Zwischen Rauschdroge und Heilpflanze |
19.08.2011 14:05 Uhr |
Von Daniela Biermann / Cannabis sativa, der Hanf, gehört zu den ältesten Heil- und Kulturpflanzen der Welt – und seine Inhaltsstoffe zu den ältesten Suchtstoffen. Wer die Pflanze allerdings nur in die Drogenecke stellt, urteilt vorschnell. Jetzt ist erstmals in Deutschland ein Arzneimittel auf Hanfbasis zugelassen.
Ursprünglich stammt Cannabis sativa aus den Steppengebieten Asiens. Schon das älteste chinesische Arzneibuch um 3000 vor Christus beschreibt das Hanfgewächs (eine Cannabaceae) als Heilmittel, inklusive seiner Wirkung auf die Psyche. Die ersten Kiffer gab es wohl noch früher, sogar auf deutschem Boden: Bei Ausgrabungen in Thüringen entdeckten Archäologen Hanfsamen aus der Zeit von 5500 vor Christus. Die passende Pfeife fand sich in Hügelgräbern aus der Bronzezeit in Bayern.
Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge und wird überwiegend in Form von Marihuana oder Haschisch geraucht. Als Fertig- oder Rezepturarzneimittel sind einzelne Inhaltsstoffe in Deutschland verkehrsfähig.
Fotos (v. o.): Techniker Krankenkasse, Ullrich Mies, Fotolia/Sven Koppe
Mittlerweile hat sich die bis zu 3,5 Meter hohe Pflanze weltweit von den gemäßigten bis in die tropischen Zonen ausgebreitet – zum Teil verwildert, aber vor allem legal und illegal angebaut. Offiziell gezüchtet wird hauptsächlich Nutzhanf, eine Sorte mit sehr niedrigem Gehalt an psychotropen Inhaltsstoffen. Aus den robusten Fasern ihrer Stängel werden unter anderem Taue, Dämmstoffe und Kleidung hergestellt, letztere oft sogar ökologisch zertifiziert. Da die Pflanze im Freien schnell und ohne Einsatz von Pestiziden wächst, wird Hanf auch als umweltverträglich mit einer günstigen Energiebilanz eingestuft.
Was die Pflanze für den medizinischen Gebrauch, aber auch den Missbrauch interessant macht, sind die enthaltenen Cannabinoide. Forscher haben bis jetzt in Cannabis sativa und ihrer Verwandten, dem Indischen Hanf (Cannabis indica), mehr als 60 dieser Polyketide entdeckt. Der bekannteste Vertreter dieser nur in Hanf vorkommenden Substanzgruppe ist das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (Δ9-THC), das erstmals 1942 chemisch isoliert wurde. Es bindet im Körper an die nach den Pflanzeninhaltsstoffen benannten Cannabinoid-Rezeptoren. Lange wunderten sich die Wissenschaftler, warum der menschliche Organismus über Andockstellen für die pflanzlichen psychotropen Substanzen verfügt. Doch 1992 entdeckten zwei Forscher das körpereigene Molekül Anandamid, das als Prototyp der Endocannabinoide gilt.
Gegen Schmerzen, für mehr Appetit
Mittlerweile ist bekannt, dass das menschliche Cannabinoid-System bei vielen Prozessen im Körper eine wichtige Rolle spielt, zum Beispiel bei der Gedächtnisleistung, der Schmerzleitung, der Appetitkontrolle und der Regulation von Brechreiz und des Immunsystems. So werden auch die Wirkungen der Cannabinoide verständlich: Δ9-THC bindet an die Cannabinoid-1-Rezeptoren (CB1) in Gehirn und Rückenmark sowie an die CB2-Rezeptoren im peripheren Nervensystem. Es unterdrückt dadurch die Immunabwehr und dämpft Schmerzen, außerdem kurbelt es den Appetit an und hemmt den Brechreiz. Daher dürfen zum Beispiel in manchen US-Bundesstaaten Krebspatienten auf Anweisung ihrer Ärzte Joints rauchen.
In Deutschland erteilt die Bundesopiumstelle solche Ausnahmegenehmigungen nur ganz selten für Patienten, die sehr schwer erkrankt sind. Das treibt viele verzweifelte Patienten in die Illegalität. Wenden sie sich an Drogendealer, machen sie sich aber nicht nur strafbar, sondern ge-hen auch die Gefahr ein, von diesen mit gesundheitsschädlichen Substanzen gestrecktes Marihuana oder Cannabis zu erhalten.
