Feine Nadeln gegen den Schmerz |
26.10.2007 08:52 Uhr |
Feine Nadeln gegen den Schmerz
Carola Seifart, Marburg
Vor zwei Jahrtausenden entwickelten chinesische Ärzte die Akupunktur, um Erkrankungen zu lindern oder zu heilen. Inzwischen vertrauen auch in der westlichen Welt immer mehr Patienten auf diese Behandlung, die offiziell zur Komplementärmedizin zählt. Neue wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Akupunktur bei chronischen Knie-, Kopf- oder Rückenschmerzen ebenso wirkungsvoll ist wie Arzneimittel.
Neben den chinesischen Ärzten lassen sich auch immer mehr deutsche Ärzte in traditioneller chinesischer Medizin ausbilden. Anschließend wissen sie, wohin sie die spitzen Nadeln setzen müssen, um einen Effekt im Körper zu erzielen. Pro Behandlung benutzen sie 8 bis 12 Nadeln, die sie mit einer bestimmten Technik durch die Haut stechen und etwa für 20 bis 40 Minuten dort belassen. Akupunkteure behandeln so die unterschiedlichsten Schmerzen, Kopfschmerzen und Muskelverspannungen. Außerdem setzen sie die Nadeltherapie bei Schlaflosigkeit, grippalen Infekten, Halsschmerzen und vielen anderen akuten und chronischen Erkrankungen ein und auch bei Drogenabhängigkeit wie der Nikotinsucht.
Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde die Nadeltherapie im Jahr 90 vor Christus. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Methode ein halbes bis ein ganzes Jahrtausend älter ist. In der traditionellen chinesischen Medizin ist die Akupunktur bis heute fester Bestandteil zur Behandlung Kranker. Die chinesische Medizin unterscheidet sich allerdings grundlegend von der Lehre der westlichen Welt. Ihr liegt die Theorie zugrunde, dass alle Funktionen des Körpers bis hin zum Sozialleben eines Menschen von Energien abhängen.
Chinesische Ärzte unterscheiden die Lebensenergie Qi, die Lebensessenz Jing und die psychische Energie, den Geist Shen. Alle Energien sind im stetigen Fluss und beeinflussen sich gegenseitig. Die Chinesen sind davon überzeugt, dass Unwohlsein oder Krankheiten aus Störungen dieser Energieflüsse resultieren.
Die Lehre der traditionellen chinesischen Medizin besagt, dass sich die Lebensenergie Qi in den Organen sammelt und in Bahnen durch den Körper fließt. In China heißen diese Bahnen Jing und Luo, europäische Ärzte bezeichnen sie als Meridiane. Auf diesen Leitbahnen der Lebensenergie liegen die Akupunkturpunkte. Dort hinein stechen die Ärzte die Nadeln, um gestörten, fehlgeleiteten oder stockenden Energieflüsse wieder zum »Fließen« zu bringen.
Energien richtig lenken
Die Meridiane laufen durch den ganzen Körper, jeweils von der unteren Körperhälfte zur oberen oder umgekehrt. Mehrere dieser Meridiane bilden Funktionskreise, denen Körperorgane zugeordnet sind. Mit der richtigen Auswahl der Akupunkturpunkte erreicht der Akupunkteur einen gezielten Energiefluss zwischen den Körperorganen und lindert dadurch die Beschwerden des Patienten. Akupunktur ist tatsächlich eine Kunst, die jedoch nicht nur aus dem korrekten Stechen der Nadeln selbst besteht, sondern auch in der geschickten Auswahl der Akupunkturpunkte.
