Das Ohr bleibt auf der Strecke |
25.10.2007 08:21 Uhr |
Christiane Berg, Hamburg
Jugendliche muten ihren Ohren oft Lautstärken zu, die langfristig schwerhörig machen. Daher nehmen Gehörschäden durch laute Musik in der Disco, durch Walkman, Mini-Disks und MP3-Player zu.
Experten beobachten mit Besorgnis, dass immer mehr Jugendliche unter Hörsturz oder Tinnitus leiden. Diskothekenbesucher brauchten heute theoretisch Ohrschützer. Die Musik ist oft so laut wie ein startender Jumbo-Jet. In manchen Discos liegt der Lärmpegel bei 110 Dezibel und darüber. Schon ab 85 Dezibel schädigt Lärm das Gehör.
Hinzu kommt das veränderte Freizeitverhalten. Dauerte ein Disco-Besuch Anfang der 80er Jahre noch circa zweieinhalb Stunden, so liegt die durchschnittliche Verweildauer heute bei fünf Stunden. Experten vermuten, dass ein Drittel der Jugendlichen spätestens ab 50 ein Hörgerät braucht.
Lärmattacke bei Open-Air-Konzert
Inzwischen müssen Konzertveranstalter gemäß eines Urteils des Landgerichtes Nürnberg-Fürth gegebenenfalls für Hörschäden haften. Der Fall: Eine junge Frau hatte ein Open-Air-Konzert der Band »Bon Jovi« besucht und etwa drei Stunden fünf Meter entfernt von den großen Lautsprecher-Boxen gestanden. Beim Verlassen des Konzerts spürte sie einen starken Druck und ein heftiges Pfeifen auf ihrem linken Ohr.
Der behandelnde Arzt stellte eine Innenohrschädigung mit Hörsturz und Tinnitus fest. Die Frau war vier Wochen lang arbeitsunfähig und musste mit Infusionen behandelt werden. Sie verlangte 4000 Euro Schmerzensgeld von den Konzertveranstaltern. Doch diese weigerten sich mit dem Argument: Schließlich seien die Musiker und die Tontechniker für die Beschallung zuständig gewesen. Die Frau zog vor Gericht und bekam Recht.
Lange Entwicklungsgeschichte
Recht hin, Schmerzensgeld her: Ist das Gehör in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt, so ist der Schaden oftmals irreversibel. Nicht zufällig wurde im Auftrag der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Köln, das PC-Spiel »Radio 108,8« für 10- bis 12-Jährige entwickelt. Dort lernen die Kinder die Welt des Hörens und die faszinierende Funktionsweise des Ohres kennen. Mit altersgerecht aufbereiteten Fakten werden die Kids noch vor der heißen Diskophase über die Bedeutung des sorgfältigen Umgang mit dem Gehör informiert.
Radio 108,8 gibt auch Einblick in die Evolutionsgeschichte des Ohrs: Der Mensch stammt von Urwirbeltieren ab, die vor etwa 500 bis 590 Millionen Jahren im Wasser lebten und eine Art »offenes Innenohr« besaßen. Als diese Tiere das Wasser verließen, um an Land zu leben, mussten sie neue Fähigkeiten entwickeln, akustische Schallwellen wahrzunehmen, die sich in der Luft anders ausbreiten als im Wasser. An Land hörten die Tiere zunächst nur etwa ein Tausendstel der Geräusche.
Das zuvor mit Meerwasser gefüllte Innenohr musste die Schallwellen nun über die Luftleitung auffangen und deuten. So entstand vor rund 350 Millionen Jahren das Mittelohr, das eingehende Laute in das Innenohr weiter »vermittelt«. Innenohr und Mittelohr werden im Mutterleib etwa in der zwanzigsten Schwangerschaftswoche ausgebildet und sind beim Föten schon genau so groß wie später beim Erwachsenen.
