PTA-Forum online
Stress, Nervosität, Burn-out

Was anthroposophische Medizin leisten kann

19.08.2011  13:59 Uhr

Von Annette Behr, Lana (Südtirol) / In den Industriestaaten erkranken immer mehr Menschen an psychischen Störungen. Viele Betroffene suchen einen Ausweg aus ihrer Situation durch eine ganzheitliche Behandlung und nicht allein durch eine konventionelle medikamentöse Therapie. In diesem Sinne versteht sich auch die anthroposophische Medizin als Ergänzung zur traditionellen Schulmedizin.

»Täglich stehen wir dem Säbelzahntiger gegenüber«, meinte Dr. Tobias Sprenger, Allgemeinmediziner und Leiter einer Tagesklinik für ganzheitliche Medizin in Köln, während eines Weleda-Workshops in Lana (Südtirol). Stress sei zunächst einmal nichts Schlechtes, so der Mediziner. Die Stress­reaktion befähige den Menschen, in einer bedrohlichen Situation seine Leistungsfähigkeit kurzfristig zu steigern. Vor besagtem Säbelzahntiger so schnell wie möglich flüchten zu können, war schließlich einmal lebenserhaltend. Allerdings geraten Menschen heute aufgrund völlig anderer Ursachen in eine »dauerhafte Anspannung«.

Im 21. Jahrhundert gehört laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) permanenter Stress zu den größten Gefahren für die Gesundheit. Auch statistische Erhebungen zeigen, dass Nordeuropäer zunehmend aufgrund seelischer Störungen arbeitsunfähig und krank werden. Nach Schätzungen der WHO sind mehr als die Hälfte dieser Störungen stressbedingt. Im derzeitigen Arbeitsalltag spielen die psychischen Belastungen eine größere Rolle als die physischen.

Bei einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2009 gaben 80 Prozent der Deutschen an, sie empfänden ihr Leben als sehr anstrengend. Ein Drittel meinte sogar, sie hätten dauer­haften Stress. Permanenter Stress erhöht die Gefahr, am Burn-out-Syndrom zu erkranken. So fehlten im Jahr 2008 an insgesamt 10 Millionen Tagen Arbeitnehmer wegen des Burn-out-Syndroms an ihrem Arbeitsplatz.

»Es ist nicht nur entscheidend, was wir erleben, sondern wie wir es erleben« meinte Sprenger. Ob und wie stark sich ein Mensch selbst stresst, hängt auch von seinen individuellen Werten und Ressourcen ab, unabhängig vom permanenten Druck, dem er ausgesetzt ist. Am Stressgeschehen beteiligt ist demnach ebenfalls das persönliche Empfinden objektiver Faktoren.

Das Leben in einer Großstadt ist beispielsweise objektiv anstrengend. Dort werden die Sinne ständig durch Lärm sowie elektrische und chemische Einflüsse überreizt, der Körper befindet sich permanent in Alarmbereitschaft. Die Flut an Informationen, in Kombination mit der ständig steigenden Mobilität, führt zu dauerhafter Anspannung. Charakteristisch für die Kultur der westlichen Industriestaaten ist die permanente Erreichbarkeit durch elektronische Medien. Außerdem identifizieren sich viele Menschen in hohem Maße mit ihrem Beruf und dessen Anforderungen. Ihr Selbstwert- und Lebensgefühl knüpfen sie an Erfolge.

Viele trennen Arbeit und Freizeit nicht mehr voneinander. Sie arbeiten am Abend und an den Wochenenden und vernachlässigen Pausen, um richtig abzuschalten. Durch diesen »Lebensstress« entsteht hoher Druck, und die Regeneration kommt zu kurz. Erleben die Betroffenen noch zusätzlich private Krisen wie Trennungen, treten bald erste seelische oder körperliche Symptome auf. Manche können nicht mehr ein- und durchschlafen, reagieren ständig gereizt, konsumieren immer mehr Alkohol oder Drogen oder rauchen eine Zigarette nach der anderen. Das Ende vom Stress: totale Erschöpfung, die im Burn-out-Syndrom enden kann. »Burn-out ist eine schwere seelische Erkrankung«, so Sprenger.

Völlig ausgebrannt

Menschen mit Burn-out berichten mehrheitlich, sie empfänden ihr Leben als fremdbestimmt, als »Leben wie im Hamsterrad«, ohne Ruhe zu finden. Typischerweise finden Ärzte für die Symptome oft keine körperliche Ursache. Bei Patienten mit Burn-out diagnostiziert Sprenger meist »Kopfschmerzen, Reizdarm, Augenreizungen, Herzrasen, Bluthochdruck«. Diese funktionellen Störungen können langfristig zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen und das Risiko für Krebs erhöhen.

Wege aus dem Stress

  • Heileurhythmie

wird ärztlich verordnet und ist eine Therapieform der Anthroposophischen Medizin. Sie transformiert Laute der Sprache in Bewegungen, um damit Funktionen einzelner Organe und Organsysteme zu harmonisieren.

  • Rhythmische Massage

wurde von den beiden Ärztinnen Dr. Ita Wegmann und Dr. Margarethe Hauschka entwickelt, um die Selbstregulation des Körpers zu stärken. Durch Grifftechniken, bei denen besonderer Wert auf Saugwirkung gelegt wird, können Flüssigkeitsströme und Atmung positiv beeinflusst werden.

