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Amyotrophe Lateralsklerose

Ein Kampf gegen die Zeit

27.04.2015  13:58 Uhr

Von Katrin und Tim Schüler / Im Sommer 2014 veröffentlichten die Medien ungewohnte Bilder: Unzählige Prominente, aber auch andere Menschen in westlichen Industrie­staaten übergossen sich mit einem Eimer Eiswasser. Immer mehr Menschen folgten dem Trend, motivierten weitere zur Teilnahme und stellten Videos der Aktionen bei den sozialen Netzwerken ins Internet.

Die Idee zur sogenannten »ALS Ice Bucket Challenge« stammte von dem selbst an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten ehemaligen amerikanischen Baseballspieler Peter Frates, der sich schon seit längerer Zeit für die wissenschaftliche Untersuchung der ALS einsetzt. Mit der weltweiten Kampagne verband er die Hoffnung, möglichst hohe Spendeneinnahmen für die ALS-Forschungseinrichtungen zu erzielen. Frates ist inzwischen vollständig gelähmt. Jeder, der sich mit einem Eimer eiskalten Wassers überschüttet, hat – wenn auch nur für kurze Zeit – das Gefühl, sich nicht bewegen zu können. Welche Auswirkungen ALS insgesamt hat, kam in den Medienberichten leider häufig zu kurz.

Eine seltene Erkrankung

Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine schwerwiegende neurologische Erkrankung. Das Hauptproblem ist die Degeneration von motorischen Nervenzellen. Damit ist ALS eine sogenannte Motoneuropathie. Dieser Prozess führt dazu, dass die Patienten sämtliche Muskeln ihres Körpers nicht mehr bewegen können. Trotz medizinischer Interventionen beträgt die Überlebensrate der Erkrankten in den meisten Fällen nur wenige Jahre. Spätestens mit der Lähmung der Atem- und Schluckmuskulatur endet ALS tödlich. Schwer pflegebedürftige Patienten sterben häufig infolge einer Infektion, insbesondere der Atemwege. So erhöht beispielsweise die künstliche Beatmung das Risiko einer Pneumonie.

Wichtig für das Verständnis der Erkrankten ist, dass ALS-Patienten trotz der motorisch schweren Behinderung, ihre Krankheit stets bei vollem Bewusstsein erleben, da ihre Sensorik, Sensibilität und Kognition nur selten beeinträchtigt sind.

Die meisten Patienten erkranken im mittleren Lebensalter und leben nach der Diagnose durchschnittlich nur noch drei bis fünf, in Ausnahmefällen zehn bis 15 Jahre. Ein oft zitiertes Gegen­beispiel ist der britische Astrophysiker Stephen Hawking, der seit 1963 an einer chronisch juvenilen und gleichzeitig extrem langsam verlaufenden ALS leidet. Da keine Therapie ALS heilt, wird der Krankheitsverlauf für alle Betroffenen stets zum Kampf gegen die Zeit.

In der Europäischen Union gelten Erkrankungen als selten, von denen nicht mehr als 5 von 10 000 Menschen betroffen sind. Bei ALS liegt die Erkrankungsrate sogar noch niedriger: maximal 8 von 100 000 Menschen erkranken daran.

Die genauen Ursachen für ALS und der exakte Entstehungsprozess der Krankheit sind selbst mit den Möglichkeiten der heutigen Wissenschaft nicht vollständig geklärt. Forscher vermuten jedoch, dass bestimmte modifizierte Proteine die Degeneration der Nervenzellen hervorrufen. Dieses allgemeine Modell der Proteinopathie gilt für viele weitere neurodegenerative Erkrankungen, wie Morbus Alzheimer, Chorea Huntington oder Morbus Parkinson.

Neurotoxischer Prozess

Modifizierte Proteine können durch Synthesefehler entstehen. Tritt dieser Vorgang oft ein, sammeln sich diese veränderten Proteine zu Konglomeraten an, vermüllen so die Zellen und führen zu deren Untergang. Nicht genau geklärt ist es, ob die Proteinkonglomerate oder deren Vorläuferstufen neurotoxisch wirken.