Sensibel auch für Zwischentöne
Das Ohr als Wunderwerk der Natur kann 400.000 Töne unterscheiden. Ob Meeresrauschen, Vogelgezwitscher oder Glockengeläut: Die Ohrmuscheln fangen die Schallwellen aus der Luft auf und leiten sie weiter in den Gehörgang. An dessen Ende trifft der Schall auf das Trommelfell, ein dünnes Häutchen, das wie eine Trommelbespannung im Rhythmus der Schallwellen schwingt. Die Vibrationen werden über die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel des Mittelohrs und in das mit Lymphe gefüllte Innenohr weiter geleitet. In mehreren Reihen sind dort circa 27.000 Haarzellen angeordnet. Sie bestehen aus einem Zellkörper, dem ein Haarbündel aufsitzt. Wie die Ähren eines Kornfeldes, das sanft im Wind wogt, werden die Härchen gemäß der Schwingungen der Lymphe ausgelenkt und öffnen oder schließen so die angrenzenden Ionenkanäle der Hörzellen. Durch den Einstrom von Kaliumionen werden diese erregt, wobei wiederum im Zellinneren die Öffnung weiterer Ionenkanäle bewirkt wird. Durch Depolaristion des Hörnervs werden schließlich verstärkt Neurotransmitter bis hin zum Hörzentrum im Gehirn ausgeschüttet. Dort werden die ankommenden Signale in Klänge und Sprache »übersetzt«.
Wir hören mehr als wir glauben, denn das menschliche Ohr ist auch sensibel für „Zwischentöne“ und leiseste Stimmungsschwankungen, sofern es nicht durch übermäßigen Krach ge- oder zerstört wird. Den wenigsten Menschen ist bewusst, dass Stille über Jahrhunderte auf der Welt dominierten. Es war leise – außer bei Stürmen, Orkanen, Gewitter, Lawinen oder Vulkanausbrüchen. Auf den »akustischen Müll« der Zivilisation ist das Gehör nicht eingestellt.
Knockout für Haarzellen
Im Gegenteil: Das Ohr ist sogar äußerst anfällig für extreme Lautstärken und impulsartige laute Geräusche. Discolärm, Silvesterknaller, Spielzeugpistolen, zerplatzende Luftballons oder Papiertüten treffen auf das Innenohr wie ein Stein, der mit Wucht ins Wasser geworfen wird. Die Druckwellen, die dieser Stein erzeugt, drücken die feinen Sinneshärchen zu Boden.
Um im Bild zu bleiben: Wie die Ähren eines Kornfeldes nach einem Wirbelsturm liegen diese flach und können sich aus eigener Kraft nur selten wieder aufrichten. Der akustische Hurrikan hinterlässt ein Trümmerfeld und verschont auch umliegende Areale nicht. Experten vermuten, dass gleichzeitig der Blutfluss, also die Mikrozirkulation gestört wird und es zu Gefäßkrämpfen und Schleimhautschwellungen kommt. Die Hörzellen werden mangelhaft mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt und sterben ab. Die Lärmattacke führt dazu, dass Betroffene meist einseitig, selten auch doppelseitig schlecht hören, oft begleitet von Ohrenrauschen unterschiedlicher Intensität. Typisch ist das Gefühl von »Watte im Ohr«.
Terror im Kopf
Wie körperliche Pein beim Phantomschmerz vernehmen Hörsturz- und Tinnituspatienten Phantom-Geräusche auch ohne äußere akustische Signale. Experten vermuten »Lecks« in den verletzten Ionenkanälen der Sinneszellen, durch die unkoordiniert weiter Ionen strömen, die das Gehirn wiederum fehl interpretiert und als Rauschen, Pfeifen, Knarren, Klingeln oder Brummen an eines oder beide Ohren »rückmeldet«.
Langfristig führt diese Fehlcodierung zu räumlichen Veränderungen unterschiedlicher Hirnareale. Die Einprägung der Phantom-Klänge im Gehirn trägt wiederum dazu bei, dass der Tinnitus bestehen bleibt oder sogar noch zunimmt. Ein Teufelskreis entsteht, denn Lärm hat Alarmfunktion. Der Körper reagiert auf die neuen und somit vermeintlich gefährlichen Geräusche im Kopf mit Panik und erhöhter Reaktionsbereitschaft, was wiederum den Tinnitus verstärkt.
Das Hörsystem ist völlig überreizt. Das erklärt auch, warum über 40 Prozent der Tinnitus-Patienten unter extremer Geräuschempfindlichkeit (Hyperakusis) leiden. Normale Umweltgeräusche empfinden sie deutlich lauter und somit als sehr unangenehm. Schon das Klirren von Messer und Gabel auf dem Frühstücksteller oder das Tropfen eines Wasserhahns können für Betroffene zur akustischen Hölle werden und sie extrem nervös machen. Blutdruck und Herzfrequenz steigen: Das ist weiteres Futter für den beschriebenen »Circulus vitiosus«.
