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Ricinus communis

Tödliches Gift und wertvolles Laxans

20.07.2012  15:08 Uhr

Von Ernst-Albert Meyer / Kaum eine andere Pflanze zeichnet sich durch so unterschiedliche pharmakologische Eigenschaften aus wie Ricinus communis. Die in der Samenschale enthaltenen Giftstoffe werden bei der Gewinnung des Öls entfernt, sodass Rizinusöl auch heute noch als sicher wirksames und gut verträgliches Abführmittel gilt.

Ricinus communis gehört zur Familie der Euphorbiaceae (Wolfsmilchgewächse). In den Tropen bildet die ausdauernde Pflanze Bäume oder Sträucher von beträchtlicher Höhe. Dort wird sie auch zur Ölgewinnung angebaut. In dem gemäßigten Klima Mitteleuropas mit seinen kalten Wintern ist Ricinus wegen seiner Attraktivität als buschig-krautige, einjährige Zierpflanze beliebt und wird häufig in Gärten und Parks angepflanzt. Die lang gestielten Blätter mit jeweils sieben bis elf gesägten Lappen sind grün, rot oder blaugrau gefärbt. Aus den in großen endständigen Rispen stehenden Blüten entwickeln sich mit Stacheln besetzte Kapselfrüchte. Sie enthalten bis zwei Zentimeter große, harte, rötlichbraun marmorierte Samen, die zur Ölgewinnung verwendet werden.

Wie der Name Ricinus entstand, ist nicht eindeutig geklärt. Der römische Naturforscher Plinius (23 bis 79 n. Chr.) vermutet, dass sich der Name der Pflanze vom lateinischen »ricinus« (Zecke, Holzbock) ableitet, weil die Samen diesem Insekt ähnlich sehen. Die Bezeichnung »Wunderbaum« erhielt der Ricinus wegen seines schnellen Wachstums. Ein Ricinusbaum soll den Propheten Jona vor der Sonne geschützt haben, als er sich vor der Stadt Ninive in der Wüste aufhielt (Jona, 4,6): »Da ließ Gott, der Herr, einen Rizinusstrauch über Jona emporwachsen, der seinem Kopf Schatten geben und seinen Ärger vertreiben sollte. Jona freute sich sehr über den Rizinusstrauch.«

Die Samen gaben die Ägypter schon ihren Toten mit in die Gräber, wie Funde aus der Zeit um 4000 v. Chr belegen. In der Antike verwendeten die Menschen Rizinusöl meist äußerlich, vor allem zur Salbenherstellung und als Brennstoff für Öllampen. Im altägyptischen Papyrus Ebers (1600 v. Chr.) sind die Samen als Laxans und Haarwuchsmittel sowie das Öl als Salbe gegen übel riechende Geschwüre erwähnt. Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) empfahl Rizinusöl gegen Krätze, Wundnarben, Ohrenschmerzen, Uterusleiden und als Abführ- und Wurmmittel. Der in römischen Diensten stehende griechische Arzt kannte auch schon die Giftwirkung der Samen. Die gleichen Indikationen wie Dioskurides beschrieben auch die mittelalterlichen Autoren wie Hieronymus Bock (1498 bis 1554) und Pietro Andrea Mattioli (1501 bis 1577) in ihren Kräuterbüchern. Den Indern war die abführende Wirkung des Rizinusöls ebenfalls bekannt. Hier erfuhren eng­lische Ärzte von dieser Pflanze. Im Jahr 1769 führte der Arzt William Fraser (gest. 1832) Ricinus communis in England ein. Zu dieser Zeit wurde Rizinusöl als Laxans populär.

Giftiges Lektin

Die Schalen der Rizinussamen enthalten das hochtoxische Ricin. Das pflanzliche Protein gehört zur Stoffgruppe der Lektine. Für den Menschen liegt die letale Dosis bei peroraler Anwendung bei circa 1 Milligramm Ricin pro Kilogramm Körpergewicht. Bei Inhalation als Aerosol beziehungsweise als Injek­tion beträgt sie sogar nur 5 bis 10 Mikro­gramm Ricin pro Kilogramm Körper­gewicht. Außerdem befindet sich in den Samen noch das giftige Pyridin-­Alkaloid Ricinin. Dadurch kann der Verzehr von einem bis acht Samen tödlich sein.

