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Aus dem Offizinalltag

Der erste Notdienst

30.10.2008  21:19 Uhr

Aus dem Offizinalltag

Der erste Notdienst

von Christina Jäger

An Feiertagen ist im Apothekennotdienst immer viel zu tun. So bat die Chefin ihre junge PTA um Unterstützung. Diese freutesich auf die neue Herausforderung.

Die PTA hatte eben die Computer hochgefahren und das Wechselgeld in die Kassen gelegt, da klingelte es bereits. Die Chefin telefonierte mit dem ärztlichen Notdienst, also ging die PTA mit Herzklopfen zur noch verschlossenen Tür. Als sie die Notdienstklappe öffnete, blickte sie in das Gesicht einer aufgeregten jungen Frau, die Antibiotikum-haltige Augentropfen für ihren dreijährigen Sohn verlangte.

Die PTA erklärte ihr, das gewünschte Arzneimittel sei verschreibungspflichtig und sie benötige ein Rezept. Darauf reagierte die Mutter unwirsch und behauptete, der Gang zum Arzt sei völlig überflüssig. Die Augen ihres Sohnes seien verklebt, gerötet und die Lider geschwollen. »Was soll das anderes sein als eine Bindehautentzündung?«, fragte sie aufgebracht. Die PTA antwortete ihr, dass sie unbedingt mit dem Dreijährigen zum Augenarzt gehen müsse. Nur der könne eine exakte Diagnose stellen. Mittlerweile bildete sich hinter der Frau eine kleine Schlange wartender Patienten. Die Kundin störte das jedoch nicht, und sie redete auf die PTA ein. Nach weiteren Argumenten willigte die Frau endlich ein, mit dem Kleinen in die Augenklinik zu fahren.

Die PTA atmete erleichtert auf und konnte endlich den nächsten Patienten bedienen. Der las von einem Einkaufszettel vor, was seine erkältete Familie alles brauchte. Die PTA hatte Mühe, die vielen Präparate im Gedächtnis zu behalten, brachte dem Patienten dann alle gewünschten Medikamente und gab ihm durch die Klappe noch die nötigen Hinweise zu den Präparaten. Im Hintergrund klingelte permanent das Telefon, und die PTA fragte sich, wie die Chefin allein den Notdienst hätte bewältigen sollen.

Die Stunden vergingen wie im Flug. Inzwischen war die Tür offen. So musste die PTA nicht mehr durch die Klappe beraten und die Medikamente hindurchreichen. Erst zur Mittagszeit gönnten sich die beiden Frauen eine kleine Pause bei einer Tasse Kaffee. Da dies der erste Notdienst der PTA war, fragte sie ihre Chefin neugierig, ob die Nächte auch so lebhaft wären. »Lebhaft ist der falsche Ausdruck, eigentümlich ist passender«, entgegnete die Apothekerin und berichtete von ihren nächtlichen Erlebnissen in der Apotheke. Eine Nacht würde sie nie vergessen. Sie war gerade eingeschlafen, als die Notdienstklingel sie aus dem Schlaf riss.

Ein angetrunkener Mann stand vor der Klappe und hielt ihr einen 50-Euro-Schein unter die Nase mit der Bitte, ihn zu wechseln. Seine Erklärung: Er könne sonst sein Taxi nicht bezahlen. Das Taxi auf dem Bürgersteig vor der Apotheke machte ihr ziemlich schnell klar, dass sie nicht träumte. »Ich beschloss, mich nicht aufzuregen, und wechselte den Schein. So konnte ich wenigstens relativ schnell wieder einschlafen. »

»Kurz darauf weckte mich ein Telefonanruf. Es war so gegen 2 Uhr«, fuhr die Apothekerin fort. Am anderen Ende des Apparates fragte ein Mann nach, in welchen Konzentrationen er in der Apotheke Alkohol kaufen könne. »Ich beantwortete verdutzt die Frage, erkundigte mich dann aber sofort, wozu er den Alkohol benötige und welche Menge er brauche.« »Ich will gar keinen Alkohol kaufen«, antwortete der Mann. Er brauche die Information für ein Quizspiel. Den Besitz eines Telefonjokers nutze er, um in der Notdienst habenden Apotheke anzurufen. »Sie sind ja sowieso wach und langweilen sich womöglich«, schloss er an. »Da war meine Geduld zu Ende, und ich hatte genug. Ich unterbrach ihn und bat ihn höflich, die Leitung für echte Notfälle freizugeben. Dann legte ich auf.«

Fassungslos hörte die PTA, was die Apothekerin weiter erzählte: »Besonders freue ich mich über nächtliche Anrufer, die eine ausführliche Beratung wünschen, zum Beispiel über Milchpumpen.« Mitten in der Nacht müsse man dann noch eine perfekte Wegbeschreibung zur Apotheke geben und die Milchpumpe mitsamt Zubehör bereit stellen. Danach folge die quälende Wartezeit, bis der Anrufer endlich eintrifft. »Doch nur allzu oft habe ich schon umsonst gewartet.« Das konnte die PTA kaum glauben. Sie hörte ihrer Chefin voller Spannung zu, als das Telefon und zugleich die Notdienstglocke die beiden in ihren Notdienst zurückriefen.

