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Arzneimitteltherapie

Neue Arzneistoffe im Oktober 2008

29.10.2008  21:06 Uhr

Arzneimitteltherapie

Neue Arzneistoffe im Oktober 2008

von Sven Siebenand

Die Palette des deutschen Arzneistoffmarktes ist bunter geworden. In den vergangenen Wochen erfolgte die Einführung von vier neuen Substanzen, darunter ein Mittel gegen Reiseübelkeit, ein Antiepileptikum und ein HIV-Medikament. Sugammadex, der vierte Neuling, hebt am Ende und während einer Operation die Wirkung von Muskelrelaxantien auf.

Durchfall im Urlaub: Dieses Malheur ist die häufigste Krankheit auf Reisen. Rund jeder Dritte erkrankt während eines Aufenthalts in fernen Ländern an »Montezumas Rache«.

 

Antibiotikum gegen Reisedurchfall

Mit Rifaximin (Xifaxan® 200 mg Filmtabletten, Norgine B.V.) kam vor Kurzem ein neues Antibiotikum für Erwachsene auf den Markt. Sein Einsatzgebiet ist die Behandlung von Reisedurchfall, der durch bestimmte E.-coli-Bakterien verursacht wird. Diese Keime sind üblicherweise Auslöser der sogenannten Reisediarrhö bei Patienten, die mediterrane, tropische oder subtropische Länder bereisen.

 

Normalerweise sollen Betroffene entweder zusammen oder unabhängig von den Mahlzeiten alle acht Stunden eine 200-mg-Tablette einnehmen. Die Dosis kann aber auch auf 400 mg alle zwölf Stunden erhöht werden. Sofern der Arzt nichts anderes anordnet, darf die Behandlungsdauer bei Reisedurchfall drei Tage nicht überschreiten. Wenn Anzeichen einer sogenannten invasiven Enteritis vorliegen, etwa Fieber oder Blut im Stuhl, darf das Präparat nicht angewendet werden. Ferner sollten Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa dieses Antibiotikum nicht einnehmen.

 

Rifaximin wirkt wie das Tuberkulose-Mittel Rifampicin: Es blockiert die Untereinheit eines bakteriellen Enzyms, die DNA-abhängige RNA-Polymerase, und hemmt dadurch die RNA-Synthese von Bakterien.

 

Das Antibiotikum wird zu weniger als 1 Prozent in den Blutkreislauf aufgenommen und erreicht somit im Magen-Darm-Trakt hohe Konzentrationen. Genau an der richtigen Stelle, denn dort befinden sich die Verursacher des Durchfalls. Ein weiterer Vorteil der geringen Resorption ist, dass es dadurch zu weniger Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten kommt. Durch die Veränderung der Darmflora unter der Antibiotika-Gabe wird jedoch möglicherweise die Wirkung der Anti-Baby-Pille beeinträchtigt. Betroffene Frauen sollten daher eine zusätzliche Verhütungsmaßnahme erwägen. Das gilt insbesondere für die Mikropille mit einem Estrogengehalt unter 50 µg.

 

Patienten, die zusätzlich Kohletabletten gegen den Durchfall einnehmen, müssen danach mindestens zwei Stunden warten, bis sie das Antibiotikum schlucken. Bei der Abgabe sollten PTA und Apotheker zudem darauf hinweisen, dass Rifaximin, wie andere Antibiotika dieser Klasse, den Urin rötlich verfärben kann, was aber ungefährlich ist.

 

Die am häufigsten beobachteten Nebenwirkungen unter Rifaximin waren Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit und Fieber.

 

Antiepileptikum für Zusatztherapie

Mit Lacosamid (Vimpat® Filmtabletten/Sirup/Infusionslösung, UCB GmbH) kam vor einigen Wochen ein neues Antiepileptikum auf den deutschen Markt. Zugelassen ist der Wirkstoff ab einem Alter von 16 Jahren zur Zusatzbehandlung fokaler Anfälle mit oder ohne sekundäre Generalisierung. Was bedeutet das? Fokale Anfälle betreffen nur eine abgegrenzte Hirnregion. Es ist jedoch möglich, dass sich ein zunächst fokaler Anfall über das ganze Gehirn ausbreitet. Geschieht das, sprechen Mediziner von sekundärer Generalisierung.

 

Empfehlenswert ist der Therapiebeginn mit zweimal täglich 50 mg. Danach kann die Dosierung schrittweise auf die empfohlene Tageshöchstdosis von zweimal 200 mg gesteigert werden. Falls das Mittel wieder abgesetzt werden muss, sollte auch das nicht abrupt, sondern in Stufen erfolgen. Nahrungsmittel beeinflussen die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Resorption nicht, sodass die Patienten das Präparat unabhängig von den Mahlzeiten einnehmen können.

