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Kalabarbohne

Früher Gottesurteil – heute Antidot

27.04.2015  13:58 Uhr

Von Gerhard Gensthaler / Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts fehlt die Kalabarbohne gänzlich in den Arznei- und Heilpflanzenbüchern Europas. Erst 1864 isolierten deutsche Wissenschaftler den Hauptinhaltsstoff der Pflanze, das Physostigmin. Als Antidot bei Vergiftungen mit Atropin wird Physostigmin bis heute eingesetzt.

Die Bewohner Westafrikas nutzten die Bohne für sogenannte Gottesurteile: Der Hexerei Angeklagte, deren Schuld fraglich war, konnten oder mussten eine große Anzahl Kalabarbohnen schlucken. Starben sie daraufhin, so war ihre Schuld erwiesen. Erbrach der Beschuldigte jedoch die Bohnen, galt er als unschuldig. Heute ist bekannt, dass die schnelle Aufnahme großer Mengen Kalabarbohnen den Magen stark reizt und so Erbrechen verursacht. Kleinere Mengen hingegen werden nicht erbrochen, sondern wirken tödlich.

Auch zur gezielten Tötung wurde die Kalabarbohne bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts in Westafrika eingesetzt, bis die englische Kolonialmacht den Besitz von Kalabarbohnen grundsätzlich verbot. In Nigeria gilt dieses Verbot noch heute und der Besitz der Bohnen wird bestraft.

Nur ungern zeigten die Bewohner Westafrikas den ersten Weißen die Pflanze und ihre Samen. Um in den Besitz der Samen zu kommen, ließen die Häuptlinge meist alle Pflanzen bis auf wenige zerstören. Sie alleine bewahrten die Samen auf und hüteten sie.

Erst im Jahr 1846 wies der schottische Arzt und Toxikologe Robert Christison (1797–1882) als Erster auf die giftigen Eigenschaften hin. Der Missionar W.C. Thomson schickte dann einige Jahre später dem schottischen Arzt und Botaniker Professor John Hutton Balfour (1808–1884) einige Exemplare nach Edinburgh. Von Balfour stammt daher die erste Veröffentlichung aus dem Jahr 1860.

Physostigma venenosum, Balfour, aus der Familie der Fabaceae, ist eine mehrjährige, bis zu 15 m lange Liane, die in der Hauptsache an der Westküste Afrikas vorkommt, insbesondere in Nigeria. An den tropischen Küsten Westafrikas wächst die Liane bevorzugt an Flussufern oder sogar im flachen Wasser. Kleinere Mengen finden sich in Indien und Brasilien. Ihre Blätter sind dreiteilig und eiförmig zugespitzt, ihre großen Blüten purpurrot gefärbt, schneckenförmig eingerollt und hängen traubenartig nach unten. Die dicken, braunen Früchte stecken in bis zu 16 cm langen Hülsen. Jede Frucht enthält zwei oder drei Samen. Die Samen sind eiförmig oder leicht nierenförmig gebogen, bis zu 30 mm lang, 20 mm breit und 15 mm dick. Die leicht gerunzelten dunkelrotbraunen bis schwarzbraunen Samen glänzen matt. Da die Samen schwimmen können, verbreiten sie sich entlang der Küsten weiter.

Der Name Kalabarbohne (Physostigma venenosum, Balfour) leitet sich von ihrer ursprünglichen Herkunftsregion, der westafrikanischen Provinz mit der Hafenstadt Calabar ab. Der botanische Name setzt sich aus dem griechischen physa = Blase, stigma = Narbe und venenosum = giftig zusammen. Aufgrund ihrer früheren Verwendung heißt die Droge im Volksmund auch Gottes­gerichtsbohne oder Gottesurteilsbohne, in Frankreich Fève de Calabar und in England Calabar bean oder chop-nut.

Wirksamer Inhaltsstoff

Die Samen der Kalabarbohne enthalten in der Hauptsache Stärke, Schleimstoffe, Proteine und Fette. Bedeutsam ist der Gehalt von mehr als 1 Prozent Alkaloide, hier inbesondere des Indolalka­loids Physostigmin (auch Eserin genannt). Die Substanz wurde 1864 von den zwei deutschen Chemikern und Fabrikanten Julius von Jobst (1839–1920) und Oswald Hesse (1835–1917) aus einer Kalabarbohne isoliert.