Die nächste Patientin kannte die PTA bereits. Es war die junge Mutter, die morgens die Antibiotikum-haltigen Augentropfen ohne Rezept kaufen wollte. Jetzt reichte sie ihr ein Rezept mit den Worten: »So, nun sehen Sie selbst! Dafür bin ich nun zum Arzt gefahren. Das Medikament hätten Sie mir heute Morgen auch schon geben können. Der Arzt hat nichts anderes verordnet. Nun ist mein ganzer Tag verdorben. Den hatte ich mir anders vorgestellt.« Die PTA war perplex und ihr fielen keine passenden Worte ein. Also holte sie die Augentropfen und erklärte der Patientin, worauf sie bei der Anwendung achten müsse.

»Die aufregendste Geschichte kennen Sie noch gar nicht.« Kurz vor dem Dienstende erzählte die Chefin noch ein weiteres nächtliches Erlebnis. »Im letzten Winter wurde ich nachts von einem ungewohnten Geräusch wach. Knackten die Schubladen im Hauptalphabet? War der Kühlschrank angesprungen? Das Fax? All die vertrauten Geräusche, die den nächtlichen Notdienst begleiten, schieden aus. Was war das? Ich stand auf und sah vor der Tür den Umriss einer Gestalt. Wieder ein Patient, der die Notdienstklingel nicht sofort fand und dicht an der Eingangstür der Apotheke stand, dachte ich zunächst. Ich wollte ihm das weitere Suchen abnehmen und war bereits auf dem Weg durch die Offizin, als mich eine innere Stimme zurück hielt. Ich beobachtete den Mann, der in der Nähe der Apotheke auf und ab ging und dabei mit seinem Anorak die Scheiben der Eingangstür streifte. So produzierte er das unbekannte Geräusch, das mich geweckt hatte.

Was wollte dieser Mann? Jetzt entdeckte ich, dass ein Fahrrad an der Schaufensterscheibe lehnte. Mir wurde flau im Magen. Plötzlich zog der Mann Handschuhe an und holte eine Taschenlampe aus seiner Jacke. Ich dachte unwillkürlich an die Einbruchserie, die unsere Apotheke hinter sich hatte. Wusste er nicht, dass diese Apotheke gerade Notdienst hatte? Wollte er einbrechen? Nun griff ich zum Telefonhörer und zog mich etwas mehr in die dunkle Offizin zurück, damit der Mann mich nicht hören konnte. Ich wählte die Nummer der Polizei und berichtete von dem Mann, der nun seit mehr als 15 Minuten vor der Apotheke auf und ab ging. Der Polizist versprach, einen Wagen vorbeizuschicken, doch genau in diesem Moment stieg der Mann auf sein Fahrrad und fuhr davon. Wir einigten uns darauf, dass ich mich wieder melden würde, wenn der Mann erneut vor der Apotheke erschiene und sich auffällig benähme. Schlafen konnte ich nun nicht mehr. Statt dessen beobachtete ich aufmerksam die Eingangstür und die Schaufenster.

Und tatsächlich: Nach kurzer Zeit fuhr ein Auto direkt auf die Apotheke zu und hielt kurz vor der Eingangstür. Das helle Scheinwerferlicht erleuchtete die gesamte Offizin. Eine Frau öffnete die Türen des Kombis und warf zwei große Bündel Tageszeitungen direkt vor die Apothekentür, und das Auto fuhr davon. Nach etwa einer Minute erschien der unbekannte Mann erneut vor der Apotheke. Er holte die Taschenlampe raus und las eine Liste durch, wahrscheinlich mit den Adressen, an die er die Tageszeitungen verteilen sollte. Er verstaute die Zeitungen in seinen Fahrradtaschen und fuhr in die Finsternis. Jetzt wurde mir auch klar: Die Handschuhe trug er als Schutz, damit ihm die Schnüre, mit denen die schweren Zeitungen zusammengebunden waren, nicht die Hände zerschnitten.

Die einzig hell erleuchtete Stelle in der gesamten Straße, die Lampe über unserer Eingangstür, eignete sich als idealer Treffpunkt für unseren Zeitungsausträger und seinen Lieferanten. Wenn ich die Geschichte heute erzähle, kann ich nicht mehr verstehen, warum ich in dieser Nacht so viel Angst hatte«, ergänzte die Apothekerin, und die PTA stimmte mit ihr in das erleichterte Lachen ein.

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