Akupunkteure benutzen kleine, geschliffene Metallnadeln, die sie 2 bis 40 mm tief durch die Haut stechen. Platziert der Arzt die Nadel an einem Akupunkturpunkt und verwendet dabei die richtige Technik, erzeugt er beim Patienten das »De Qi-Gefühl«, ein Gefühl leichter Elektrisierung am oder unter dem Akupunkturpunkt. Die Wahl des richtigen Akupunkturpunktes und das »De Qi-Gefühl« sind wichtig für den Erfolg der Behandlung. Üblicherweise macht sich der Arzt vor Therapiebeginn ein Gesamtbild vom Patienten und verordnet dann zwischen 5 und 15 Sitzungen.
Empirie und Wissenschaft
Wie bekämpfen nun die winzigen Metallnadeln chronische Schmerzen oder andere Symptome? Ein Teil des Erfolges der Akupunktur beruht vermutlich auf Autosuggestion. Die Nadeln rufen aber auch biologische Effekte hervor. Wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass der Körper aufgrund der Akupunktur endogene Opioide freisetzt. Im Versuch ist es möglich, deren Wirkung durch das Arzneimittel Naloxon auszuschalten. Bei Versuchstieren, die akupunktiert werden, lassen sich im Hirnwasser noch andere wirksame Substanzen nachweisen. Des Weiteren aktivieren die Akupunkteure durch die richtige Wahl der Akupunkturpunkte Hemmmechanismen und blockieren dadurch die Schmerzleitung.
Zwar haben die Chinesen vor mehreren Jahrtausenden die Akupunkturpunkte vermutlich rein empirisch, also durch Ausprobieren, entdeckt. Inzwischen belegen Untersuchungen, dass sie besondere Punkte gewählt haben: Der Hautwiderstand ist an diesen Stellen erniedrigt. Weiterhin liegen über 80 Prozent der Punkte direkt über der Durchtrittstelle eines Gefäß-Nerven-Bündels durch die bindegewebehaltige Umhüllung eines Muskels. Außerdem lassen sich die Akupunkturpunkte anatomisch den Spinalnerven und über das Reflexsystem bestimmten Organen zuordnen.
Trotz einiger plausibler Erklärungen zur Wirksamkeit bleibt die Akupunktur vorerst in der naturwissenschaftlich orientierten westlichen Medizin umstritten. Viele Wissenschaftler kritisieren den Wirksamkeitsnachweis, denn es ist einfach schwer, Studien korrekt durchzuführen, solange eine Therapie kaum standardisiert ist. Seit einigen Jahren untersuchen besonders deutsche Forscher mit hohem wissenschaftlichem Standard, bei welchen Beschwerden die Akupunktur helfen kann.
Deutsche Studien
In einem bundesweiten Modellversuch haben sich einige Hochschulen, Institutionen und Forschergruppen zusammengeschlossen und die »Initiative Deutsche Akupunkturstudien« gegründet. Finanziell unterstützt wird die Initiative von sechs Krankenkassen-Spitzenverbänden. In Studien, die »German Acupuncture Trials« (GERAC), untersuchen die Wissenschaftler die Frage, ob Akupunktur mit einer üblichen schulmedizinischen Standardtherapie vergleichbar ist. Zwischen 2002 und 2004 schlossen sie weit über 3 300 Patienten mit Arthroseschmerzen in den Knien oder chronischen Rückenschmerzen in eine Studie ein. Die Hälfte der Patienten behandelten die Ärzte mit Physiotherapie und nicht steroidalen Antirheumatika. Die andere Gruppe wurde noch einmal in zwei Hälften unterteilt und erhielt 10 Wochen lang Akupunktur. Der eine Teil der Akupunkturpatienten wurde nach den Regeln der traditionellen chinesischen Medizin akupunktiert, bei dem anderen Teil nahmen die Ärzte eine Sham-Akupunktur vor. Bei dem zweiten Verfahren setzten die Ärzte die Akupunkturnadeln ohne spezielle Technik nur oberflächlich und wählten dabei Punkte aus, die weit von den klassischen Akupunkturpunkten entfernt lagen.
