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Atropin & Co.

Alkaloide, die ins Auge gehen

27.04.2015  13:58 Uhr

Von Edith Schettler / Zu früheren Zeiten bestanden Augenarzneien zumeist aus ausgepressten oder abgekochten Pflanzen. Viele hoch wirksame Giftpflanzen waren in der Volksmedizin eng verbunden mit Magie und Hexerei. Doch manches Arzneikraut wurde auf dem Labortisch eines Forschers entzaubert. So isolierten Wissenschaftler auch die Alkaloide Atropin, Physostigmin und Pilocarpin und entdeckten ihre Wirkung am Auge.

 

Ein faszinierender Mechanismus erlaubt dem Auge das, was bei jeder Kamera Schwierigkeiten bereitet: selbst bei schnellen Kopfbewegungen sowohl bei Dunkelheit als auch bei hellem Sonnenlicht Gegenstände scharf zu fokussieren. Gesteuert von zwei winzigen Muskeln ist die Pupille in der Lage, sich je nach Lichteinfall zu verengen oder zu erweitern und damit den exakt dosierten Lichtstrahl punktgenau zur Netzhaut zu leiten. Diesen Vorgang steuert das vegetative Nervensystem, in dem Sympathikus und Parasympathikus als Gegenspieler agieren.

Die beiden am Prozess beteiligten Muskeln liegen in der Iris, der Regenbogenhaut: der Sphinkter (Schließmuskel) iridis und der Dilatator (erweiternder Muskel) iridis. Den Sphinkter iridis steuern parasympathische Nervenfasern, den Dilatator die sympathischen. Je nachdem, welcher Tonus überwiegt, öffnet oder verengt sich die Pupille. Die Erweiterung der Pupille heißt auch Mydriasis, ihre Verengung Miosis. Die Größe der Pupille beeinflusst aber nicht nur den Lichteinfall, sondern auch wichtige Vorgänge im vorderen Teil des Auges: Zieht sich der Sphinkter iridis zusammen, öffnet sich die Kammerbucht im Abflusssystem des Kammerwassers, eine Kontraktion des Dilatators klemmt diese ab. Die Menge des Kammerwassers in der vorderen und hinteren Augenkammer bestimmt die Höhe des intraokularen Drucks.

Der dritte innere Augenmuskel, der Musculus ciliaris, steuert die Wölbung der Linse und sorgt so für das scharfe Sehen sowohl in der Nähe als auch in der Ferne, die sogenannte Akkomoda­tion. Wenn sich dieser Muskel zusammenzieht, macht er Platz für den Abfluss des Kammerwassers durch den Schlemm›schen Kanal. So trägt er ebenfalls zur Regulierung des Augen­innendrucks bei. Außerdem wird auch der Musculus ciliaris durch sympathische und parasympathische Nerven­fasern gesteuert.

Mit verschiedenen Arzneistoffen lässt sich dieses Geschehen zu diagnostischen Zwecken oder zur Behandlung einer krankhaften Störung, beispielsweise eines Glaukoms, beeinflussen.

Erste Berichte nach Reise durch Brasilien

Für das Glaukom, auch »Grüner Star« genannt, ist erhöhter Augeninnendruck ein Hauptrisikofaktor. Die Bezeichnung Glaukom soll auf Aristoteles (384–322 v. Chr) zurückgehen und von griechisch glaucos = meerfarben stammen. Eines der ältesten Glaukommittel ist das Pilocarpin, das Hauptalkaloid des südamerikanischen Jaborandi­strau­ches (Pilocarpus jaborandi). Die Substanz besetzt als direktes Parasympathomimetikum die muskarinergen Acetylcholin-Rezeptoren. Am Auge bewirkt Pilocarpin die Kontraktion des Sphinkters sowie eine Erschlaffung des Dilatator iridis und damit eine Miosis. Da sich zusätzlich der Musculus ciliaris zusammenzieht, kann somit das Kammerwasser durch das Trabekelwerk abfließen und der Augeninnendruck sinkt.

Die ersten Berichte über den Jaborandistrauch und die Wirkungen der Pflanze brachten der Holländer Willem Piso (1611–1678) und der Sachse Georg Marcgraf (1610–1644) im Jahr 1644 von ihrer achtjährigen Forschungsreise durch Brasilien nach Europa. Besonders Piso interessierte sich als Arzt für die Heilpflanzen der Eingeborenen und fertigte ausführliche Berichte über zahlreiche Arzneipflanzen an. So beschrieb er in seiner lange Zeit als Standardwerk der Tropenmedizin geltenden »Historia naturalis Brasiliae« neben den Jaborandiblättern unter anderem auch die Ipecacuanhawurzel.

Die Pflanze brachte im Jahr 1847 der brasilianische Arzt Dr. Coutinho nach Europa. Zunächst war unter Medizinern nur ihre schweißtreibende Wirkung bekannt. Doch bald begannen die Forscher, nach weiteren Anwendungsmöglichkeiten zu suchen.