Schnelles Handeln erforderlich
In Deutschland leben schätzungsweise rund 13 Millionen Innenohrschwerhörige und etwa 3 Millionen Tinnitusbetroffene. Aktuelle Studien sprechen von 200 bis 300 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner, also 250.000 plötzlichen Hörstürzen pro Jahr. Jährlich kommen auch etwa 250.000 neue Tinnitusfälle hinzu.
Wie der plötzliche Hörsturz wird auch der akute Tinnitus nicht nur durch Lärm- und Knalltraumata, sondern auch durch Stress hervorgerufen. Denn: Auch übermäßige körperliche oder seelische Belastung ist Gift für das Ohr. Bei Stress werden im Nebennierenmark die »Fight- and Flight«-Hormone Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Dadurch verengen sich die Gefäße, und das Innenohr wird mangelhaft durchblutet. Auch hier schädigt die reduzierte Sauer- und Nährstoffzufuhr die Haarzellen und beeinträchtigt sie erheblich in ihrer Funktion. Von Dauer und Ausmaß des Stresses und somit der Gefäßverengungen hängt es ab, ob Hörsturz und Tinnitus anhalten und langfristige Schäden zurückbleiben.
Sowohl der plötzliche Hörsturz als auch der akute Tinnitus erfordern sofortiges Handeln, denn die ersten 24 Stunden sind entscheidend für die Prognose. Die Behandlung zielt darauf ab, die Durchblutung im Innenohr zu fördern. Daher infundieren Ärzte in der Ersttherapie zehn Tage lang zumeist ambulant regelmäßig Plasmaersatzstoffe wie Hydroxyethylstärke (HES) oder niedermolekulare Dextrane, die das Blutvolumen in den Gefäßen vergrößern.
Zur Erhöhung der Fließgeschwindigkeit des Blutes wird außerdem der Wirkstoff Pentoxifyllin verabreicht, weil er die Blutviskosität herabsetzt. Zusätzlich geben Ärzte Glukokortikoide gegen die Entzündungen und Schwellungen. Insbesondere Hydroxyethylstärke kann mit starken Nebenwirkungen einhergehen, das heißt, quälenden Juckreiz am ganzen Körper verursachen. Die Deutsche Gesellschaft für Hals-, Nasen-, Ohren-Kunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO) fordert daher in ihrer Leitlinie »Hörsturz« die Kollegen auf, Nutzen und Risiken von HES-Infusionen sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Gerade bei stressbedingtem Hörsturz und Tinnitus kommt dem Ausstieg aus dem Alltag, also der Ruhe durch Krankschreibung, einen stationären Klinikaufenthalt oder Urlaub, sehr viel Bedeutung zu. Der Rückzug erhöht die Chance, dass der Körper in sein physiologisches Gleichgewicht und das Ohr zu seiner alten Leistungsfähigkeit zurückfindet. Je höher der Schweregrad der Ohrgeräusche ist, umso erforderlicher ist eine stationäre Therapie.
Spontanheilungskräfte
Aus Experimenten ist bekannt, dass die hoch dosierte intravenöse Gabe von Lokalanästhetika wie Lidocain oder Procain gestörte Ionentransportprozesse in den Haarzellen beeinflusst. Die klinische Relevanz dieser Effekte ist vornehmlich an Tinnituspatienten belegt. Die DGHNO warnt allerdings vor Nebenwirkungen durch Überdosierung wie Krampfanfällen, zentraler Atemlähmung und Herz-Kreislauf-Versagen. Diese Therapie müsse deswegen stets unter stationären Bedingungen erfolgen.
Kontrovers wird auch die Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO-Therapie) zur Behandlung von Hörsturz und Tinnitus diskutiert: Bei dieser Therapieform atmen Patienten in luftdichten Druckkammern über eine Gesichtsmaske Sauerstoff unter erhöhtem Umgebungsdruck. Das soll die Sauerstoffversorgung der Hörzellen verbessern.
