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Reisekrankheit

Übelkeit nicht nur in Bus und Bahn

27.04.2015  13:58 Uhr

Von Ulrike Viegener / Erbrechen bei hohem Seegang und Übelkeit auf kurvenreichen Alpenpässen sind die Klassiker. Aber auch ganz andere Situationen provozieren manchmal Symptome der Reisekrankheit. Seeleute schwören auf Ingwer. Die Apotheke hält neben Phytopharmaka auch synthetische Wirkstoffe bereit.

Mit dem Reisen hat die Reisekrankheit eigentlich nur indirekt zu tun. Ausschlaggebend sind Bewegungen, wie es der Fachbegriff »Kinetose« (von griechisch kinein = bewegen) besser zum Ausdruck bringt. Schnell wechselnde Bewegungen, die mit widersprüchlichen Botschaften ans Gehirn verbunden sind, zeichnen verantwortlich für Übelkeit und Erbrechen, für Schwindel und Kopfschmerzen sowie für Müdigkeit bis hin zur Apathie. Auch spielt die Tatsache eine Rolle, dass diese Bewegungen passiv erlebt werden. So kann es auf kurvenreicher Strecke vorkommen, dass der halbe Bus über Übelkeit und Unwohlsein klagt – der Fahrer jedoch in aller Regel verschont bleibt.

Karussell und Kamele

Das Phänomen der Reisekrankheit macht einigen Menschen auch in den obersten Etagen eines Wolkenkratzers zu schaffen, anderen beim Kirmes­besuch, in der Seilbahn, im Helikopter oder im Rettungswagen. Sogar manche Computerspiele können eine Kinetose provozieren. Das Schaukeln während eines Kamelritt ist zwar eine exotische, aber verbürgte Variante. In vielen dieser Situationen ist der Betroffene Bewegungen mit schnellen Richtungsänderungen ausgesetzt, die er nicht vorhersehen kann und die seine Orientierungsfähigkeit und seinen Gleichgewichtssinn auf eine harte Probe stellen.

Widersprüchliche Botschaften

Zur Orientierung im Raum werden im Gehirn Informationen von verschiedenen Sinnesorganen laufend miteinander verglichen und zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Die Augen sind maßgeblich daran beteiligt ebenso wie das im Innenohr lokalisierte paarige Gleichgewichtsorgan, und auch in der Nackenmuskulatur befinden sich in großer Dichte Messfühler, die zum Gesamtbild beitragen.

Das Gleichgewichtsorgan besteht aus drei senkrecht zueinander ausgerichteten Bogengängen, die mit Flüssigkeit gefüllt sind. Drehbewegungen des Kopfes führen dazu, dass sich diese Endolymphe verschiebt. Dadurch werden haarförmige Sinneszellen der Bogengänge gereizt, die dann eine Drehbeschleunigung ans Gehirn melden. Lineare Änderungen der Geschwindigkeit werden im Gleichgewichtsorgan ebenfalls registriert.

Tipps für das Beratungsgespräch

Folgende Tipps helfen gegen Reisekrankheit:

  • Möglichst selbst Auto fahren. Als Beifahrer den Blick auf einen festen Punkt am Horizont richten. Während der Autofahrt nicht lesen. Regelmäßige Pausen an der frischen Luft machen.
  • Bei Bahnreisen in Fahrtrichtung sitzen.
  • Auf Seereisen den Horizont fixieren. Auf Deck an der frischen Luft und in der Mitte des Schiffs aufhalten.
  • Im Flugzeug einen Gangplatz auf Höhe der Tragflächen wählen.
  • Nachts reisen und währenddessen schlafen, denn dann ruht auch der Gleichgewichtssinn.
  • Mindestens 24 Stunden vor Reisebeginn keinen Alkohol mehr trinken und nur leichte, fettarme Mahlzeiten einnehmen.

