Training macht den Meister |
29.08.2008 10:48 Uhr |
von Gudrun Heyn
Das Gedächtnis ist eine der faszinierendsten Leistungen des Gehirns. Ohne die Fähigkeit zu lernen und sich zu erinnern, könnten Menschen sich weder das Wissen von früheren Generationen aneignen noch überleben. Langsam verstehen Forscher das Gehirn immer besser und können hier und da nachvollziehen, wie es arbeitet und wie Gedächtnisleistungen funktionieren.
Das Gedächtnis spielt eine zentrale Rolle im Leben eines jeden Menschen: Es hilft ihm, seine Liebsten und andere Personen wiederzuerkennen, Situationen einzuordnen und zu bewerten. Außerdem ermöglicht es, Routinehandlungen auszuführen, ohne bewusst nachzudenken und sich an Orten und in der Zeit zu orientieren. Über Jahrzehnte bewahrt es Wissen, Wahrnehmungen und Erfahrungen auf und stellt die Informationen bei Bedarf wieder zur Verfügung.
Ohne Gedächtnis könnten Menschen keine Sprache erlernen, denn es wäre ihnen nicht möglich, sich Worte und ihre Bedeutungen zu merken. Auch Zeichen wie Verkehrsschilder wären sinnlos, und niemand könnte einmal erfolgreich bewältigte Aufgaben wiederholen.
Wenn sich manche Menschen nicht mehr an bestimmte Gedächtnisinhalte erinnern, sprechen Mediziner von einer Amnesie (Gedächtnisstörung). Besonders Patienten mit Morbus Alzheimer oder anderen Demenzerkrankungen, mit Hirnverletzungen oder Psychosen sind davon betroffen. Auch Vergiftungen oder epileptische Anfälle beeinträchtigen manchmal das Gedächtnis.
Zuständig für die Speicherung und das Abrufen von Gedächtnisinhalten ist das Gehirn. Dort spielen sich Denkvorgänge und die Willensbildung ab, außerdem entstehen hier Gefühle. Weiterhin steuert das Gehirn über das Rückenmark und die Nerven alle Organe.
Datenspeicher Gehirn
Obwohl das Gewicht des menschlichen Denkorgans nur 2 bis 3 Prozent des Körpergewichts ausmacht, ist sein Energiebedarf enorm groß. So durchströmt jede Minute rund 1 Liter Blut das Gehirn, wobei es bis zu einem Viertel des im Blut kreisenden Sauerstoffs verbraucht. Von besonderer Bedeutung für die Langzeitspeicherung von Informationen ist der Hippocampus. Er ist Teil des Großhirns und liegt im Schläfenlappen hinter der äußeren, dünnen Großhirnrinde. Diese besteht aus Milliarden von Nervenzellen. Während die Großhirnrinde Zentrum des Bewusstseins, des Denkens und des Gedächtnis-Speichers ist, verlaufen im darunter liegenden Mark Bündel schnell leitender Nervenzellen (Nervenfasern), die wie Kabel eines Computernetzwerkes alle Teile des Großhirns und des Gehirns miteinander verbinden.
Auch der Hippocampus kann so seine Informationen in alle Speicherbereiche des Gehirns verschicken. Stammesgeschichtlich gehört der Hippocampus zu den ältesten Strukturen des Gehirns, zum Limbischen System. Der Hippocampus liegt in dessen zentralem Teil und verarbeitet nicht nur Gedächtnisinhalte, sondern auch Gefühle und Sinneseindrücke.
Werden bei einem Unfall oder durch Krankheit der Hippocampus und der angrenzende entorhinale Cortex geschädigt, geht die Speicherfähigkeit des Gehirns für neue Informationen weitestgehend verloren. Nur bestimmte Lerninhalte können Menschen dann noch aufnehmen: Wenn sie motorische Abläufe üben, meistern sie diese schließlich. Trotz eines geschädigten Hippocampus können sich die Betroffenen aber gut analle Gedächtnisinhalte erinnern, die sie vor dem Funktionsverlust erworben haben.
Mit Hilfe bildgebender Verfahren haben Wissenschaftler inzwischen herausgefunden, dass verschiedene Hirnareale für das Langzeitgedächtnis zuständig sind. So befinden sich das Gedächtnis für Bilder in den visuellen Regionen der Großhirnrinde (Cortex) und das Gedächtnis für Geräusche in den sogenannten auditorischen Arealen.
Viele offene Fragen
Trotz der langjährigen Erfahrung mit gedächtnisgestörten Menschen, der Fortschritte in der Alzheimer-Forschung seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts und immer besseren bildgebenden Verfahren sind die genauen Funktionen des Hippocampus bis heute umstritten. Als sicher gilt, dass er die wichtigste Hirnregion für die Speicherung von Ereignissen (episodisches Gedächtnis) und von Zusammenhängen (kontextuales Gedächtnis), das Erkennen von Neuem, die sprachliche Informationsverarbeitung und die räumliche Erinnerung ist.
