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Zucker

Die dunkle Seite

06.04.2018  13:42 Uhr

Von Ulrike Becker / Am Jahresanfang und in der Fastenzeit nehmen sich viele Menschen vor, weniger Süßes zu essen. Denn Zucker gilt als ungesund. Doch das riesige Lebensmittel­angebot macht den Verzicht nicht leicht. Schon seit einiger Zeit fordern Gesundheitsorganisa­tionen eine Steuer auf zuckerreiche Lebensmittel.

Viele Eltern kennen beim Einkauf die Diskussionen mit dem Nachwuchs – zuckersüße Lebensmittel wohin man schaut, oft in kindgerechter Aufmachung: von übersüßen Frühstückscerealien mit Comic-Helden über Fruchtjogurt und Pudding bis zur breiten Auswahl an Süßwaren und Süßgetränken. Doch nicht nur Kinder essen in Deutschland gerne und viel Süßes, auch Erwachsene können oft nicht widerstehen. Das hat unterschiedliche Gründe: Zum einen ist die Vorliebe für Süßes angeboren. Denn süß schmeckende, energiereiche Lebens­mittel haben evolutionär zum Überleben beigetragen. Zum anderen haben sich die Geschmacksnerven meist über viele Jahre an den süßen ­Geschmack gewöhnt und das un­überschaubare Lebensmittelangebot im Supermarkt tut sein Übriges.

Zucker steckt nicht nur in offensichtlich süßem Gebäck, Kuchen und Schokolade, sondern auch verborgen in verarbeiteten Fertigprodukten, zum Beispiel in Ketchup, im Salatdressing, der Tiefkühlpizza oder sogar in Rotkohl aus dem Glas. Selbst in vermeintlich gesunden Lebensmitteln wie Müsli oder Smoothies ist viel der kristallinen Süße vorhanden. Vor allem aber über süße Erfrischungsgetränke wie Cola, Eistee oder Limonade nehmen die Deutschen reichlich freie beziehungsweise zugesetzte Zucker auf. Darunter sind alle Mono- und Disaccharide zu verstehen, die Lebensmitteln während der Produktion und Zubereitung zu­gesetzt werden, inklusive Honig und Limonaden. Der natürliche Zucker­gehalt von Obst, Gemüse, Milch (Milchzucker) sowie Fruchtsäften zählt nicht dazu. Insgesamt summiert sich der Konsum auf jährlich 22 bis 28 Kilogramm Zucker pro Kopf.

Höchster Konsum bei Jugendlichen

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt nachdrücklich, maximal zehn Energieprozent an Zucker aufzunehmen; idealerweise sollte die Obergrenze schon bei 5 Prozent liegen, das sind lediglich etwa 25 Gramm oder 6 Teelöffel freier Zucker täglich. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hält dagegen 50 Gramm und rund 10 Energieprozent für tolerierbar. Der tatsächliche Verzehr liegt jedoch deutlich über diesen Werten. Bezogen auf das mittlere Körpergewicht konsumieren Männer nach Daten des Max-Rubner-Instituts (MRI) in Karlsruhe 13 Prozent der Energie über zugesetzte Zucker, das sind etwa 78 Gramm täglich; bei Frauen sind es 14 Energieprozent und etwa 61 Gramm am Tag.

Besonders süß essen 12- bis 15-jäh­rige Jugendliche. Sie nehmen 25 bis 30 Prozent der Tagesenergiezufuhr über Zucker auf. Das meiste davon dürfte aus Softdrinks stammen. Denn Kinder, Jugendliche und junge Er­wachsene trinken täglich mehr als einen halben­ Liter an Softdrinks, hinzu kommen Fruchtsäfte und -nektare. Bereits ein Glas (200 Milliliter) eines Cola­getränks enthält mehr als 20 Gramm Zucker. Insgesamt nehmen Jugendliche allein über Getränke knapp 100 Gramm Zucker auf, ohne überhaupt etwas gegessen zu haben.