  • Therapeutische Sprachgestaltung

zählt zur Anthroposophischen Kunsttherapie. Sie arbeitet mit Übungen aus Lauten, Silben, Worten und Texten, die mit besonderer Berücksichtigung von Atmung und Gestik artikuliert werden. Durch die Übungen werden Atmung und Herzfrequenzvariabilität positiv beeinflusst. Diese Technik erzielt Zustände der mentalen Ruhe und Entspannung.

  • Entspannungstraining

Das vom Berliner Psychiater Johannes Heinrich Schultz 1926 entwickelte Autogene Training gilt als hervorragende Technik zur Tiefenentspannung. Durch die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson erreicht der Übende tiefe Entspannung durch An- und Entspannung von Muskelgruppen.

Die chinesische Meditationstechnik Qigong erzielt durch Atem-, Körper-, Bewegungs-, Konzentrations- und Meditationsübungen eine Harmonisierung der Lebensenergie »Qi«.

  • Ordnungstherapie

bezeichnet einen Komplex von Maßnahmen durch ordnende Eingriffe in Körpervorgänge vegetative Rhythmen zu stabilisieren. Hierzu zählt die Craniosacraltherapie, bei der Handgriffe an Schädel und Kreuzbein den »Energiefluss« verbessern, Selbstheilungskräfte aktivieren und seelische Traumata lösen sollen.

Diesen Zusammenhang bestätigt eine Untersuchung der Universität für Bio­wissenschaften in Witten/Herdecke aus dem Jahr 2003. Danach fördert Stress die schnelle Ausbreitung von Tumorzellen im Körper. Das vermehrte Auftreten von Krebs- und Herz-Kreiskauf-Erkrankungen in Industrienationen soll durch den dauerhaften Einfluss von Cortisol auf die Stoffwechsellage und das Immunsystem begünstigt werden, so die Wissenschaftler. Wie die Seele, das Nerven- und Immun­system zusammenspielen, erforscht das relativ junge Fachgebiet der Psychoneuro­immunologie.

Als Ergänzung gedacht

Akute Erkrankungen erfordern die sofortige Arzneimitteltherapie, so Sprenger. Stressbezogene Symptome und Erkran­kungen seien hingegen meist chronischer Natur und ließen sich durch konventionelle Pharmaka nicht ursächlich behandeln. Dennoch erhalten viele Betroffene Säure­blocker, Betablocker und Tranquilizer gegen Magenbeschwerden, Bluthochdruck und Überreiztheit. Alle Arzneimittel greifen in die Selbstregulation (Homöostase) des Patienten ein, kommentierte der Mediziner. Die Schulmedizin betrachte den Menschen als eine Art biologische Maschine, die auf der Basis molekularer Ursache-Wirkung-Mechanismen funktioniert.

Die Anthroposophische Medizin hingegen wende die Methoden und Erkenntnisse der Schulmedizin kritisch und differenziert an. Vor allem berücksichtigten ihre Vertreter die seelisch-geistige Dimension des Erkrankten. Die Anthroposophische Medizin versteht sich demnach nicht als ­alternative, sondern als komplementäre Medizin. »Wir sind innerlich nicht bei dem, was wir gerade machen«, sagte ihr Begründer Rudolf Steiner bereits 1912. Detailliert beschrieb Steiner das seelische und geis­tige Wesen des Menschen und erweiterte so das Verständnis von Gesundheit und Krankheit.

Die Heilung unterstützen

Die Heilmittel der Anthroposophischen Medizin entstammen dem Mineral-, dem Pflanzen- und dem Tierreich. Das Wesen dieser Mittel beruht nicht auf biochemischen Substanzen. Sie wirken vielmehr als Träger von Lebens- und Gestaltbildungsprozessen, die Heilungsvorgänge im Menschen unterstützen. Ihre Wirkung entsteht dadurch, dass Kräfte und Prozesse bei Menschen, Tieren, Pflanzen und Mine­ralien in Resonanz treten. Der anthro­posophisch orientierte Arzt sucht immer danach, was der einzelne Kranke ganz individuell für seinen Heilungsprozess benötigt, und möchte ihn durch unterschiedliche Maßnahmen auf dem Weg zur Heilung unterstützen.

Um das vegetative Nervensystem und die Lebenskräfte zu stärken und seelische Anspannung zu vermindern, setzt die Anthroposophische Medizin auch Einreibungen, Kunst-, Musik- und Sprachgestaltungstherapie oder rhythmische Massagen ein (siehe Kasten). Der Teufelskreis aus Erschöpfung, mangelnder Erholung und weiterer Erschöpfung kann durch die Kombination aus Aurum metallicum praeparatum D10 (Gold), Ferrum-Quarz D2 (Eisen in einer Verbindung mit Quarz) und Kalium phosphoricum D6 (wie in Neurodoron®) durchbrochen und durch abbauende Impulse ersetzt werden.

Laut Anthroposophischer Medizin stärken die beiden Metalle Gold und Eisen das Ich in der Auseinandersetzung mit der Welt, wenn diese zu einer Belastung geworden ist. Bei der empfohlenen Tages­dosis von drei- bis viermal täglich einer ­Tablette mit etwas Flüssigkeit tritt die ­Wirkung nach etwa 12 Tagen ein. Das Präparat ist auch für eine Kur von drei bis sechs Monaten geeignet. Da Dosis und The­rapiedauer jedoch individuell sehr unterschiedlich sind, sollten sie mit einem Arzt oder Heilpraktiker abgestimmt werden. /

E-Mail-Adresse der Verfasserin

blaubehr(at)gmx.net