Da in jeder Sekunde eine Fülle von Daten an das Gehirn gesendet wird, kommt dem Hippocampus eine sehr wichtige Aufgabe zu: Er entscheidet über Dringlichkeit, Wichtigkeit und Neuigkeit. Dieser erste »Datencheck« bestimmt das Schicksal der Informationen, entweder blockt und verwirft der Hippocampus sie, hält sie für mehrere Minuten im Arbeitsspeicher parat oder nimmt sie in das Langzeitgedächtnis auf.
Blick ins Detail
Hilfe bekommt er dabei von den Amygdala, die auch als Mandelkerne bezeichnet werden. Wie beim Hippocampus gibt es davon zwei. Jede in einer der beiden Gehirnhälften. Und auch sie gehören zu den stammesgeschichtlich alten Arealen des Großhirns. Sie färben Ereignisse emotional ein und bewerten Gefahren. So prägen sich Menschen schreckliche Ereignisse oder besonders schöne Erlebnisse wesentlich besser ein, als Informationen, die mit keinen Gefühlen verbunden sind.
Im menschlichen Gehirn sind mehrere hundert Milliarden Nervenzellen zu verzweigten Netzwerken verknüpft. Wie auf einer dreidimensionalen Datenautobahn rasen die Gedanken in Sekundenbruchteilen durch diese Schaltkreise. Dies geschieht in Form von elektrischen und chemischen Reizen von einer Nervenzelle zur anderen. Eine Schlüsselstellung nehmen dabei die Synapsen ein, den Kontaktstellen zwischen den einzelnen Nervenzellen. Rund 100 Billionen soll ein menschliches Gehirn davon besitzen.
An den Synapsen haften die Zellen nicht direkt aneinander, sondern sind durch einen kleinen Spalt getrennt. Über diesen synaptischen Spalt erfolgt die Informationsweitergabe chemisch über Neurotransmitter wie Glutamat. Eine Nervenzelle schüttet diese Neurotransmitter in Sekundenbruchteilen in den Spalt aus.
Bindet solch ein freigesetzter Botenstoff an die Rezeptoren der nächsten Nervenzelle, öffnen sich in deren Zellmembran kurzzeitig Ionenkanäle. Durch diesen Kanal strömen beispielsweise positiv geladene Natriumionen und verändern schlagartig das elektrische Potential der Nervenzelle. Der elektrische Impuls, auch Aktionspotential genannt, »durchfließt« das lange Axon der Nervenzelle bis zu den nächsten Synapsen. Dort verursacht es wiederum die Freisetzung von Botenstoffen aus den Vesikeln, ihren kleinen Vorratsbehältern, und die Informationsübergabe setzt sich fort.
Computerstarke Leistungen
Genauer betrachtet sind diese Vorgänge weitaus komplexer. Wie bei einem Computer muss jede Nervenzelle viele Informationen gleichzeitig bearbeiten. So wird eine Empfängerzelle erregt oder gehemmt, je nachdem, wie schwach oder stark die ankommenden Signale sind und welchen Botenstoff die Senderzelle freisetzt. Zu den wichtigsten hemmenden Botenstoffen im Gehirn gehört zum Beispiel die Gamma-Amino-Buttersäure (GABA). GABA kann für den Einstrom von negativ geladenen Chloridionen in die Zelle sorgen oder auch den Einstrom von positiv geladenen Calciumionen blockieren, indem sie an die entsprechenden Rezeptoren bindet. So wird jede Spannung gegen Null gefahren oder entsteht erst gar nicht. Glutamat wirkt dagegen immer erregend, während beispielsweise Serotonin hemmend oder erregend sein kann.
Perfektes Zusammenspiel
Nicht zuletzt vollbringt das Gehirn auch deshalb so beeindruckende Leistungen, da jede Nervenzelle buschartig verzweigte Fortsätze besitzt, sogenannte Dendriten, an deren Enden sich erst die Synapsen befinden. Über seine Dendriten hat jedes einzelne Neuron Kontakt zu maximal 100.000 anderen Nervenzellen und kann ihre Signale empfangen. So entsteht erst dann ein Aktionspotential, wenn die elektrischen Impulse aus den Dendriten eine bestimmte Reizschwelle in der Nervenzelle überschreiten.