Pilocarpin gegen meergrüne Augen

Mit Aufgüssen aus Jaborandiblättern beschäftigte sich der Ophthalmologe Adolf Weber (1829–1915) im Jahr 1876. Er hatte erfahren, dass zwei Chemiker das Hauptalkaloid des Jaborandistrauchs isoliert hatten. Also besorgte er sich eine kleine Menge der Pilocarpin genannten Substanz von der Firma Merck. Nachdem Weber herausgefunden hatte, dass das Alkaloid am Auge zur Miosis führt, veröffentlichte er im Jahr 1877 seine Erkenntnisse. In seiner Habilita­tionsschrift mit dem Titel »Die Ursache des Glaukoms« verglich er die Wirkung von Pilocarpin mit der des im Jahr 1864 gefundenen Physostigmins. In der Zusammenfassung seiner Schrift verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, dass Pilocarpin in Kürze die Iridektomie in vielen Fällen überflüssig machen wird. Damals war die Iridektomie (das Ausschneiden der Iris) die einzige Möglichkeit der Glaukomtherapie.

Weber sollte recht behalten: Tatsächlich war Pilocarpin bis in die jüngste Zeit das wichtigste Arzneimittel in der Glaukomtherapie. Aktuell enthalten nur noch einige wenige Präparate Pilocarpin, das allerdings nicht mehr aus Jaborandi­blättern extrahiert, sondern aus Zellkulturen gewonnen wird. Eine Synthese der Substanz wäre zu aufwendig und entsprechend teuer. Da sie keine Miosis erzeugen, haben Zubereitungen mit Betablockern wie Timolol, Alpha-2-Adreno­rezeptor-Agonisten wie Clonidin und Prostaglandinen wie Latanoprost die Anwendung von Pilocarpin in der Augen­heil­kunde stark zurückgedrängt.

Vergiftung befördert Forschung

Ein weiteres als Miotikum und Glaukommittel verwendetes Alkaloid ist das Physostigmin. Physostigmin wurde zwar zeitlich vor Pilocarpin entdeckt, es erreichte jedoch nie dessen Bedeutung. Adolf Weber warnte sogar in seinem Werk »Die Ursache des Glaukoms« vor der Gefahr der Substanz.

Physostigmin ist das Hauptalkaloid der in Afrika heimischen Calabar-Bohne (Physiostigma venenosum). Dieser Heilpflanze ist der Beitrag auf den Seiten 42 und 43 gewidmet. Nach Europa gelangten die Samen erst im Jahr 1846.

Dass sie recht schnell erforscht wurden, lag an einer Tragödie im Hafen von Liverpool: Spielende Kinder hatten einige der interessant aussehenden exo­tischen Bohnen gegessen und sich damit vergiftet. Die daraufhin eingeleiteten chemischen Untersuchungen der Früchte führten im Jahr 1864 zur Isolierung des Physostigmins durch die deutschen Chemiker Oswald Hesse (1835–1917) und Julius Jobst. Anhand des Vergiftungsbildes war beiden Forschern schnell klar, dass Physostigmin ein Anticholinergikum ist.

Erstes pflanzliches Miotikum

In Schottland experimentierte Robert Christison (1797–1882), Professor für Rechtsmedizin an der Royal Society of Edinburgh, mit den Calabarbohnen. Im Selbstversuch erprobte er deren toxische Wirkung und beschrieb sie in seinem Buch »A Treatise of Poisons« (»Eine Abhandlung über Gifte«). Sein Assistent Thomas Richard Fraser (1841–1920) testete im Jahr 1863 einen wässrigen Auszug aus Calabarbohnen am Auge und erzeugte so eine Miosis. Dieses Ergebnis besprach er mit seinem Freund, dem Augenchirurgen Douglas Moray Cooper Lamb Argyll Robertson (1837–1909). Robertson war als Ophthalmo­loge schon seit längerem auf der Suche nach einem Miotikum, um die pupillenerweiternde Wirkung von Atropin aufzuheben. Als Robertson die Lösung an seinen eigenen Augen anwandte, stellte er zu seiner großen Freude fest, dass Physostigma sowohl zu einer Kontraktion der Pupille als auch zu vorüber­gehender Kurzsichtigkeit führt.

Die erste Verbindung zwischen Physostigmin und dem Glaukom stellte der Straßburger Augenarzt Ludwig Laqueur (1839–1909) im Jahr 1876 her. Er litt selbst an einem Glaukom und war damit persönlich stark motiviert, eine Substanz zur Behandlung der Erkrankung zu finden. Als er nach Applikation einer Physostigminlösung die Absenkung des intraokularen Druckes bemerkte, benutzte er diese regelmäßig zur Behandlung seiner Glaukomanfälle. »Ich machte Gebrauch von diesem Mittel; es hat nicht in einem einzigen Fall versagt, ... Aber ich habe bald erfahren, dass es nicht vor der Rückkehr neuer Anfälle schützt«, schrieb er in seinem Buch »The History of my glaucomatosus illness«, das erst zehn Jahre nach seinem Tod erschien.