Gefahr für die Gesundheit

Zuckerreiche Lebensmittel liefern reichlich Energie, aber in aller Regel sehr wenig wertvolle Nährstoffe. Meist werden sie zusätzlich zur den herkömmlichen Mahlzeiten verzehrt, so dass sie eine Überernährung und eine Zunahme des Körpergewichts be­günstigen. Das gilt insbesondere für Softdrinks und andere Süßgetränke, die anders als feste Lebensmittel kaum zur Sättigung beitragen. Blutzucker­spitzen, vor allem durch zuckerhaltige Getränke, können langfristig den In­sulin-bildenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse schaden. Das Risiko für Typ-2-Diabetes steigt, wenn Softdrinks regelmäßig in größeren Mengen getrunken werden. In ihrem Bericht­ »Bewer­tungen und Empfehlungen zur Reduktion des Zuckergehalts« vom Dezember­ 2016 bestätigen Experten des MRI, dass bei verstärktem Konsum mit Zucker gesüßter Getränke ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes und das Meta­bolische Syndrom beobachtet wird. Als Metabolisches Syndrom gilt die Kombination aus Insulinresistenz, Adipositas, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen.

Überraschend viel Zucker

150 g Fruchtjoghurt (ein Becher) rund 20 g

500 ml Fruchtbuttermilch etwa 66 g

125 g Cranberrys rund 78 g

50 g Schokomüsli circa 12 g

200 ml Limonade rund 20 g

150 g Rotkraut/Glas 19 g

1 EL Grillsoße bis zu 9 g

1 Stck. Würfelzucker 3 g

1 TL Zucker 4,2 g

Dennoch diskutieren Wissenschaftler noch immer kontrovers, welche Auswirkungen der Zuckerkonsum auf die Gesundheit hat. Das wurde einmal mehr auf dem Fachsymposium der Rainer­-Wild-Stiftung im November 2017 deutlich. Zucker selbst sei weder gut noch schlecht, das Problem sei unser­ Konsumverhalten, gaben die Experten zu bedenken. So kam Professor Dr. Matthias Schulze vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke nach der Aus­wertung zahlreicher Studien zu dem Ergebnis, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und Erkrankungsrisiko gebe. Allerdings räumte er ein, dass das regelmäßige Trinken von gezuckerten Getränken mittel- und langfristig zu einem er­höhten Körpergewicht beitrage und damit zu einem um 10 bis 40 Prozent gesteigerten Risiko für Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führe. Professor Dr. Stephan C. Bischoff von der Universität Hohenheim sah dagegen eine klare Korrelation zwischen dem Zuckerkonsum und einer Gewichtszunahme. Selbst wenn die Studien­lage nicht ganz eindeutig sei, so gäbe es doch ausreichend plausible Hinweise dafür, dass ein hoher Zuckerkonsum der Gesundheit abträglich ist.

Diskussion um Zuckersteuer

Einig sind sich Ernährungswissenschaftler und Mediziner darüber, dass der Zucker­konsum in Deutschland zu hoch ist. Tatsache ist auch: Mehr als die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland – 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen – ist übergewichtig, fast ein Viertel davon adipös, und auch rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen bringen zu viele Kilos auf die Waage, sechs Prozent gelten als adipös. Parallel wachsen die Kosten für das Gesundheitssystem beständig. Das heißt, es besteht akuter Handlungs­bedarf. Um die Essgewohnheiten der Deutschen zu verbessern­, hat der ehemalige Er­nährungsminister Christian Schmidt im Frühjahr 2017 die »Natio­nale Strategie für die Reduktion von Zucker, Fetten und Salz in Fertig­produkten und Getränken« ins Leben gerufen. Ziel ist es, dass verarbeitete Lebensmittel wie süße Erfrischungs­getränke, Frühstücks­cerealien, Tief­kühlpizza, Milch- und weitere Produkte weniger Zucker, Fett und Salz ent­halten. Dem Appell an die Lebens­mittel­industrie, entsprechende neue Produkte zu kreieren, müssen die Hersteller allerdings nicht folgen, ihr Engagement bleibt freiwillig. Das gilt auch für die Forderung der Euro­päischen Kommission, den Gehalt an zugesetztem Zucker in verarbeiteten Lebens­mitteln bis 2020 um mindestens 10 Prozent im Vergleich zu 2015 zu senken.

Gesundheits- und Verbraucherschutzorganisationen fordern darüber hinaus schon länger eine Zuckersteuer. Auch die WHO spricht sich eindeutig für steuerliche Maßnahmen aus und empfiehlt im »Globalen Aktionsplan zur Verhütung und Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten 2013–2020« konkret, den Preis für mit Zucker gesüßten Getränken um 20 Prozent oder mehr anzuheben. In einigen Ländern wie Mexiko, Finnland, Frankreich oder Ungarn wird eine Zuckersteuer auf Softdrinks bereits erfolgreich ein­gesetzt. Hierzulande wehren politisch Verantwortliche und Industrievertreter eine Steuerlenkung bislang mit dem Argument ab, die Bürger würden sich nicht bevormunden lassen wollen.