Neben den Neuronen spielt noch eine weitere Zellart im Gehirn eine wichtige Rolle, die Gliazellen. Noch Rudolf Virchow glaubte, dass es sich dabei nur um Nervenkitt handelt, denn die Gliazellen umhüllen die Axone eines Neurons in gewissen Abständen wie eine Isolierschicht, die sogenannte Myelinscheide. Erst diese Zellen ermöglichen den blitzschnellen Informationstransport, zum Beispiel in einer Gefahrensituation. Mit Geschwindigkeiten bis zu 120 m/s springen dabei die elektrischen Impulse längs des Axons von Isolierschicht-freier Stelle zu Isolierschicht-freier Stelle.
Damit neue Signale in Sekundenschnelle auch von Nervenzelle zu Nervenzelle übertragen werden, muss zudem die Wirkung der Botenstoffe in den synaptischen Spalten in kürzester Zeit wieder aufgehoben werden. Auch daran sind Gliazellen beteiligt. Über ein Dränagesystem entsorgen sie Kalium, Glutamat und andere Stoffe aus den Zellzwischenräumen.
Kurz- und Langzeitgedächtnis
Oft benötigen Menschen bestimmte Informationen nur wenige Sekunden lang. Zum Beispiel speichert das Gehirn eine gelesene Telefonnummer sofort und hält sie nur kurz fürs Eintippen parat. Hierfür gibt es das Augenblicksgedächtnis. In ihm können zumeist nur zwei Informationen gleichzeitig abgelegt werden – wenige Augenblicke später sind sie bereits wieder vergessen.
Das Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis hat mit rund sieben Informationen schon eine etwas größere Aufnahmekapazität. Bis zu 30 Sekunden stehen dort Gedächtnisinhalte zur Verfügung. Durch Wiederholung und einfache Gedankenverknüpfungen (Eselsbrücken) kann jeder die Leistung seines Arbeitsgedächtnisses deutlich verbessern, so dass es bis zu 30 Minuten Fakten festhält. Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass die Zellen dazu mehrmals nacheinander ein Signal senden. An den Synapsen verstärken sich die Signale und wirken so ein paar Sekunden länger.
Das Langzeitgedächtnis besteht aus zwei Speicherbereichen. Im mittelfristigen Speicher verweilen die Informationen von Minuten bis zu wenigen Tagen. Dagegen legt der große langfristige Speicher Informationen über viele Jahre ab. Nur weniges aus dem Kurzzeitgedächtnis gelangt in den mittelfristigen Speicher. In der Regel nur dann, wenn die Informationen aus dem Kurzzeitgedächtnis innerhalb der Speicherzeit wiederholt abgerufen werden, man sich also erinnert. Neu Erlerntes muss daher mehrfach wiederholt und durch Übung vertieft werden, damit es auf Dauer erhalten bleibt.
Wie lernt also das Gehirn langfristig? Heute ist bekannt, dass die Senderzellen über ihre Synpasen mehr Botenstoffe ausschütten, je aktiver sie selbst sind. Gleichzeitig werden auch die Empfängerzellen immer empfindlicher, je öfter sie benutzt werden. Dieses Phänomen wird auch Langzeitpotenzierung genannt.
Eine Schlüsselstellung scheint dabei der N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptor an den Empfängersynapsen innezuhaben. Er bindet den Botenstoff Glutamat, öffnet aber nur dann den Ionenkanal, wenn der Erregungszustand der Empfängerzelle hoch, also die Nervenzelle schon informiert ist. So gelangen wiederholte Meldungen sehr viel leichter in das menschliche Datenarchiv.
Anpassungsfähige Netzwerke
Erst seit einigen Jahren ist bekannt, dass sich das menschliche Gehirn beim Lernen stark verändert. Daran beteiligt sind ganze Netzwerke aus Nervenzellen, die je nach Beanspruchung wachsen oder schrumpfen: Nervenzellen werden ein- und umgebaut, neue Verbindungen geknüpft, andere gekappt oder bereits vorhandene effizienter gemacht. Damit die Neuorganisation der Netzwerke gelingt, produziert das Gehirn ständig neue Zellen. Erste Hinweise dazu lieferten Gehirnscans einiger Londoner Taxifahrer. Ihre Zulassungsprüfung gilt als eine der schwierigsten der Welt. Also bereiteten sich die Fahrer intensiv auf die Prüfung vor, und in der Folge vergrößerte sich ihr Hippocampus. Sobald die Taxifahrer jedoch im Ruhestand waren, brauchten sie ihr Wissen nicht mehr, und ihr Hippocampus schrumpfte. Auch bei Profimusikern beobachteten Wissenschaftler ähnliches. Ihr Gehirn wächst ständig und funktioniert immer besser, je mehr sie es beanspruchen.