Bei akutem Tinnitus deuten Fallbeschreibungen auf eine Wirksamkeit der HBO-Therapie hin. Gleiches gilt für medikamentös erfolglos vorbehandelte Hörsturz-Patienten. Lag der Erkrankungsbeginn nicht länger als drei Monate zurück, besserte sich das Hörvermögen. Doch die HBO birgt auch die Gefahr von Nebenwirkungen wie Lungenschäden, Krampfanfällen, Übelkeit und Erbrechen oder Ruptur des Trommelfells. Kontrollierte wissenschaftliche Studien konnten bislang keinen Wirksamkeitsnachweis erbringen. Daher bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen die HBO-Therapie nicht. Die Infusionstherapie ist in Ländern wie den USA und Großbritannien sowie im skandinavischen Raum unüblich.
Hier verlassen sich die Ärzte häufig auf Spontanheilungskräfte. Die DGHNO hingegen warnt gerade bei ausgeprägtem Hörverlust, vorgeschädigten Ohren, Begleitsymptomen und einem hohen Leidensdruck vor einer abwartenden Haltung. Ein zu später Behandlungsbeginn minimiert nicht nur den Behandlungserfolg, sondern steigert auch die Rezidivhäufigkeit.
Ursachen auf den Grund gehen
Eine Innenohrschwerhörigkeit mit oder ohne Tinnitus kann auch Folge viraler und bakterieller Infektionen sein. Außerdem kommen Tumore, Funktionsstörungen der Halswirbelsäule, Mittelohrentzündungen, Meningitis oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie die Verknöcherung des den Schall weiter leitenden Steigbügels als Ursache in Betracht. Deshalb wird der Arzt neben der Infusions-Therapie weitere Untersuchungen durchführen.
Nur zu häufig tritt Tinnitus allerdings ohne erkennbare Ursache auf. Besteht er länger als sechs Monate, gilt die Heilung eher als unwahrscheinlich. Die Chance, hier noch etwas mit durchblutungsfördernden Medikamenten zu bewirken, ist gering.
Da man annimmt, dass die Ohrgeräusche unter anderem durch Verletzungen der Ionenkanäle entstehen, behandeln Ärzte chronischen Tinnitus versuchsweise mit membranstabilisierenden Medikamenten wie Antiarrhytmika (Tocainid; in Deutschland nicht mehr erhältlich), Antikonvulsiva (Carbamazepin) oder Calciumantagonisten (Nimodipin). Im Einzelfall können Schlafmittel sowie Psychopharmaka gegen Angst und Depressionen sinnvoll sein.
Wichtig von unwichtig trennen
Ziel der Therapie der lang anhaltenden Tyrannei im Kopf ist es, die Betroffenen aus einem unerträglichen, oftmals mit Panik, Angst, Depressionen sowie Schlaf- und Konzentrationsstörungen besetzten Zustand herauszuführen. Mit Erfolg wird dabei die Tinnitus-Retraining-Therapie eingesetzt, die keine Heilung bringt, aber den Umgang mit dem akustischen Terror im Kopf verändert. Die TRT gilt als wirksamste Therapiemethode bei chronischen Ohrgeräuschen und basiert auf den beiden Säulen Beratung (Counselling) und Einsatz eines Rausch-Generators.
Im Rahmen der Beratung wird der Patient detailliert über die anatomischen Strukturen des Ohres sowie über Ursachen und Entstehung des Tinnitus informiert. Er lernt, den Tinnitus nicht mehr fälschlicherweise als Gefahr und Bedrohung zu bewerten. Ziel der »Gewöhnungsmaßnahme« ist es, den Tinnitus-Teufelskreis zu durchbrechen, indem der Patient den Lärm im Kopf von einem »unheildrohendem Phantom« in eine »belanglose Nebensache« umwandelt. Gelingt die Therapie, stören ihn die Ohrgeräusche nicht mehr, etwa vergleichbar mit Menschen, die in der Nähe von Bahngleisen leben und den Krach der vorbeifahrenden Züge »überhören«.
Zu diesem Zweck werden in der TRT auch sogenannte Tinnitus-Noiser/Masker eingesetzt. Ein Tinnitus-Noiser ähnelt optisch einem normalen Hörgerät, verstärkt jedoch keine Schallwellen, sondern sendet ein Breitbandrauschen aus einer Mischung aller für das menschliche Ohr wahrnehmbaren Frequenzen aus. Mit verschiedenen Filtersystemen unterscheidet das Gehirn wichtige von unwichtigen Geräuschen. Das gleichförmige Dauergeräusch stuft es als unwichtig ein. Durch das Rauschen des Tinnitus-Noisers tritt der Tinnitus nicht mehr so stark hervor und somit werden beide als unbedeutend bewertet. Der Patient kann sich wieder auf Umgebungsgeräusche konzentrieren. Das Rauschen im Kopf rückt langsam in den Hintergrund und wird schließlich ganz ausgeblendet.