Süßes teurer machen

Aktuell ist Bewegung in die Diskussion um eine Zuckersteuer beziehungs­weise eine »gesunde Mehrwertsteuer« gekommen. Denn eine Studie des Ökonomen Privatdozent Dr. Tobias Effertz an der Hamburger Universität hat letzten Herbst verschiedene Modelle berech­net und aufgezeigt, dass eine Steuer auf zucker­reiche Lebensmittel die Entwicklung von Übergewicht tatsächlich begren­zen könnte. Dem liegt die Be­obachtung zugrunde, dass Verbraucher ihr Konsumverhalten steigenden Preisen anpassen. Gefördert wurde die Studie­ unter anderem von der Deutschen Allianz Nichtübertragbarer Krankheiten (DANK) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Effertz­ schlägt verschiedene Steuermodelle vor: Eine Version sieht vor, dass Gemüse und Obst ohne Mehrwertsteuer bleiben, für herkömmliche Lebens­mittel – zum Beispiel Nudeln oder Milch – sind wie bisher 7 Prozent fällig, sehr zucker- und fettreiche Lebens­mittel werden dagegen­ mit 19 Prozent besteuert und süße Ge­tränke mit 29 Prozent. Das hieße, Chips, Limos und Süßigkeiten würden teurer, Obst und Gemüse dagegen preis­günstiger. Dieses Steuermodell würde nach Effertz’ Berechnungen die Adi­positasrate um mehr als 10 Prozent senken­ und im medizinischen Bereich jährlich bis zu 3,8 Milliarden Euro ein­sparen. Doch noch sind die Ver­antwortlichen nicht bereit, den Konsum über eine gesunde Mehrwertsteuer in Richtung einer gesünderen Ernährung zu lenken.

Macht Zucker süchtig?

Solange es ganze Regalwände voll übersüßter Frühstücksflocken gibt und immer­ neue Süßgetränke auf den Markt drängen, haben es die Ver­braucher nicht leicht, ihren Zucker­konsum zu ver­ringern. Nicht wenige Menschen behaupten von sich sogar, süchtig nach Zucker zu sein. Die Sympto­me des starken Verlangens nach etwas­ Süßem und mangelnde Selbstkontrolle lassen sich zwar bedingt mit an­deren Suchterkrankungen ver­gleichen. Dennoch gibt es keine me­di­zinisch zu diagnostizierende »Zucker­sucht«. Aber: »Zucker kann ähnlich wie eine Sucht wirken, er macht Appetit auf mehr«, warnt beispielsweise Dr. Dietrich Garlichs, ehemaliger Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) aus Berlin. Denn Zucker gelangt direkt in die Blutbahn, treibt den Blutzuckerspiegel hoch und lässt ihn ebenso schnell wieder­ abfallen – mit dem Ergebnis, dass sich rasch wieder Hunger einstellt und erneut das Bedürfnis nach etwas Süßem be­ziehungsweise Ess­barem entsteht.

Kennzeichnung verbessert

Seit Ende 2016 muss auf dem Etikett der meisten vorverpackten Lebensmittel in der EU der Zuckergehalt angegeben sein, jeweils bezogen auf 100 Gramm oder 100 Milliliter. Das ist ein echter Fortschritt, da sich Zucker in der Zutatenliste hinter zahlreichen Bezeichnungen, wie Saccharose, Lactose, Fruktose (-sirup), Frucht­zucker, Glucose (-sirup), Trauben­zucker, Invert­zucker ­(-sirup), Dextrose oder (Malto-) Dextrine, Karamell­sirup, Malz­extrakt, Malto­dextrin oder Süßmolkenpulver verstecken können. Ausnahmen gelten beispielsweise für lose Ware oder handwerklich Hergestelltes wie Kekse oder Mar­melade, die auf Märkten verkauft werden. Die von Verbraucherschützern geforderte Lebens­mittelampel, die auf einen Blick signalisiert, ob der Zuckergehalt eines Produktes besonders hoch ist, wird jedoch von Politik und Industrie nach wie vor abgelehnt.