Heute wissen Gehirnforscher, dass intensives Lernen an den Dendriten neuer und alter Nervenzellen zum Wachstum feinster Nervenzellausläufer führt, zu sogenannte Spines. An den Enden dieser Spines bauen Synapsen neue Kontakte zu benachbarten Nervenzellen auf. Vermutlich sind diese feinsten Ausläufer die zelluläre Grundlage des Gedächtnisses. Werden die Spines nicht mehr gebraucht, bilden sie sich zurück. So wird überflüssiges Wissen wieder aus dem Speicher entfernt.
Chemie des Gedächtnisses
Neben den Prozessen auf zellulärer Ebene regeln chemische Substanzen, was in das Langzeitgedächtnis hineindarf und was draußen bleiben muss. An jedem Lernprozess beteiligt sind der erregende Botenstoff Glutamat und sein direkter Gegenspieler GABA, der die Erregung der Neuronen begrenzt und ausbalanciert. Versagt dieses System, kann es zu krankhaften Erregungszuständen bis hin zu epileptischen Anfällen kommen.
Doch außer Glutamat und GABA steuern auch die Botenstoffe Dopamin, Serotonin, Acetylcholin und Noradrenalin Lernprozesse. Während Serotonin als Glückshormon gilt, wird Noradrenalin eher bei erhöhter Aufmerksamkeit ausgeschüttet. Die Bedeutung des Botenstoffs Dopamin untersuchten Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg genauer und fanden heraus, dass Lernprozesse sehr viel besser funktionieren, wenn die einzuspeichernden Daten neue Informationen enthalten. So werden bei Neuigkeiten bestimmte Regionen des Mittelhirns aktiv, und der Botenstoff Dopamin sendet das »Neuigkeitssignal« an den Hippocampus. Dockt er an bestimmte Rezeptoren an, kommt es sehr viel schneller zur Langzeitpotenzierung. Auf diese Weise wird die Lernleistung verstärkt. Von den anderen Botenstoffen weiß man, dass sie an Lern- und Erinnerungsprozessen beteiligt sind, kennt aber ihre genaue Funktion nicht. So verbessern Cholinesterase-Hemmer bei Alzheimer-Kranken die Merkfähigkeit. Denn sie gleichen den Mangel an Acetylcholin aus, der bei diesen Patienten typischerweise vorhanden ist.
Gedächtnisstörungen
Heute wird ein hoher Prozentsatz der Menschen im Alter nicht weise, sondern dement. »Bis zu 50 Prozent der über 90-Jährigen hat Störungen, die mit einer Demenz zusammenhängen«, stellte der Vorsitzende der Alzheimer Kommission in Frankreich, Professor Dr. Joel Ménard auf dem internationalen Kongress Hypertonie 2008 in Berlin fest. In der Bundesrepublik sind rund 1,5 Millionen Menschen von einer Demenzerkrankung betroffen. In den kommenden zehn Jahren soll die Zahl der Erkrankten sogar noch um weitere 60 Prozent steigen.
Die meisten Patienten leiden unter Alzheimer. Für diese Demenzform sind biochemische Anomalien mit Amyloidplaques im Gehirn typisch sowie der chronisch fortschreitende Verfall der Nerven bis hin zum Verlust ganzer Nervenzellen. An zweiter Stelle, mit etwa 15 Prozent, stehen die vaskulären Erkrankungen, bei denen Durchblutungsstörungen das Erinnern, Denken, Urteilen und Lernen erschweren. Außerdem verändert sich bei Patienten mit Parkinson-Syndrom, Chorea Huntington, Multipler Sklerose das Gehirn fortschreitend, so dass auch diese Menschen ihre geistigen Fähigkeiten immer mehr einbüßen.
Bei vielen dieser Erkrankungen können Arzneimittel die Folgen bisher nur bremsen. Allerdings lässt sich bei den vaskulären Demenzen die Gedächtnisstörung verhindern, indem die Betroffenen rechtzeitig durchblutungsfördernde Medikamente einnehmen. Experten schätzen, dass sogar bis zu 90 Prozent aller Schlaganfälle vermeidbar wären, wenn Hypertoniker ihre Blutdruckmedikamente regelmäßig einnähmen. Auch Sport, gesunde Ernährung und geistiges Training helfen, das Gedächtnis ein Leben lang fit zu halten.
Als pflanzliches Arzneimittel zum Erhalt der Leistungsfähigkeit des Gehirns haben sich Präparate mit Ginkgo-biloba-Extrakt bewährt. Experten empfehlen, das Phytopharmakon ab dem 50. Lebensjahr einzunehmen. Allerdings sollten PTA oder Apotheker die Patienten darauf hinweisen, dass sie nicht an der falschen Stelle sparen, sondern besser zugelassene Arzneimittel in ausreichend hoher Dosierung einnehmen.
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