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Interview

Liberalisierung war ein Tsunami

30.10.2008  09:33 Uhr

Interview

Liberalisierung war ein Tsunami

PTA-Forum / Mit weniger als fünf Millionen Einwohnern und kaum mehr als 600 Apotheken ist Norwegen nur schwer vergleichbar mit Deutschland. Im Land der Fjorde lässt sich jedoch wie im Zeitraffer beobachten, wohin eine Deregulierung der Arzneimittelversorgung führen kann. Zu Kettenapotheken, Medikamentenpreisen und Arbeitsbedingungen befragte PTA-Forum die Präsidentin der Norwegischen Apothekervereinigung (NFF), Anne Markestad.

PTA-Forum:Auf dem Deutschen Apothekertag in München haben Sie die Liberalisierung in Norwegen im Jahr 2001 als Tsunami bezeichnet. Was meinten Sie damit?

Markestad: Den Begriff Tsunami haben damalige Apothekeninhaber benutzt, um den Effekt der Deregulierung zu beschreiben. Innerhalb kürzester Zeit übernahmen Ketten die Mehrzahl der bestehenden Apotheken und führten dort kurzfristiges Wall-Street-Denken ein. Viele Apotheker bekamen das Gefühl, dass gute Kennziffern wichtiger wurden als pharmazeutische Standards.

PTA-Forum:Wie sieht die Apothekenlandschaft in Norwegen heute, sieben Jahre nach Abschaffung des Fremd- und Mehrbesitzverbotes, aus?

Markestad: Keine Apotheke wurde geschlossen, und es gibt viele neue Apotheken, sogar in ländlichen Gebieten. Die Apotheken haben ihre Öffnungszeiten verlängert und wir können feststellen, dass die Menschen insgesamt einen besseren Zugang zu Apotheken haben.

PTA-Forum:Woran erkennt ein Kunde, dass es sich um eine Kettenapotheke und nicht, wie früher, um eine inhabergeführte Apotheke handelt?

Markestad: Ich glaube nicht, dass Kunden über diese Frage nachdenken – aus Mangel an Alternativen. Es gibt nur noch 22 wirklich unabhängige Apotheken in Norwegen. Der Rest ist entweder vollkommen oder teilweise im Kettenbesitz oder nutzt ein Kettenlogo.

PTA-Forum:Wie hat sich der Arbeitsalltag der Beschäftigten geändert, seit sie in Kettenapotheken arbeiten?

Markestad: Lange Öffnungszeiten und weniger Personal pro Schicht sind Beispiele dafür. Zur Umsatzsteigerung beim Randsortiment wurden Bonussysteme aus dem Einzelhandel übernommen. Bei einer Kette mussten alle Beschäftigten ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Fragen Sie mich nach Weihnachtsgeschenken!« tragen und täglich die verkaufte Stückzahl melden. Aufgrund des hohen Leistungsdrucks haben viele Apotheker Angst, Fehler zu machen. Sie berichten auch, dass weniger Wert auf kontinuierliche Fortbildung gelegt wird.

PTA-Forum:Nehmen die Konzernzentralen Einfluss auf die Beratungsgespräche und Kaufempfehlungen in den Kettenapotheken?

Markestad: Die Konzernzentralen bestimmen fast alles, was in ihren Apotheken geschieht. Standardisierung ist das Grundprinzip. Die Ketten engagieren sogar Testkäufer, um zu überprüfen, ob alles den Vorgaben entspricht und die Firmenphilosophie verfolgt wird.

Anne Markestad und die NFF

Anne Markestad schloss 1980 ihr Pharmaziestudium ab und arbeitete danach unter anderem in Krankenhausapotheken. Seit 2006 ist sie Präsidentin der Norwegischen Apothekervereinigung NFF, die 1858 gegründet wurde und heute 2800 Mitglieder zählt. Die NFF vertritt die angestellten Pharmazeuten in Tarifverhandlungen und repräsentiert den Berufsstand in Gesetzgebungsprozessen.

PTA-Forum: Wie sehen die Preise der Arzneimittel in Kettenapotheken aus?

Markestad: Bei den Medikamenten gibt es kaum wahrnehmbare Preisdifferenzen. Norwegen hat ein System mit Höchstpreisen für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Diese Höchstpreise sind zu Standardpreisen in allen Apotheken geworden. Für rezeptfreie Arzneimittel gilt eine freie Preisbildung, aber selbst da gibt es kaum Preisunterschiede. Die Zulassung der Ketten hat nicht den erhofften Preiswettbewerb gebracht.

PTA-Forum: Haben sich die Berufsaussichten für das Apothekenpersonal verändert?

Markestad: In Norwegen herrscht ein Mangel an Apothekern. Wir stellen fest, dass die Tarifgehälter moderat steigen. Selbstverständlich gibt es auch die Möglichkeit, das Gehalt individuell auszuhandeln oder zu steigern, indem man den Job wechselt.

PTA-Forum: Was halten Sie davon, dass etliche rezeptfreie Arzneimittel seit 2003 auch außerhalb von Apotheken abgegeben werden dürfen?

Markestad: Rezeptfreie Arzneimittel sollten nur dort verkauft werden, wo Verbraucher auch Beratung von autorisiertem Fachpersonal bekommen können. Wenn sie rezeptfreie Medikamente in Lebensmittelgeschäften, Kiosken und Tankstellen kaufen können, haben die Menschen das Gefühl, dass sie die Präparate genauso konsumieren können wie andere Güter. Der Respekt vor Arzneimitteln geht somit verloren.

PTA-Forum: Wie trägt Ihr Verband im 150. Jahr seines Bestehens dazu bei, Apothekenpersonal und Verbraucher vor der Übermacht der Ketten zu schützen?

Markestad: Was öffentliche Apotheken anbelangt, wollen wir die Ketten überzeugen, dass sie die Kompetenzen der Apotheker und des pharmazeutischen Personals nutzen, um einen vernünftigen Gebrauch von Arzneimitteln in der Bevölkerung zu fördern.

PTA-Forum: Welche Herausforderungen sehen Sie für das norwegische Gesundheitswesen in der Zukunft?

Markestad: Eine der größten Herausforderungen liegt in einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis. Die Zahl der älteren Menschen und chronisch Kranken wird steigen. Wir müssen herausfinden, wer wirklich von teureren Behandlungen profitiert und wer mehr Beachtung vom Gesundheitssystem braucht. Apotheker könnten eine wichtige Rolle spielen, weil wir zum effizienten Einsatz von Medikamenten und zu einer höheren Behandlungsqualität beitragen können. Öffentliche Apotheken sind ein Platz, wo Patienten ohne Terminvereinbarung von kompetenten Gesundheitsexperten beraten werden können.