Neues Allheilmittel der Medizin? |
20.07.2012 14:57 Uhr |
Von Marion Hofmann-Aßmus / Stammzellen bei Herzschwäche, bei Parkinson und bei Diabetes: Die Medizin setzt große Hoffnungen auf diesen neuen Forschungszweig. Die hohen Erwartungen werden allerdings immer wieder enttäuscht und der Fortschritt erfolgt nur in kleinen Schritten. Dennoch sind die Wissenschaftler davon überzeugt, dass die Stammzelltherapie eines Tages zum medizinischen Alltag gehören wird.
Die wichtigste Eigenschaft der Stammzellen ist, dass sie noch nicht auf einen Zelltyp festgelegt sind, sondern aus ihnen viele verschiedene Zellarten entstehen können. In dieser »Pluripotenz« (lateinisch: pluri = mehr, potentia = Kraft) liegt ihr großes Potenzial für die Therapie von Erkrankungen. Denn die Forscher hoffen, mit diesen Zellen kranke oder zerstörte Gewebszellen gezielt ersetzen zu können. Außerdem teilen sich Stammzellen immer wieder und stellen dabei identische Kopien von sich selbst her. Das lässt sich im Labor nutzen, um die Zellen zu vermehren. Je nach Herkunft unterscheidet man zwischen embryonalen und adulten Stammzellen.
Dank der Stammzelltherapie konnte die Überlebensrate an Leukämie erkrankter Kinder auf 80 Prozent angehoben werden.
Fotos: iStockphoto
Embryonale Stammzellen werden zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Entwicklung aus menschlichen Embryonen gewonnen. Die Entnahme erfolgt im sogenannten Blastulastadium, etwa fünf Tage nach der Befruchtung. Der Vorgang ist ethisch sehr umstritten, da der Embryo bei der Gewinnung der Stammzellen zerstört wird. In Deutschland ist es nach dem Embryonenschutzgesetz verboten, menschliche Embryonen für Forschungszwecke herzustellen oder zu zerstören. Für die medizinische Forschung und potenzielle Anwendung weisen embryonale Stammzellen jedoch einige Vorteile auf.
Da aus ihnen alle Körperzellen entstehen können, sind sie theoretisch in der Lage, Zellen jedes Organs zu ersetzen. Sie vermehren sich sehr schnell und lassen sich als Stammzell-Zelllinien im Labor halten. Doch auch einige Nachteile sind bekannt. Kultiviert man Stammzellen längere Zeit als Zelllinie, schleichen sich Fehler im Erbgut ein. Das macht die Gewinnung immer neuer embryonaler Stammzellen erforderlich. Bevor dem Patienten diese Stammzellen transplantiert werden, muss er Immunsuppressiva einnehmen, da sein Körper sonst die Zellen wie alle fremden Gewebe abstoßen würde. Die Gabe von Immunsuppressiva ist jedoch mit starken Nebenwirkungen verbunden. Außerdem besteht die Gefahr, dass durch die ungehemmte Vermehrung von Stammzellen im Körper Tumore (Teratome) entstehen. Um dieses Risiko auszuschalten, müssen vor der Transplantation alle Stammzellen in die gewünschte Zellenart verwandelt werden.
Adulte Stammzellen finden sich bei Erwachsenen in verschiedenen Organen, beispielsweise im Knochenmark, Dünndarm, Hautgewebe und Blut. Dort sollen sie bei Bedarf abgestorbene oder zerstörte Zellen ersetzen. Gewonnen werden sie meist aus Knochenmarkgewebe. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: Bei einer Methode entnimmt der Operateur dem Patienten unter Narkose etwa einen Liter Knochenmark-Blut-Gemisch aus dem Beckenknochen, und die Stammzellen werden im Labor isoliert und gezüchtet. Bei der Alternative, der »peripheren Stammzellenentnahme«, verabreicht der Arzt dem Patienten zunächst ein Präparat mit dem Wachstumsfaktor G-CSF (Granulozyten-Kolonie stimulierender Faktor). Dadurch werden vermehrt Stammzellen produziert, die aus dem Knochenmark in das Blut geschwemmt werden. So kann der Arzt dem Patienten ambulant Blut aus den Armvenen entnehmen und dem Patienten bleibt eine Operation unter Vollnarkose erspart.
Menschliche Stammzellen lassen sich im Labor als Zelllinien vermehren.
Adulte Stammzellen zeichnen sich durch folgende Vorteile aus: Sie lassen sich ohne ethische Bedenken gewinnen, und sie verursachen keine Abstoßungsreaktion, sofern der Patient seine eigenen Zellen erhält. Mithilfe von Wachstumsfaktoren lassen sie sich zudem im Labor relativ leicht in andere Zelltypen verwandeln.