Der Untergang der Nervenzellen ist gut zu erkennen, wenn man histologische Schnitte unter dem Mikroskop betrachtet. Aufallend ist nicht nur die Atrophie, sondern auch der sklerotische Umbau der absteigenden motorischen Bahnen in Gehirn und Rückenmark (der sogenannten Pyramidenbahn). Auch die motorischen Kerne der Hirnnerven können betroffen sein. Die genannten Nervenbahnen befinden sich am Rückenmark vor allem im Seitenstrang. Daher stammt auch die Bezeichnung »Lateralsklerose« (von lat. lateralis = seitlich).

Als mögliche Auslöser werden Retroviren diskutiert, die das Genom des Wirts modifizieren können. Autoimmune Prozesse oder eine genetische Beteiligung als Ursache gelten als umstritten. Der größte Anteil der Erkrankungen entfällt auf die sogenannte sporadische Form der ALS, bei der kein Zusammenhang zu Auslösern oder Ursachen zu finden ist.

Typische Symptome

Um die Beschwerden besser verstehen zu können, ist ein Blick in die Anatomie hilfreich. Das motorische ZNS arbeitet nach dem »Zwei-Neuronen-Prinzip«. Das erste Motoneuron reicht vom Gehirn bis ins Rückenmark und gewährleistet den Informationsfluss vom Gehirn weg. Das zweite Motoneuron schließt sich noch innerhalb des Rückenmarkes dem ersten auf Höhe der Austrittsstelle an und ist mit dem Zielmuskel verbunden.

Die ALS-Motoneuropathie ist eine Erkrankung beider Motoneuron- Typen. Somit entwickelt ein Patient im Verlauf der Erkrankung zum Teil widersprüchliche Symptome. Fällt das erste Motoneuron aus, verliert der Erkrankte seine Geschicklichkeit. Im weiteren Verlauf der Erkrankung folgen krampfartige Muskellähmungen, übertriebene Reflexe (Hyperreflexie). Charakteristisch für Ausfälle des zweiten Motoneurons sind Kraftverlust, verminderte Reflexe sowie eine ausgeprägte Muskelatrophie.

Ein charakteristisches Zeichen ist die Atrophie der mimischen Gesichtsmuskulatur, sodass das Gesicht ausdruckslos erscheint. Atrophie und Arthrose an den betroffenen Extremitäten führen zu starken Schmerzen und Muskelkrämpfen. Die Eigenreflexe der Muskeln sind bei den Erkrankten meist gesteigert. So zeigen die Patienten beispielsweise das Babinski-Zeichen (pathologische Zehenbewegung bei Stimulation der Fußsohle). Außerdem sind oft unbeabsichtigte Zuckungen kleinerer Muskeln oder Muskelfasern typisch.

Das wichtigste Krankheitssymptom ist der langsame Verlust der Muskelkraft an den Extremitäten, der sich zum Rumpf hin ausbreitet. Schließlich kommt es zur vollständigen Lähmung der Muskulatur, auch der Atem- und Schluckmuskulatur. In diesem Krankheitsstadium können die Patienten auch nicht mehr essen, trinken und sprechen. Ferner ist der Hustenreflex ausgeschaltet. Wenn Patienten sich verschlucken, können sie Speisekrümel nicht mehr aushusten. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Lungenentzündung. Am Ende des Krankheitsprozesses kann der Patient sich überhaupt nicht mehr bewegen (Locked-In Syndrom).

Wie sicher ist die Diagnose?

Aufgrund der charakteristischen Symptome ist die klinische Diagnose ab einem gewissen Stadium relativ eindeutig. So lässt sich zum Beispiel mit einem mechanischen oder Kältereiz eine sichtbare, blitzartige Muskelkontrak­tion auslösen. Mit einem Elektromyogramm kann der Arzt zudem die Muskel­aktivität messen. Indem er Muskelgewebe entnimmt und untersucht, kann er zwischen neurogener und myogener Muskelatrophie unterscheiden. Im Fall der ALS ist die Atrophie des Muskelgewebes neurogen bedingt. Außerdem kann der Arzt im CT- oder MRT-Bild Atrophien des zentralen Nervensystems erkennen.