Auch wenn nicht abschließend geklärt ist, wie es zu den Symptomen einer Kinetose kommt, so gilt doch als sicher, dass die verschiedenen Instanzen – Sehsinn, Gleichgewichtssinn und Muskelspindeln des Nackens – widersprüchliche Informationen ans Gehirn liefern. Schauen beispielsweise die Beifahrer beim Autofahren auf kurviger Strecke nicht auf die Straße, sehen sie die Bewegung nicht, insbesondere, wenn sie lesen oder eine Karte studieren. Gleichzeitig meldet aber das Gleichgewichtsorgan sehr wohl Signale einer Bescheunigung ans Gehirn. Erschwerend kommen der schnelle Richtungswechsel sowie die Tatsache hinzu, dass Beifahrer die Bewegungen des Fahrzeugs nicht kontrollieren oder vorausahnen können, sondern ihnen passiv ausgesetzt sind.

Das Gehirn schlägt Alarm

Mit der Verarbeitung der widersprüchlichen Informationsflut ist das Gehirn überfordert. Es nimmt wahr, dass die Signale nicht übereinstimmen, kann aber nicht einordnen, was genau gerade passiert. Also schlägt das Gehirn Alarm und Stresshormone werden ausgeschüttet. Der Stoffwechsel wird auf Notprogramm gestellt und heruntergefahren, womit sich erste Anzeichen einer Kinetose wie Müdigkeit und häufiges Gähnen, Konzentrationsmangel und Kopfschmerzen erklären. Typisch sind außerdem kalte Schweißausbrüche, Herzrasen und vermehrter Speichelfluss sowie die Kardinalsymptome Übelkeit und letztlich Erbrechen.

Den Brechreiz löst die Hirnzentrale aus, um den vermuteten Schaden zu begrenzen. Im Fall einer Vergiftung dient er dazu, Giftstoffe aus dem Körper zu eliminieren. Die widersprüchlichen Signale bei einer Kinetose deutet das Gehirn offenbar falscht, oder es aktiviert auf gut Glück den Brechmechanismus, um das rätselhafte Problem auf diese Weise zu lösen.

Leichtes Unwohlsein bis hin zur Apathie

Wie heftig Menschen an Reisekrankheit leiden, ist sehr unterschiedlich: Manchen ist nur ein wenig flau im Magen, andere fühlen sich sterbenskrank. Sie müssen sich immer wieder übergeben und können sich kaum auf den Beinen halten. Apathisch hoffen sie, das Schlingern, Schaukeln oder Kurven möge bald ein Ende haben.

Fast jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens mindestens eine mehr oder weniger ausgeprägte Episode einer Kinetose. Die Empfindlichkeit ist jedoch individuell sehr verschieden. Besonders anfällig sind Kinder zwischen drei und zwölf Jahren, während Säuglinge so gut wie nie betroffen sind. Im Alter lässt die Häufigkeit von Kinetosen dann wieder nach. Frauen werden oft während »ihrer Tage« reisekrank, und auch während der Schwangerschaft ist das Risiko erhöht. Menschen, die unter Migräne leiden, sind ebenfalls besonders anfällig.

Wer erfahrungsgemäß zur Reisekrankheit neigt, sollte entsprechende Vorkehrungen treffen. Mit einer Reihe von Verhaltensregeln lässt sich das Risiko reduzieren. Die wichtigsten sind im Kasten »Tipps für das Beratungsgespräch« aufgeführt. Wer bereits unangenehme Erfahrungen gemacht hat, sollte bei Seegang oder in anderen Risikosituationen grundsätzlich auf Alkohol verzichten, denn nur dann kann das Gehirn die richtigen Schlüsse ziehen.

Vor dem Transport in einem Rettungswagen sollten die Sanitäter nach Möglichkeit auf eine erhöhte Anfälligkeit für Kinetosen hingewiesen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand der auf der Rettungsliege transportierten Person während der Fahrt noch weiter verschlechtert.

In der Seefahrt bewährt

Seeleute verwenden seit jeher Ingwer, um nicht seekrank zu werden, und auch heute noch gilt das Kauen von Ingwerwurzel als guter Tipp. Menschen mit bekannter Anfälligkeit sollten allerdings besser standardisierte Extrakte zur Prophylaxe verwenden. Die erste Einnahme erfolgt noch vor Reisebeginn, und während der Reise wird die Anwendung konsequent fortgeführt.