Nach drei und sechs Monaten evaluierten die Wissenschaftler den Erfolg der jeweiligen Therapie: Sie fragten die Patienten nach der Schmerzintensität, Funktionseinschränkungen, Lebensqualität und Therapieerfolg. Die mittlere Schmerzerträglichkeit, gemessen auf einer Skala von 0 bis 10 Punkten (sehr gut erträglich bis absolut unerträglich) besserte sich nach der »korrekten« Akupunktur deutlich: Drei Monate nach den Therapien sank die Intensität der Rückenschmerzen von durchschnittlich 6,8 auf 3,4 Punkte, die der Knieschmerzen von im Durchschnitt 6,9 auf 3,6.
Den Behandlungserfolg bestimmten die Forscher nach dem WOMAC »Western Ontario and McMester University Osteoarthritis Index«, einem Bewertungssystem, in das verschiedene Aspekte der Beschwerden, Funktionsfähigkeit und der Belastbarkeit einfließen. Je niedriger der Punktwert, um so besser ist der Zustand des Patienten. Eine Verringerung des WOMAC-Scores um mindestens 36 Prozent zählt als Behandlungserfolg. 53,1 Prozent der Akupunktur-Patienten bestätigten eine entsprechende Verbesserung, auch 51 Prozent der Sham-Akupunktur-Patienten, aber nur 29,1 Prozent der Standardtherapie-Patienten. Insgesamt belegt die Studie, dass die Akupunktur die Symptomatik bei Knie- und Rückenschmerzen mindestens so stark reduziert wie eine Kombination aus Krankengymnastik und medikamentöser Standardtherapie.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine zweite große Untersuchung, die die Wirksamkeit der Akupunktur bei Spannungskopfschmerzen und Migräne untersuchte. Bei gleichem Studienaufbau ergab die Untersuchung, dass 10 bis 15 Akupunktursitzungen identisch wirksam waren wie die medikamentöse Anfallsprophylaxe (überwiegend durch Beta-Blocker). Interessanterweise waren jedoch die Unterschiede zwischen der traditionellen chinesischen Akupunktur und der Sham-Akupunktur nicht sehr groß. Daher fragen sich die Forscher berechtigt, was eigentlich den Erfolg der Methode ausmacht. Möglicherweise spielen psychische Faktoren eine größere Rolle als bisher angenommen oder der Effekt der Akupunktur hängt nicht so sehr von der korrekten Technik ab. Andererseits nehmen mit der Erfahrung eines Akupunkteurs seine Erfolge zu. Trotz der Bemühungen deutscher und anderer Wissenschaftler bleiben also immer noch offene Fragen, worauf der Erfolg der Akupunktur beruht.
Für die Akupunktur spricht ihre gute Verträglichkeit. Große Studien mit mittlerweile mehr als 10 Millionen Behandlungen dokumentieren nur wenige und milde Nebenwirkungen (insgesamt ungefähr 7 Prozent), zum Beispiel Blutergüsse an der Einstichstelle (4 bis 5 Prozent), eine vorübergehende Beschwerdeverschlechterung oder Kreislaufreaktionen (0,4 bis 0,7 Prozent) während oder nach einer Behandlung. Schwere Verletzungen sind extrem selten, in drei Fällen von 10 Millionen Akupunkturbehandlungen trat ein Pneumothorax auf. Das ist ein Lungenkollaps, der durch eine Verletzung des Brustfells entsteht, bei der Luft in den Brustkorb gelangt.
Die deutschen Studien haben dazu geführt, dass nahezu alle Krankenkassen die Kosten für die Akupunktur bei Kopf-, Rücken- und Knieschmerzen übernehmen. Durch die positiven Studienergebnisse hat die Akupunktur inzwischen einen festen Platz als Therapieoption bei Patienten mit chronischen Beschwerden. Vor allem diejenigen, denen die bisherige Behandlung keine Linderung verschaffte, sollten sich an einen erfahrenen Akupunkteur wenden. Ein Versuch lohnt sich immer!
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