Die Rolle der Apotheke

Therapeutisch betrachtet ist die Situation bei ALS deprimierend: Die Erkrankung ist weder heilbar, noch lassen sich die Symptome zufriedenstellend behandeln. Eine neue möglicherweise Erfolg versprechende Therapie mit Stammzellen, die die Krankheit zum Stillstand bringen und die Lebensqualität verbessern soll, wird in Deutschland derzeit nicht angewendet. Das Argument: Der Erfolg dieser Methode sei durch die aktuelle Studien- und Datenlage bisher noch nicht ausreichend belegt. Daher ist das beste Vorgehen in der momentanen Situation, dass Ärzte, Pflegekräfte, Physio-, Ergo- und Psychotherapeuten dem Patienten gemeinsam und fachübergreifend helfen. Hier kommt auch der Apotheke vor Ort eine wichtige Rolle bei der Arznei- und Hilfsmittelversorgung zu.

Das »Zwei-Neuronen-Prinzip«

Der Begriff Motoneuron fasst alle efferenten, also ausführenden Nervenzellen zusammen. Diese auch motorische Neuronen genannten Nerven sorgen dafür, dass sich die Muskeln auf einen Impuls aus dem ZNS aktiv kontrahieren lassen.

Das erste Motoneuron, auch als oberes Motoneuron bezeichnet, reicht nie bis direkt zum Muskel, sondern endet immer am zweiten Motoneuron.

Das zweite Motoneuron, auch unteres Motoneuron genannt, ist der eigentliche Impulsgeber für die Muskeln, im dargestellten Beispiel für den Schenkelstrecker im Oberschenkel.

Zeitabstand wichtig

Bei der Abgabe des Glutamatantagonisten Riluzol sollten PTA oder Apotheker darauf hinweisen, dass die Tabletten möglichst immer zur gleichen Zeit und im gleichen Zeitabstand eingenommen werden sollen. Riluzol kann die Überlebenszeit verlängern, da es Glutamat beziehungsweise dessen Neurotoxizität ausbremst. Die Einnahme des Acetylcholinesterasehemmers Pyridostigminbromid dient der Erleichterung der Muskelkontraktion.

Gegen den mit der Schluckstörung verbundenen übermäßigen Speichelfluss erhalten ALS-Patienten in der Regel entweder anticholinerge Medikamente wie Amitriptylin, Methionin oder Scopolamin oder ersatzweise eine Injektion von Botox in die Speicheldrüsen. Dies soll das Risiko senken, dass die Patienten sich an Speichel verschlucken.

Psychopharmaka wie Benzodiazepine setzen Ärzte im Verlauf der Erkrankung häufig zur Behandlung von Angstzuständen ein. Aufgrund der Schluckstörung müssen die Arzneistoffe oft sublingual, buccal oder über eine PEG-Sonde appliziert werden.

Folgen der ALS auf Atmung und Schlucken

  • Einatemmuskulatur zu schwach: Minderatmung und Abhust­störung
  • Ausatemmuskulatur zu schwach: Abhuststörung/Verschleimung mit Infektionsgefahr der Lunge
  • Rachenmuskulatur zu schwach: Gefahr der Aspiration

Durch die Atemprobleme werden die Patienten nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Neben der maschinellen Beatmung erhalten sie Morphine, da diese die subjektive Sauerstoffschwelle im ZNS herabsenken und damit das Erstickungsgefühl dämpfen.

Darüber hinaus ergänzen Inhalationen von Sole oder anticholinergen Bronchodilatatoren wie Ipatropiumbromid und/oder Betablockern wie Metoprolol oder Propranolol die symptomatische Therapie. Manche Patienten nehmen auch Mucolytika, zum Beispiel N-Acetylcystein, ein. Zur richtigen Anwendung der Arznei- und Hilfsmittel sowie zur hygienischen Hand­habung von Inhalationsgeräten wird die Beratung von PTA und Apotheker dringend benötigt.

Palliative Therapie

Der schwere Krankheitsverlauf belastet sowohl die Patienten als auch die Pflegenden enorm. Mit der Zeit verliert der Patient komplett seine Eigenständigkeit und ist auf fremde Hilfe angewiesen. Das führt in vielen Fällen zu Demoralisierung, totaler Erschöpfung und Depressionen. In der Erkenntnis der Ausweglosigkeit ihrer Situation wählen manche Patienten den Weg in das palliative Therapiekonzept. In der Konsequenz lehnen sie alle lebens­verlängernden Maßnahmen ab und die Behandlung konzentriert sich auf die Linderung der Symptome.

Hilfestellungen für Patienten und Pflegende bietet im Besonderen die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. in Freiburg. Interessierte können diese Vereinigung über die Homepage www.dgm.org und deren Landesverbände kontaktieren. /