Dieser Lern-Prozess dauert meistens ein bis zwei Jahre. Die Tinnitus-Noiser werden täglich sechs bis acht Stunden getragen. Die Krankenkassen bezuschussen die Tinnitus-Masker/Noiser bis zu einem Festbetrag. Die Versorgung findet, auf eine HNO-ärztliche Verordnung hin, beim Hörgeräteakustiker statt. Der Noiser wird überflüssig, sobald der Lernprozess abgeschlossen, ist.
Individuelle Lösung suchen
Zum besseren Umgang des Patienten mit den chronischen Ohrgeräuschen tragen auch Psycho- und kognitive Verhaltenstherapie sowie Entspannungsverfahren wie Biofeedback, autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation nach Jacobson bei. Zwar stuft die DGHNO alternative Heilmethoden wie Neuraltherapie oder Akupunktur als »weiterhin sinnvoll« ein, jedoch müsse der Patient vorher über die geringen Therapiechancen aufgeklärt werden.
So wie es verschiedene Arten mit unterschiedlichen Schweregraden des Tinnitus gibt, so gibt es auch nicht »die« Behandlung. Jeder Betroffene muss seine ganz individuelle Lösung suchen und eigene Bewältigungsform finden, dazu gehören neben Retraining oder Entspannung auch Psycho-, Physio- oder Phytotherapie (Baldrian, Melisse, Johanniskraut, Ginkgo biloba) beziehungsweise, Homöopathie oder Musiktherapie.
Als hilfreich empfinden viele Betroffene den Informationsaustausch in Selbsthilfegruppen. Bei der Suche hilft die Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (DTL), Wuppertal, die Internetadresse lautet www.tinnitus-liga.de. Die DTL betont, dass Tinnitus-Bewältigung ein lebenslanger Prozess sein kann, der geistige und körperliche Aktivität sowie die Übernahme von Selbstverantwortung bedeutet. Tinnitus sei kein unentrinnbares Schicksal, sondern Impuls für ein verändertes Leben.
In einer durch äußere Reize und Geräusche überfluteten Zeit wird es immer wichtiger, das Gehör vor dauerhaften Irritationen zu bewahren. Die Tinnitus-Liga rät zur »Hörhygiene« und empfiehlt, hohe Lautstärken bei der Arbeit und in der Freizeit zu meiden beziehungsweise Gehörschutz zu tragen. Nach starker akustischer Beanspruchung sollte jeder seinen Ohren unbedingt eine Pause gönnen, die immer mindestens genauso lange wie die Lärmphase dauern sollte.
»Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest«, hat Robert Koch bereits 1910 prophezeit. Gleiches gilt für übermäßigen Stress. Lärm und Stress sind Krankheitszeichen der modernen Zivilisation auf der Flucht vor sich selbst, bei der das Ohr auf der Strecke bleibt. Heutige Experten warnen vor der mit Krach und Hast verbundenen »Selbstentfremdung« und plädieren für »Entschleunigung« bei gleichzeitiger Reduktion der Dezibel.
Laut ist nicht gleich stark
Mut und Entschlossenheit sind notwendig, um aus dem Hamsterrad der permanenten Geschäftigkeit auszubrechen beziehungsweise der allgegenwärtigen akustischen Beschallung auszuweichen. Menschen mit Hörsturz und Tinnitus waren gezwungen, ihr »Leben auf der Überholspur« zu verlangsamen. Sie berichten von der »inneren Einkehr und Besinnung«, die dazu notwendig war. Sie lernten nicht nur, laute Orte zu meiden, sondern auch ihre Geschwindigkeit zu reduzieren und ihre Terminvielfalt einzuschränken, mit anderen Worten: ihre überhöhten Ansprüche an sich selbst zu senken und ihre Grenzen zu akzeptieren. In der Stille hätten sie »die Seele gehört«. Spektakel und Hektik seien keine Zeichen von Kraft und Können: »Stille und Ruhe sind mächtiger als Lärm und Stress. Laut ist nicht gleich stark«.
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