Im Gegensatz zu Pilocarpin ist Physostigmin ein indirektes Parasympathomimetikum, es verzögert den Abbau von Acetylcholin und verlängert damit dessen Wirkung am Rezeptor. Augentropfen mit Physostigmin werden heutzutage nicht mehr verwendet. In Deutschland ist noch ein einziges Arzneimittel mit dem Wirkstoff im Handel: Anticholium® Injektionslösung zur Behandlung postoperativ auftretender Störungen und als Antidot.

Das Geheimnis der bella donna

Das Alkaloid Atropin ist in Europa am längsten bekannt. Das liegt vermutlich auch daran, dass die Pflanzen, in denen der Wirkstoff vorkommt, in Mitteleuropa beheimatet sind. Es ist enthalten in Nachtschattengewächsen wie Alraunen (Mandragora), Engelstrompete (Brugmansia) und Stechapfel (Datura stramonium). Seinen Namen gab ihm der deutsche Apotheker Philipp Lorenz Geiger (1785–1836): Geiger hatte das Alkaloid im Jahr 1824 aus Atropa belladonna, der Schwarzen Tollkirsche, isoliert. Das Tropan-Alkaloid bildet sich durch Racemisierung aus S-Hyoscyamin im Prozess der Isolierung und ist vor allem in den Blättern der Tollkirsche (bis zu 1,5 Prozent) enthalten. Der Atropingehalt der Früchte beträgt nur etwa 0,65 Prozent, wegen der Verwechslungsgefahr mit essbaren Steinfrüchten führen sie aber weitaus häufiger zu Vergiftungen.

Die Bezeichnung »Belladonna« bringen etliche Autoren damit in Verbindung, dass sich die Italienerinnen im Mittelalter vor dem Treffen mit dem »Auserwählten« den Saft aus Tollkirschen in die Augen träufelten, um ihre Pupillen zu erweitern. So wirkten sie mit ihren schwarzen Augen auf die Männer anziehend, konnten diese aber aus der Nähe nicht mehr so gut erkennen – was in manchen Fällen von Vorteil gewesen sein kann.

Als Parasympatholytikum konkurriert Atropin an den muskarinergen Rezeptoren mit dem körpereigenen Acetylcholin und hebt dessen Wirkung auf.

Am Auge bewirkt Atropin eine Erweiterung der Pupille und vorübergehende Weitsichtigkeit. Doch auch S-Hyoscyamin aus Bilsenkraut- und Stechapfel­extrakten wirkt auf die gleiche Weise.

Den Effekt des Bilsenkrauts erlebte als erster Friedlieb Ferdinand Runge (1794–1864), als er als Lehrling in der Löwen-Apotheke in Lübeck eine Rezeptur mit Bilsenkrautsaft herstellen musste. Durch Ungeschick spritzte ihm die Lösung ins Auge. Er verspürte zwar keinen Schmerz, doch bemerkte zu seinem Entsetzen, dass sich die Pupille bald maximal erweiterte und seine Sehkraft stark nachließ. Erst nach Tagen war der Spuk vorbei, doch in Runge war der Forschergeist geweckt. Seinem Freund, dem im Zuge der all­gemeinen Mobilmachung gegen Napoleon die Einberufung zum Militärdienst drohte, verhalf er mit seinem neu gewonnenen Wissen über das Bilsenkraut zur Ausmusterung wegen scheinbarer Blindheit.

Geheimrat Goethe und das Katzenexperiment

Während seines Chemiestudiums in Jena konnte Runge Johann Wolfgang Döbereiner (1780–1849) mit seiner Dissertationsschrift zur Wirkung verschiedener Pflanzenextrakte am Katzenauge so beeindrucken, dass dieser einen Kontakt zu Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) vermittelte. Goethe war an der Physiologie des Auges aus der Sicht seiner Farbenlehre interessiert und empfing den jungen Mann im Oktober 1819. Runge war erstaunt, dass sich der Geheimrat »herabließ, einem unbedeutenden Studenten, mit seiner Katze unterm Arm, Audienz zu geben«. Die Pupillenerweiterung durch Stechapfelextrakt demonstrierte Runge am Auge der mitgebrachten Katze und erklärte dem Geheimrat auf Nachfrage, er habe den unvermischten Saft des zerstampften Krauts ins Auge gebracht. Dieser hatte bereits von Döbereiner erfahren, dass auch »die Arten der Gattung Belladonna und Datura auf gleiche Weise wirken, wie die von Hyoscyamus«.

In Deutschland sind noch Zubereitungen von Atropin im Handel. Sie werden eingesetzt, um für diagnostische Zwecke die Akkomodation am Auge auszuschalten, um Iris und Ziliarkörper beispielsweise bei Irisentzündungen oder -verletzungen ruhig zu stellen sowie als Antidot bei Vergiftungen mit Parasympathomimetika. /