Gefährliche akute Nebenwirkungen
Marihuana besteht aus den getrockneten, weiblichen Triebspitzen (auch »Gras« genannt), Haschisch (»Pott«) aus dem getrockneten Harz der Pflanze. Das Harz enthält höhere Konzentrationen an Cannabinoiden. Da mittlerweile zahlreiche verschiedene Züchtungen auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, können Konsumenten kaum abschätzen, wie hoch der Cannabinoid-Gehalt der gekauften Ware wirklich ist.
Zwar bezeichnen viele Cannabis als »weiche Droge«, harmlos ist es aber dennoch nicht. Die Wirkung hängt stark von der inhalierten Dosis ab: 50 µg Δ9-THC pro Kilogramm Körpergewicht wirken mild sedierend und euphorisch, 100 µg führen zu Wahrnehmungsstörungen und einem veränderten Zeit- und Raumgefühl. Bei 200 µg ist mit Verwirrtheitszuständen und Halluzinationen zu rechnen. Ab 300 µg treten Übelkeit, Erbrechen und Schwindel auf. Bei noch höheren Dosen kommt es zu Sprach- und Gedächtnisstörungen, die Orientierung geht verloren, und das Herzinfarktrisiko steigt. Außerdem können Unruhe und Angstzustände auftreten.
Abhängigkeit bei Dauerkonsum
Vor allem aber hat der regelmäßige Konsum Langzeitfolgen: Die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nehmen stark ab, Gedächtnis und Reaktionsfähigkeit leiden. Die Konsumenten werden im Laufe der Zeit apathisch und verlieren jede Motivation. Manche erkranken an Schizophrenie. Relativ unbekannt ist die Tatsache, dass Cannabinoide den Hormonhaushalt beeinflussen. Sie stören zum Beispiel den Menstruationszyklus und die Spermienbildung. Entgegen weit verbreiteten Behauptungen werden regelmäßige Konsumenten von Cannabis abhängig! Bei Abstinenz reagieren sie auffällig gereizt und lichtempfindlich, schwitzen übermäßig, leiden unter Schlaflosigkeit und Übelkeit.
Die meisten Konsumenten inhalieren Cannabis in Form von Joints, da auf diese Weise die Bioverfügbarkeit besonders hoch ist. Aufgrund der intensiveren Inhalation schädigt der Tabak eines Joints die Lunge genauso stark wie sieben Zigaretten. Parallel dazu steigt das Risiko für Entzündungen und Krebserkrankungen der Atemwege.
Als besonders gefährlich haben sich unter Namen wie »Spice« angebotene Cannabinoide herausgestellt. Analysen ergaben, dass die angeblich natürliche Kräutermischung synthetisch hergestellte, bislang unbekannte Cannabinoide enthielt. Das Gemisch wurde per Eilverordnung verboten. Allerdings tauchen immer wieder neue Produkte mit neuen Inhaltsstoffen in den sogenannten »Headshops« und im Internet auf. Experten warnen generell vor der Verwendung solcher Produkte. Jeder Konsum ist in der Regel ein Experiment, da die Wirkung nicht vorhersehbar ist.
Rezepturen im NRF
Hanf wäre nicht über Jahrtausende als Heilpflanze genutzt worden, hätten Cannabinoide nicht auch medizinisch sinnvolle Effekte. Seit 2000 ist in Deutschland Dronabinol als Rezeptursubstanz zugelassen. Dronabinol ist der spiegelverkehrte Zwilling von Δ9-THC. Als chemisch definiertes Cannabinoid fällt es unter die Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes und ist damit im Gegensatz zu Cannabis verkehrsfähig. Das Neue Rezepturformularium enthält zwei Monographien zu Dronabinol: zur Herstellung von Hartkapseln (NRF 22.7) und öligen Tropfen (NRF 22.8), beide zur oralen Einnahme. Die Monographie der Substanz steht im Deutschen Arzneimittelcodex. Im DAC ist auch nachzulesen, dass die Rezeptursubstanz vor Licht geschützt werden muss.