Für die Giftwirkung ist entscheidend, wie intensiv die Samen zerkaut werden. Wegen der sehr harten Samenschale ist die Vergiftungsgefahr beim Verschlucken der ganzen Samen eher gering. Toxikologen berichten allerdings immer wieder über Vergiftungen bei Kindern und Erwachsenen, die Rizinussamen in Unkenntnis ihrer Giftigkeit verzehrten. Da der Rizinus eine beliebte Zierpflanze ist, besteht die Gefahr praktisch überall. Die schönen Samen können beispielsweise Mädchen dazu verleiten, Schmuckketten daraus zu basteln. Kauen sie anschließend gedankenverloren auf den Ketten oder haben die Samen Kontakt mit verletzter Haut, kann das Ricin resorbiert werden. Manche Menschen haben die Samen auch in suizidaler Absicht gekaut und hinuntergeschluckt.

Die Vergiftungssymptome beginnen nach einer Latenzzeit von mehreren Stunden bis Tagen mit Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Schwäche und Bauchschmerzen sowie Kreislaufbeschwerden wegen des Flüssigkeitsverlusts infolge der Durchfälle. In schweren Fällen erweitern sich die Pupillen, es kommt zu Fieber, Krämpfen, Lebernekrose und akutem Nierenversagen. Der Tod tritt hauptsächlich durch Lähmung des Atemzentrums ein. Ein spezifisches ­Antidot gegen Ricin gibt es bis heute nicht.

Waffe der Geheimdienste

Aufgrund seiner hohen Toxizität wurden mit Ricin auch Morde begangen. Am 7. September 1978 wartete der Exil-Bulgare und Schriftsteller Georgi Markov an einer Londoner Bushaltestelle. Markov war zu dieser Zeit bei dem Rundfunksender BBC tätig. Als er plötzlich einen Stich in seinem Bein verspürte, bemerkte Markov neben sich einen Mann, der seinen Regenschirm hochhob und sich schnell entfernte. Der Fremde hatte ihm – wie man später bei der Obduktion herausfand – mit der Schirmspitze eine winzige durchlöcherte Platinkugel ins Bein injiziert. Diese enthielt 45 Milligramm Ricin. Markov bekam hohes Fieber und starb vier Tage später. Alle Rettungsversuche der Ärzte schlugen fehl. Dieser Mord wurde als »Regenschirm-Attentat« weltweit bekannt. Welcher Geheimdienst das Attentat in Auftrag gegeben oder ausgeführt hat, wurde nie geklärt.

Wegen der leichten Beschaffbarkeit von Ricin ist es durchaus möglich, dieses Lektin für terroristische Anschläge auf Einzelpersonen und kleine Personengruppen einzusetzen. Im November 2001 sorgte ein Fund für Aufsehen: Amerikanische Truppen entdeckten in Kabul in al-Qaida-Verstecken Pläne zur Produktion von Ricin. Zuletzt berichtete die New York Times im August 2011, dass al-Qaida im Jemen Versuche zur Ricinherstellung aus Rizinussamen durchführe. Wie gefährlich die Sub­stanz werden kann, verdeutlicht die Tatsache, dass die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Ricin in die Kategorie B der biologischen Kampfstoffe einstufte. Dieser Kategorie werden Erreger und Giftstoffe zugeordnet, die relativ leicht anzuwenden sind, ein mittelschweres Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko haben und für die spezifische Anforderungen an Diagnostik und Gesundheitsüberwachung erforderlich sind.

