannten LINGO1-Gen als Risikofaktoren identifizieren, die genaue genetische Ursache ist aber noch unbekannt.
Bei etwa der Hälfte der an essenziellem Tremor Erkrankten ist das Zittern genetisch bedingt.
Foto: Shutterstock/Alice Day
Ärzte verordnen Patienten mit essenziellem Tremor in erster Linie Betablocker (wie Propranolol) oder Antikonvulsiva (wie Primidon, Gabapentin oder Clonazepam). Als weitere Therapieoption gilt die lokale Injektion von Botulinum-Toxin.
Intentionstremor
Intentionstremor wird durch eine Erkrankung des Kleinhirns verursacht, hauptsächlich durch Multiple Sklerose. Wann immer der Betroffene eine zielgerichtete Handlung ausführen will, beispielsweise mit der Hand einen Becher greifen oder mit dem Finger die Nase berühren möchte, schwingt die Hand beziehungsweise der Finger umso stärker, je näher das Ziel rückt. Eine effektive medikamentöse Therapie ist derzeit nicht bekannt. Bei einigen Betroffenen bessern Benzodiazepine, Betablocker oder Antikonvulsiva die Symptome.
Der Holmes Tremor kann nach Mittelhirnverletzungen sowohl als Ruhe- als auch als Haltetremor auftreten. Seine Frequenz ist sehr niedrig (unter 4,5 Hertz) und die Amplitude sehr groß. Die Erkrankten können die vom Tremor betroffenen Gliedmaßen meist nicht mehr in ihrer gewohnten Funktion nutzen. Diese Tremorform ist äußerst selten, es existieren lediglich Empfehlungen aus Einzelfallberichten, sodass der Arzt individuell über die Medikation entscheidet.
Orthostatischer Tremor
Die Diagnose des orthostatischen Tremors ist schwierig und erfolgt durchschnittlich erst nach sieben Jahren. Ärzte stufen ihn häufig als psychogenen Tremor ein. Die Betroffenen zittern relativ stark (Frequenz liegt bei 13 bis 18 Hertz). Viele spüren das Zittern gar nicht, sie berichten, nach dem Aufstehen seien die Beine so wackelig, ihr Stand daher unsicher oder ihnen fehle die Balance. Besonders groß ist ihre Angst hinzufallen, ohne dass sie jemals wirklich stürzen.
Orthostatischer Tremor tritt ausschließlich im Stehen auf. Sitzt oder liegt der Betroffene, hat er keine Beschwerden. Wenn sich die Betroffenen im Stehen abstützen, vermindern sie meist den Tremor oder beheben ihn sogar ganz. Einige Betroffene versuchen, die Symptome durch Aufstampfen oder Anlehnen zu mindern. Viele stehen sehr breitbeinig.
Zu Beginn der Erkrankung setzt der Tremor erst Sekunden bis Minuten nach dem Aufstehen ein. Mit Fortschreiten der Erkrankung wird diese Zeitspanne immer kürzer. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer, meist zeigen sich die ersten Symptome um das 60. Lebensjahr.
Am häufigsten verordnen Ärzte Patienten mit orthostatischem Tremor erfolgreich Benzodiazepine. Einige Betroffene profitieren auch von Betablockern oder Antikonvulsiva. Als Ursache vermuten Wissenschaftler einen zentralen Tremorgenerator, dessen Ursprung jedoch bisher nicht lokalisiert werden konnte. Möglich ist auch eine genetische Komponente, da innerhalb einer Familie die gleichen Symptome gehäuft auftreten.
Frequenz
Amplitude
Psychisch bedingtes Zittern
Eine Sonderstellung unter den Tremor-Syndromen nimmt der psychogene Tremor ein. Er tritt plötzlich auf, kann sich spontan zurückbilden und durch Ablenkung des Betroffenen unterbrochen werden. Sind beide Körperhälften betroffen, ist der Takt des Tremors gleich, was ihn von anderen Tremor-Syndromen unterscheidet. Gerade beim psychogenen Tremor ist eine umfassende Diagnostik wichtig, um körperliche Ursachen gänzlich auszuschließen. Trotz Abklärung durch einen Psychiater finden die Fachärzte in vielen Fällen keine Erklärung für die Symptomatik. Dennoch teilen Experten die Ansicht, dass viele Betroffene von einer kognitiven Verhaltenstherapie oder einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie profitieren würden. Allerdings ist nur ein Teil der Betroffenen für psychotherapeutische Maßnahmen offen. Einige Kliniken versuchen dies zu umgehen, indem sie medikamentöse und Gesprächstherapie miteinander kombinieren und den Patienten anbieten. Auch physiotherapeutischen Maßnahmen können zur Verringerung der Symptome beitragen. Hier lernen Erkrankte dekontrahierende Methoden, die einen motorischen Umlernprozess einleiten. Die Erkrankung verläuft umso günstiger, je jünger der Patient ist und je kürzer die Symptome bestehen.
Letzter Ausweg Tiefenhirnstimulation
Bewirken die Medikamente keine Besserung, haben starke Nebenwirkungen oder verlieren im Laufe der Zeit an Wirksamkeit, besteht die Möglichkeit einer Tiefenhirnstimulation. Bei diesem invasiven Eingriff werden dem Patienten Stimulationselektroden in bestimmte Hirngebiete platziert, die später Hochfrequenzsignale abgeben. Durch diese Signale wird die übererregte Aktivität in einem Hirnareal gehemmt und die Krankheitssymptome bessern sich.
Auch wenn Neurochirurgen die Wahrscheinlichkeit möglicher Komplikationen als sehr gering einstufen, werden Tiefenhirnstimulationen erst dann durchgeführt, wenn alle medikamentösen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. Das Ausmaß der Verbesserung variiert von Patient zu Patient: Im Durchschnitt profitieren etwa 80 Prozent der Behandelten von der Operation. Wenn die Behandlung gelingt, werden die Symptome meist besser reduziert als durch die medikamentöse Therapie.
Erfolgreich und am häufigsten angewendet wird die Tiefenhirnstimulation bei Patienten, die an essenziellem Tremor erkrankt sind. Auch der Intentionstremor lässt sich durch dieses Verfahren abmildern, die anderen Symptome der zugrunde liegenden Störung des Kleinhirns allerdings nicht. Lange war der orthostatische Tremor keine Indikation für eine Tiefenhirnstimulation. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Aktuell setzen Ärzte dieses Verfahren in besonders ausgeprägten Fällen durchaus erfolgreich ein. /