Cannabis sativa ist ein einjähriges, zweihäusiges Kraut. Das heißt, die Pflanzen tragen entweder nur männliche oder nur weibliche Blüten. Die Blätter sind handförmig geteilt in fünf bis sieben gezähnte Abschnitte. Sie stehen gegenständig, am oberen Teil des Stängels auch wechselständig. Die Blüten sind eher unscheinbar. Während die männlichen Blütenstände rispenartige Trugdolden bilden, stehen die weiblichen Blüten in Scheinähren. Das Harz (Haschisch) entsteht als Sekret der Drüsenschuppen.
Cannabinoide helfen bei zahlreichen Indikationen: gegen Spasmen, Schmerzen und Blasenfunktionsstörungen bei Patienten mit Multipler Sklerose, bei Rückenmarksverletzungen, nach Schlaganfällen, bei Gürtelrose und Polyneuropathien sowie Patienten mit Krebs- und Phantomschmerzen. Bei AIDS- und Krebspatienten wird Dronabinol auch gegen Übelkeit, Erbrechen und Appetitlosigkeit verordnet. Außerdem soll die Substanz gegen Migräne, das Tourette-Syndrom und Morbus Parkinson helfen. Ärzte verschreiben Dronabinol in der Regel nur, wenn andere Medikamente versagen.
Fertigarzneimittel kommen und gehen
Seit Juli 2011 ist erstmals in Deutschland ein Fertigarzneimittel auf Cannabis-Basis auf dem Markt. Ärzte können das Arzneimittel nur auf Betäubungsmittelrezept verschreiben. Sativex® Spray enthält THC und Cannabidiol im Verhältnis 1:1 und wird in die Mundhöhle gesprüht. Cannabidiol wirkt im Gegensatz zu THC nicht psychoaktiv. Zugelassen ist es für Patienten mit Multipler Sklerose, die unter mittelschweren bis schweren Spastiken leiden und denen keine andere Therapie geholfen hat. Das Präparat soll die Reizübertragung der Nervenzellen verbessern.
Ein anderer Arzneistoff, der ins Cannabinoid-System eingreift, hat dagegen 2008 seine Zulassung wieder verloren: Rimonabant (Acomplia®). Im Gegensatz zu THC wirkt Rimonabant als Antagonist und zwar selektiv an den CB1-Rezeptoren im zentralen Nervensystem. Es unterdrückt das Hungergefühl und hilft somit beim Abnehmen. Bei einigen Patienten verursachte der Arzneistoff jedoch Schlafstörungen bis hin zu schweren psychischen Störungen wie Depressionen, Angstzustände und Aggressionen. Daher nahm die europäische Arzneimittelbehörde das Medikament nach nur zwei Jahren wieder vom Markt.
Foto: Bedrocan
In den Niederlanden verkaufen nicht nur Coffeeshops Marihuana, sondern seit 2003 auch Apotheken. Auf Rezept erhalten hier schwerkranke Menschen Cannabisblüten mit kontrollierten THC- und Cannabidiol-Gehalten (beispielsweise Bedrocan®, Foto). Der Hersteller rät aufgrund der schädlichen Wirkung des Tabaks vom Rauchen der pflanzlichen Bestandteile ab und empfiehlt, die Blüten in Wasser zu erhitzen und den Dampf zu inhalieren oder daraus einen Tee zu bereiten.
Die niederländische Regierung will ab Oktober nur noch Touristen aus dem benachbarten Deutschland und Belgien den Zutritt zu Coffeeshops erlauben. Pro Person und Tag dürfen diese nur 5 g Cannabis kaufen. Außerdem sollen die Läden in Clubs umgewandelt werden.
Eignet sich nun ein Joint oder ein (halb-)synthetisch hergestellter Einzelstoff besser zur Therapie? Auf diese Frage haben Pharmakologen noch keine befriedigende Antwort gefunden. Das Cannabinoid-System gilt weiter als attraktiver Angriffspunkt für neue Arzneistoffe. Doch offensichtlich greifen die bisher entwickelten Arzneisubstanzen noch nicht selektiv genug an den Rezeptoren an. Über den Konsum der pflanzlichen Droge liegen hingegen Erfahrungswerte aus jahrtausendelanger Anwendung vor. Allerdings müssten den Patienten für die Therapie standardisiertes Marihuana oder exakt definierte Pflanzenextrakte legal zur Verfügung stehen. An dieser Option wird allerdings in Deutschland derzeit nicht gearbeitet. /