Bedeutendes Laxans

Verunsicherten Kunden können PTA oder Apotheker die Angst nehmen: Wer Rizinusöl einnimmt, braucht keine Ricinvergiftung zu befürchten. Durch die vorgeschriebene Kaltpressung der Samen verbleiben Ricin und Ricinin im Pressrückstand. Zur Sicherheit wird das Rizinusöl anschließend mit Wasserdampf behandelt. Arzneilich verwendet wird nur das kalt gepresste, mit Bleich­erde gereinigte (raffinierte) Rizinusöl. Ricini Oleum wird laut Arzneibuch auf die Abwesenheit der Rizinus-Gifte geprüft. Professor Dr. Heinz Schilcher, langjähriger Vorsitzender der Kommission E, betont in seinem Fachbuch »Leitfaden Phytotherapie« die bedeutende Rolle des Rizinusöls in der Phytotherapie. Die speziell für das Buch angefertigte Monographie nennt als Indikationen:

  • akute und habituelle Obstipation (niedrig dosiert, 5 bis 10 Milli­liter, nur kurzfristige Anwendung)
  • Erkrankungen, bei denen eine zuverlässige Entleerung des Darmes erwünscht ist, wie vor rektal-analen Eingriffen oder nach Wurmkuren (hoch dosiert, 30 bis 55 Milliliter)

Der pharmakologische Effekt des Rizinusöls ist mit dem der Anthraglykosid-Drogen vergleichbar. In Gegenwart von Gallenflüssigkeit wird im Dünndarm durch Lipasen das im Rizinusöl zu über 80 Prozent enthaltene Glycerid Triricinolein gespalten. Die entstandene Rizinolsäure fördert die Freisetzung von Prostaglandin E2. Dieses regt die Darmmotorik an, hemmt die Wasser-Resorption aus dem Darm und steigert gleichzeitig die Sekretion von Wasser und Elektrolyten in den Darm. Damit ist die Rizinolsäure für die antiabsorptive und hydragoge Wirkung des Rizinusöls verantwortlich. Der gleichzeitig galletreibende Effekt verstärkt die Peristaltik des Dünndarms. Bei der empfohlenen Dosierung von ein bis zwei Esslöffeln (10 bis 30 Milliliter) beziehungsweise vier bis sechs Gramm ist Rizinusöl für Erwachsene gut verträglich. Die laxierende Wirkung tritt bei der niedrigen Dosierung nach sechs bis acht Stunden, bei der höheren Dosierung nach zwei bis vier Stunden ein. Rizinusöl ist auch für über 12-Jährige geeignet.

Als Nebenwirkung des Rizinusöls können laut Schilcher in Einzelfällen krampfartige Magen-Darm-Beschwerden auftreten. In der Selbstmedikation sollte das Öl nie länger als ein bis zwei Wochen eingenommen werden. Über diesen Zeitraum hinaus kann es zu erhöhten Verlusten von Wasser und Elektrolyten, insbesondere Kalium, kommen. Als Folge besteht die Gefahr, dass Störungen der Herzfunktion und Muskelschwäche auftreten. Der Kaliummangel verstärkt außerdem die Wirkung von Herzglykosiden und beeinflusst die Wirkung von Antiarrhythmika. Deshalb dürfen Patienten diese beiden Arzneimittelgruppen nicht gleichzeitig mit Rizinusöl einnehmen. Antihistaminika können den laxierenden Effekt von Rizinusöl vermindern.

Als Gegenanzeigen sind Darmverschluss, chronisch-entzündliche Darm­erkrankungen, Bauchschmerzen unbekannter Ursache, Gallenwegserkrankungen, Schwangerschaft und Stillzeit zu nennen. Auch bei Kindern unter zwölf Jahren darf das Laxans nicht angewendet werden.

Eine Frage des Geschmacks

Früher war man in der Medizin der Meinung, dass ein Medikament – wenn es helfen sollte – unangenehm und bitter schmecken musste. Heute hat sich das geändert: Arzneimittel sollen angenehm schmecken oder wenigstens geschmacksneutral sein. Da Rizinusöl bei der Einnahme im Mund einen unangenehmen Geschmack entwickelt, ist das Öl auch in geschmacksneutralen Weich­gelatinekapseln erhältlich. Die Kapseln setzen das Öl erst im Magen frei, sodass kein unangenehmer Geschmack auftritt. Aufgrund seiner zuverlässigen Wirksamkeit und guten Verträglichkeit können PTA und Apotheker Rizinusöl auch heute noch in der Selbstmedika­tion empfehlen. /

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