Ein zweites Alkaloid entdeckten der deutsche Pharmakologe Erich Harnack (1852–1915) und der Arzt und Psychologe Ludwig Witkowski (1849–1927) im Jahr 1876 in den Samen, das sie Calabrin nannten. Seine Wirkung ist dem Strychnin ähnlich.

Das in der Bohne enthaltene Physostigmin wirkt erregend auf das parasympathische Nervensystem, indem es die Cholinesterase hemmt. Dadurch steigt die Konzentration von Acetylcholin im synaptischen Spalt, was die Aktivität des Parasympathikus erhöht. Aus diesem Grund wirkt es als Antidot des Atropin.

Physostigmin wird nicht nur als Antidot bei Vergiftungen mit Atropin eingesetzt, sondern auch bei Überdosierungen mit anderen Alkaloiden, die den Botenstoff Acetylcholin hemmen. Bereits 6 bis 10 mg Physostigmin gelten als tödliche Dosis. Das entspricht in etwa 2 bis 3 Bohnen.

Klassisches Miotikum

In therapeutischer Dosierung dienten das Salicylat und Sulfat des Physostigmins früher in der Augenheilkunde zur Behandlung des Glaukoms (grüner Star). Dabei wurde das Salicylat am häufigsten verwendet, da es gut kristallisiert und nicht hygroskopisch ist. Physostigmin ist in kristalliner Form nur dann stabil, wenn es vor Licht, Luft und Feuchtigkeit geschützt wird. Die therapeutisch genutzte Hauptwirkung des Alkaloids bezieht sich aufs Auge: Hier führt es zur Engstellung der Pupille (Miosis), sodass der Augeninnendruck sinkt. Im Gegensatz zum Pilocarpin nimmt die Wirkung von Physostigmin allerdings bei längerer Anwendung ab. Damit eignet es sich nicht zur Dauerbehandlung eines Glaukoms. Eine Reihe von Ophthalmika zur Glaukombehandlung enthielt daher die Kombination aus Physostigminsalicylat und Pilocarpin. Kontraindiziert ist Physostigmin bei einer akuten Entzündung der Regenbogenhaut (Iritis acuta) sowie bei allen Erkrankungen, bei denen eine Engstellung der Pupillen unerwünscht ist. Außerdem steigert Physostigmin die Peristaltik des Magen-Darm-Traktes und regt Drüsen zur vermehrten Sekretion an.

Dosen über 1 mg führen zu Erbrechen, Schweißausbrüchen, Tränen- und Speichelfluss sowie Miosis. Charakterisch für eine Vergiftung sind lang andauernde Muskelzuckungen. Maßnahmen gegen die Intoxikation sind Magenspülung sowie die Gabe von Aktivkohle und unter Umständen von Natriumsulfat. Gegen die Krämpfe kann Diazepam verabreicht werden. Als spezifisches Antidot kommt Atropin infrage. Ein auftretender Schock muss intensivmedizinisch behandelt werden. Der Tod tritt durch Atemstillstand ein.

Das HAB 2013 enthält eine Monographie der Kalabarbohne. Darin wird vorgeschrieben, dass nur die getrockneten Samen von Physostigma venenosum Balf. verwendet werden dürfen, die mindestens 0,14 Prozent nicht flüchtige Basen, berechnet als Physostigmin enthalten.

Neben der Beschreibung der mikroskopischen Merkmale der Samen werden sie mit Dünnschichtchromatographie auf Identität sowie auf Reinheit geprüft. Zur Gehaltsbestimmung (Prozentgehalt an Physostigmin) wird die spezifische Adsorption einer angefertigten Lösung bei 520 nm gegen Chloroform gemessen.

Die homöopathische Urtinktur wird aus der pulverisierten Droge und die ersten flüssigen Verdünnungen nach Vorschrift 4a mit 86-prozentigem Ethanol 86 Prozent hergestellt. Für die 4. Dezimalverdünnung wird 62-prozentiger Ethanol und für die folgenden Verdünnungen 43-prozentiger Ethanol eingesetzt. Die Urtinktur ist blassgelb und riecht süßlich. Identitätsprüfung und Gehaltsbestimmung entsprechen denen der Droge.

Homöopathen wenden die Kalabarbohne vielseitig an, so zum Beispiel zur Behandlung des Bluthochdrucks. Unter dem Namen Calabar ist sie unter anderem als Dilution, Globuli und Tabletten ab D4/C4 im Handel. /