Von Nachteil ist, dass adulte Stammzellen nur in begrenzter Menge vorkommen: In 10 000 bis 15 000 Blutzellen befindet sich nur etwa eine Stammzelle. Außerdem teilen sie sich seltener als embryonale Stammzellen. Sie lassen sich im Labor nicht unbegrenzt vermehren und ihre Lebensdauer ist eingeschränkt. Zudem können sie sich nicht mehr in alle Zelltypen verwandeln. Da sie so alt sind wie der Spender, sind Schäden im Erbgut möglich.
Aus Nabelschnurblut
Stammzellen aus Nabelschnurblut sind zwar noch jung, gehören aber aufgrund ihrer Eigenschaften zu den adulten Stammzellen. Eine Rolle spielen sie vor allem bei der Behandlung leukämiekranker Kinder. Nabelschnur-Stammzellen sind einfach zu gewinnen. Ihre Entnahme beeinträchtigt weder das Kind noch die Mutter. In flüssigem Stickstoff eingefroren lassen sie sich jahrelang aufbewahren. Abstoßungsreaktionen und Defekte im Erbgut treten selten auf. Nachteilig ist, dass die Stammzellausbeute aus einer Nabelschnur für die Behandlung Erwachsener zu gering ist. Auch können genetisch bedingte Erbkrankheiten nicht mit den eigenen Nabelschnur-Stammzellen behandelt werden, da diese dieselben Defekte aufweisen.
Viele Eltern stellen sich die Frage, ob sie unmittelbar nach der Geburt aus der Nabelschnur ihres Kindes Stammzellen entnehmen lassen. Die Antwort darauf ist nicht einfach, denn viele Ansätze, diese Stammzellen zu nutzen, befinden sich noch in der Erforschung. Daher kann niemand mit Gewissheit sagen, ob sich die Hoffnung erfüllt und die Zellen tatsächlich einmal für die Heilung verschiedener Erkrankungen verwendet werden können. Die Aufbewahrung bei einer privaten Nabelschnur-Bank ist immer mit Kosten verbunden. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, das Nabelschnurblut einer öffentlichen Spenderbank zu überlassen. Die hier gelagerten Stammzellen stehen dann anderen Kindern im Krankheitsfall zur Verfügung.
Viele Forschergruppen arbeiten derzeit mit Hochdruck an Möglichkeiten, auf ethisch einwandfreie Weise eine größere Anzahl an Stammzellen zu gewinnen. Im Jahr 2006 fand die Entwicklung von sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) große Beachtung. Dem japanischen Stammzellforscher Shinya Yamanaka war es gelungen, aus normalen Hautzellen pluripotente Stammzellen herzustellen. Auch in Deutschland arbeiten inzwischen viele Forscher mit dieser Methode. Zum Beispiel versuchen sie, iPS-Zellen für die Erforschung neurodegenerativer Krankheiten wie Parkinson zu nutzen.
Das grüne Präparat zeigt embryonale Stammzellen unter dem Mikroskop.
Fotos: iStockphoto
Bei Leukämie-Patienten bewährt sich schon seit Jahrzehnten die Blutstammzelltherapie in Form einer autologen beziehungsweise allogenen Knochenmark-Transplantation. Bei der ersten Variante erhält der Patient eigene Zellen, bei dem anderen Verfahren Zellen eines Spenders. Die intravenös übertragenen Blutstammzellen produzieren etwa zehn Tage nach der Übertragung neue Blutzellen. Diese Therapie konnte die Überlebensrate leukämiekranker Kinder auf 80 Prozent steigern. Ein gewisses Risiko besteht bei diesem Eingriff allerdings immer noch. Damit das Knochenmark des Kranken bei einer allogenen Transplantation die neuen Zellen nicht angreift, muss es vorher vollständig zerstört werden. Dies erfolgt mittels radioaktiver Bestrahlung sowie einer aggressiven Chemotherapie. Nach der Transplantation besitzt der Patient nur noch wenige eigene Blutzellen und damit für eine gewisse Zeit kein funktionstüchtiges Immunsystem. Weil er Immunsuppressiva gegen mögliche Abstoßungsreaktionen einnehmen muss, ist der Patient sehr anfällig für Infektionen.
Auch bei der Behandlung von schweren Verbrennungen wird die Stammzelltherapie erfolgreich praktiziert. Mit im Labor aus Hautstammzellen des Patienten neu gewachsenen Hautstücken lassen sich die verwundeten Stellen abdecken. Da die neue Haut aus körpereigenen Zellen stammt, wird sie nicht abgestoßen.
Nach Herzinfarkt
Die Erfolge bei Leukämie und der Hauttransplantation ermutigten Mediziner dazu, die Stammzelltherapie bei weiteren Erkrankungen zu erproben, zum Beispiel bei Herzerkrankungen. So beschäftigten sich verschiedene Studien damit, wie Patienten nach einem Herzinfarkt mit adulten Stammzellen geholfen werden kann. Denn bei einem Infarkt sterben viele Herzmuskelzellen durch Sauerstoffmangel ab. Das Herz kann diese Zellen nicht ersetzen, es bilden sich Narben, die die Herzfunktion verschlechtern.