Die meisten bewerten den süßen Geschmack zudem als etwas Positives. Das hat sich seit Kindertagen mani­festiert, auch wenn verantwortungs­bewusste Eltern heute vielleicht Schokolade seltener als Trostpflaster oder Anerkennung einsetzen als früher. Suchtforscher haben festgestellt, dass durch den Zuckerverzehr tatsächlich das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert­ wird und vermehrt Dopamin ausschüttet. Der Neurotransmitter Dopamin sorgt im Organismus für ein gutes Gefühl. Damit steigt die Moti­vation, dieses Empfinden wiederholen zu wollen. Kein Wunder also, dass in be­stimmten Situationen ein besonders starkes Verlangen nach etwas Süßem­ auftritt – sei es das Stück Kuchen zum Entspannen nach einem harten Arbeits­tag oder Schokolade bei beson­derem Stress oder Ärger. Tierversuche zeigen sogar, dass ein hoher Zucker­konsum zu Umbauvorgängen an den Synapsen führt. Professor Rainer Spanagel­ vom Zentral­institut für Seelische Gesund­heit in Mannheim wies in einer Presse­mitteilung darauf hin, dass sich diese Veränderungen nicht nur kurzfristig zeigten. Vielmehr könne sich das Gehirn auch später noch daran erinnern und ein Verlangen nach Zucker auslösen. Bislang­ wurden die Veränderungen im Gehirn nur im Tier­versuch beobachtet. Dass sie auch beim Menschen statt­finden, hält der Wissenschaftler aber für wahrscheinlich.

Verbraucher nicht alleine lassen

Der Zuckerkonsum wird sich nur mit einem bunten Strauß verschiedener Maßnahmen eindämmen lassen. Gute Auf­klärung und Beratung bleiben auch in Zukunft gefragt. Doch es sind auch staatliche Maßnahmen notwendig. Professor Dr. Anette Buyken, Public Health Expertin der Univer­sität Pader­born, hält vor allem eine Reduktion des Zuckergehalts in Lebensmitteln sowie ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für wichtig. Die Besteuerung zucker­gesüßter Getränke, die steuerliche Entlastung gesunder Lebens­mittel und verbindliche Standards für eine gesunde Ernährung in Kindertagesstätten, Schulen und Kranken­häusern stuft sie als zusätzlich notwendige Instrumente ein.

Künstliche Süßstoffe sind übrigens keine Alternative. Eine Metaanalyse kanadischer Wissenschaftler aus dem Jahr 2017 kam bei Studien mit einer Dauer von durchschnittlich zehn Jahren zu dem Schluss, dass regelmäßiger Süßstoff­konsum mit einem Anstieg des Körpergewichts und des Hüftumfangs einherging. Auch beobachteten die Forscher ein höheres Risiko für das Metabolische Syndrom, Bluthochdruck, Schlaganfälle und Typ-2-Dia­betes.

Schon bei den Kleinsten gilt es, auf den Zuckergehalt der Nahrung zu achten. Das fängt bei fertigen Babybreien oder Babykeksen an. Kleinkindern kann zuhau­se­ und in der Kita anschaulich vermittelt werden, dass zu viel Zucker ungesund ist und dass es leckere Alterna­tiven zu übersüßen Fertig­produkten gibt.

Weichen auf zuckerarm

Wer bei sich selbst anfangen möchte, kann es mit einer Woche ganz ohne Zucker beziehungsweise ohne Süßigkeiten und süße Getränke versuchen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Geschmacksnerven an weniger Zucker gewöhnen. Das ist noch dazu ganz hip: Im Internet findet man besonders im Frühjahr regelrechte Wettkämpfe, die zu einem Zuckerverzicht anregen – sogenannte Anti-Zucker-Challenges. In den sozialen Netzwerken stößt man auf zahlreiche »Zuckerfrei«-Gruppen; allein bei Facebook nehmen fast 30 000 Interessierte daran teil.

Und wer seinen Geschmack auf weniger süß eingestellt hat und sich Zeit für bewusstes Essen nimmt, kommt fast von alleine mit immer weniger Süße aus. Dabei helfen auch alternative Süßungsmittel wie beispielsweise ­Honig oder Dick­säfte. Durch ihren intensiven Eigengeschmack setzt man sie automatisch in geringerer Menge ein. Im Übrigen ist ein kompletter Verzicht auf süße Lebensmittel nicht nötig. Schließlich gehört der Genuss von einem Stück Kuchen oder Schokolade durchaus zu einer ausgewogenen Ernäh­rung. /