Außerdem gibt es eine Reihe synthetischer Medikamente, die zur Prophylaxe und Behandlung von Kinetosen geeignet sind. Dimenhydrinat ist ein Salz aus Diphenhydramin und Chlortheophyllin. Der H1-Rezeptor- Blocker wirkt antiemetisch und dämpft den Schwindel, hat aber den Nachteil, müde zu machen beziehungsweise bestehende Müdigkeit noch zu steigern. Deshalb wurde der H1-Blocker mit stimulierendem Chlortheophyllin kombiniert. Das rezeptfreie Medikament ist in verschiedenen Darreichungsformen im Handel: als Kaugummi, Tablette und Zäpfchen. Immer sollte das Apothekenteam bei Abgabe eines Präparates die Anwendung erklären und auch auf die Kontraindikationen hinweisen.

Komfortabel: ein Pflaster

Einer der wirksamsten Arzneistoffe gegen die Reisekrankheit ist Scopolamin. Der in hoher Dosis tödliche Inhaltsstoff von Nachtschattengewächsen wie Stechapfel und Bilsenkraut wirkt in niedriger Dosierung leicht beruhigend und hemmt das zentral­nervöse Brechzentrum. Transdermale Scopolamin-Pflaster sind eine komfortable Möglichkeit, der Reisekrankheit vorzubeugen. Sie werden einige Stunden vor Reiseantritt appliziert und setzen dann über mehrere Tage den Wirkstoff frei.

Außer dem Pflaster sind auch andere Darreichungsformen zur oralen, sublingualen und nasalen Applikation verfügbar. Über mögliche Nebenwirkungen des rezeptpflichtigen Medikaments – vor allem Müdigkeit und Sehstörungen – sollten PTA oder Apotheker die Anwender informieren. Bei Patienten mit Grünem Star besteht das Risiko eines Glaukomanfalls.

Im Hinblick auf die Reisekrankheit hat der Calciumantagonist Cinnarizin in Kombination mit dem Antihistaminikum Dimenhydrinat gleich mehrere günstige Effekte. Über die Blockade des H1-Rezeptors verringert Cinnarizin Schwindel und Übelkeit. Zur antiemetischen Wirkung trägt außerdem ein direkter Effekt am Gleichgewichtsorgan im Innenohr bei: Hier unterdrückt Cinnarizin die Weiterleitung von Nerven­impulsen ans Brechzentrum. Außerdem fördert der Wirkstoff die Durchblutung des Innenohrs, wofür zwei Mechanismen – Gefäßerweiterung und Senkung der Blutviskosität – verantwortlich sind. Auch bei Cinnarizin ist Müdigkeit die häufigste Nebenwirkung.

Potenzierte Brechgifte

Die Homöopathie setzt auf hoch verdünnte Brechgifte wie Brechnuss und Tabak. Vor allem bei Kindern setzen Homöopathen gegen die Reisekrankheit gerne das Komplexpräparat Similasan ein, das die Komponenten Cerium oxalicum, Hyoscyamus niger, Mandragora e radice siccata sowie Latrodectus curacaviensis enthält.

Das homöopathische Komplexmittel gibt es als zuckerfreie Globuli und als rasch schmelzende Tabletten im Handel. Das Mittel wird über die Mundschleimhaut resorbiert, sodass laut Herstellerangaben Erbrechen die Wirkung nicht beeinträchtigt. Außerdem mache das Homöopathikum im Unterschied zu den meisten nicht-homöopathischen Antiemetika nicht müde. /

Fische können seekrank werden

Nicht nur Menschen leiden unter der Reisekrankheit. Auch Tiere kann es erwischen, und zwar dann, wenn sie über längere Strecken transportiert werden. Das gilt für Katzen und Hunde ebenso wie für größere Vierbeiner wie Kühe und Pferde. Und – das ist kein Scherz –Fische können nachweislich seekrank werden. Forellen zum Beispiel übergeben sich, wenn sie in Tanks über längere Strecken hinweg befördert werden. Andere Fische schlagen Purzelbäume, wenn sie seekrank werden. Durch verschiedenste Bewegungen versuchen sie, die störenden Reize auszuschalten und ihre Lage zu stabilisieren.