Die renommierte Cochrane-Collaboration hat nun 33 Studien näher untersucht, jedoch ohne überzeugendes Ergebnis. Zwar verbessern Stammzellen aus dem Knochenmark die Herzfunktion, ob sie jedoch auch das Leben der Patienten verlängern, bleibt offen. Wie die Forscher herausfanden, ersetzen die Stammzellen die zugrunde gegangenen Herzzellen nicht. Vielmehr sterben sie rasch ab. Dabei werden jedoch Wachstumsfaktoren frei, welche dem Herzinfarktpatienten indirekt nützen. Trotz solcher Rückschläge suchen die Forschungen mit neuen Studien auf diesem Gebiet weiter nach Verbesserungsmöglichkeiten.
Langer Weg
Bei Parkinson-Patienten sterben nach und nach die Dopamin-bildenden Zellen im Gehirn. Die Idee, diese Zellen durch Stammzellen zu ersetzen, ist relativ einleuchtend. Der Weg zu einer erfolgreichen Therapie erweist sich bislang allerdings als recht schwierig. So profitierte in verschiedenen Studien nur ein Teil der Patienten von den Stammzellen, anderen schadete die Behandlung eher.
Auf dem Europäischen Neurologen-Kongress in Prag im Juni stellte ein italienischer Forscher einen neuen Ansatz vor. Ihm gelang es, erwachsene Bindegewebszellen (adulte Fibroblasten) direkt in dopaminerge Nervenzellen umzuprogrammieren. Zumindest im Tiermodell integrierten sich diese Zellen ins zuvor geschädigte Gehirn der Tiere und erfüllten dort ihre Aufgabe. Ob sich dieses Verfahren auch beim Menschen erfolgreich einsetzen lässt, muss sich erst noch erweisen. Zumindest bietet es neue Möglichkeiten und vermeidet einige Fehler, die bei den vorhergehenden Studien zu uneinheitlichen Ergebnissen führten.
Unseriöse Anbieter, wie die inzwischen geschlossene »Stammzellklinik XCell«, warben in den letzten Jahren immer wieder mit der Heilung durch Stammzelltherapie. Parkinson-Patienten, die sich darauf einließen, ging es anschließend häufig schlechter als zuvor. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie warnt daher vor solchen Geschäftemachern. Patienten sollten nur an offiziell anerkannten Studien teilnehmen.
Eine Option bietet die Stammzelltherapie auch für Patienten mit Multipler Sklerose. Erste Studien mit wenigen Teilnehmern zeigten ermutigende Ergebnisse. Für eine breite Anwendung ist es allerdings noch zu früh. Weitere Untersuchungen mit Stammzellen, die aus dem Knochenmark oder dem Fettgewebe der Patienten gewonnen wurden, laufen derzeit.
Bei Typ-1-Diabetes
Bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 greifen körpereigene Immunzellen die Insulin-produzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse an und zerstören sie. Die Betroffenen müssen daher mehrfach täglich Insulin spritzen. Gerade Kinder belastet diese Therapie sehr. Das Ziel lautet daher, ihnen mit Stammzellen aus Nabelschnurblut zu helfen, damit die Insulinproduktion der Kinder möglichst lange erhalten bleibt. Mediziner erhoffen sich von den Stammzellen, dass sie sich selbst in neue Betazellen verwandeln, die insulinproduzierenden Betazellen regenerieren und die Immuntoleranz wieder herstellen.
Bei einer ersten Pilot-Studie in den USA verzögerte sich bei einigen jungen Patienten mit beginnendem Diabetes zwar die Zeit, bis eine Insulingabe nötig wurde. Doch waren die Ergebnisse keineswegs eindeutig. Weitere und größere Studien sind daher erforderlich.
Insulinproduzierende Zellen
Da die gewonnene Menge an Stammzellen aus Nabelschnurblut gering ist, versuchen Forscher, andere Zellen in Insulinproduzenten zu verwandeln. Jüngst gelang es Wissenschaftlern im Tierversuch, Stammzellen der Darmschleimhaut in insulinproduzierende Zellen umzuprogrammieren.
Hierzulande arbeiten Forscher in Würzburg daran, Stammzellen aus der Bauchspeicheldrüse zu isolieren und im Labor zu vermehren. Das Fernziel dieser vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Arbeit ist, Typ-1-Diabetikern genügend insulinproduzierende Zellen für die Behandlung bereitstellen zu können.
Weitere Forschungen beschäftigen sich mit dem Einsatz der Stammzelltherapie bei Patienten mit bösartigen Lebertumoren, Augenkrankheiten wie der altersbedingten Makuladegeneration (AMD) oder nach einem Schlaganfall. Allen Untersuchungen ist gemein, dass sie sich noch im experimentellen Stadium befinden und weit entfernt sind von einer Routineanwendung. /
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