 

Der genaue Wirkmechanismus von Lacosamid ist noch nicht bekannt. Zum einen zeigen Studien, dass Lacosamid zur Stabilisierung überregbarer Nervenmembranen beiträgt. Zum anderen gibt es Hinweise darauf, dass der Wirkstoff an ein bestimmtes Protein bindet, das für die Entwicklung von Nervenzellen wichtig ist.

 

Die Behandlung mit Lacosamid kann zu Schwindelgefühl und verschwommenem Sehen führen. Deshalb sollten PTA oder Apotheker den Patienten raten, zu Therapiebeginn nicht am Straßenverkehr teilzunehmen und bei der Arbeit keine potenziell gefährlichen Maschinen zu bedienen. Häufige Nebenwirkungen waren ferner Kopfschmerzen und Übelkeit.

 

Untersuchungen zeigen, dass Lacosamid das EKG verändern kann. Die Substanz darf daher nur mit besonderer Vorsicht bei Patienten mit einer schweren Herzerkrankung angewendet werden oder wenn die Erregungsleitung am Herzen gestört ist. Vorsicht ist auch geboten, wenn Patienten gleichzeitig mit bestimmten Wirkstoffen, beispielsweise Carbamazepin, Lamotrigin, Pregabalin oder Klasse-I-Antiarrhythmika, behandelt werden. Zu Letzteren gehören zum Beispiel die Arzneistoffe Chinidin, Lidocain und Propafenon.

 

Der HIV-Wirkstoff Etravirin

Mit Etravirin (Intelence® 100 mg Tabletten, Janssen-Cilag) ist seit Anfang Oktober ein weiteres HIV-Medikament auf dem deutschen Markt verfügbar. Das Mittel wird mit anderen HIV-Medikamenten zur Therapie von Infektionen mit dem humanen Immundefizienz-Virus 1 (HIV-1) bei bereits vorbehandelten Erwachsenen kombiniert. Die neue Arzneisubstanz gehört zu den nicht nukleosidalen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NNRTI) und damit in die gleiche Wirkstoffgruppe wie die Substanzen Efavirenz, Nevirapin und Delaviridin. Die Wirkstoffe blockieren die Aktivität der reversen Transkriptase, ein von HI-Viren produziertes Enzym, das die Viren für ihre Vermehrung benötigen.

 

Die empfohlene Dosis besteht aus zwei Tabletten zweimal täglich nach einer Mahlzeit. Patienten, die nicht in der Lage sind, Tabletten zu schlucken, können PTA und Apotheker raten, das Mittel in einem Glas Wasser zu einer milchigen Flüssigkeit aufzulösen. Diese muss der Patient dann sofort trinken. Nur mit Vorsicht darf Etravirin bei alten Patienten und bei Patienten mit mittelschweren Leberschäden angewendet werden. Bei Patienten mit schweren Leberschäden sowie unter 18-Jährigen wird die Behandlung mit dem NNRTI nicht empfohlen. Wie andere HIV-Medikamente heilt Etravirin eine HIV-Infektion oder Aids nicht. Jedoch verzögert die antiretrovirale Kombinationstherapie den Schaden am Immunsystem und die Entwicklung von mit Aids verbundenen Infektionen und Krankheiten.

 

Wie der Hersteller berichtet, war das Medikament in Studien im Allgemeinen gut verträglich. Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen bewegten sich in den meisten Fällen auf Placeboniveau. Typisch ist der für NNRTI häufig auftretende Hautausschlag. Dabei bilden sich, zum Beispiel auf den Lippen, im Mund und an den Augen Blasen, gelegentlich schält sich die Haut. Der Ausschlag führte in den klinischen Studien am häufigsten zum Therapieabbruch. Wie bei anderen HIV-Medikamenten birgt auch die Etravirin-Therapie bestimmte Risiken. So kann es zum Beispiel zur Fettumverteilung (Lipodystrophie) oder zum Absterben von Knochengewebe (Osteonekrose) kommen.

 

In der Fachinformation von Intelence werden mögliche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten aufgeführt. Im Abschnitt »Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung« wird ausdrücklich empfohlen, Etravirin nicht mit Tipranavir/Ritonavir zu kombinieren. Das führe dazu, dass die Etravirin-Spiegel deutlich sinken und die Ansprechrate auf den Wirkstoff erheblich beeinträchtigt ist.

 

Neue Option für Anästhesisten

Im Rahmen einer Vollnarkose sollen  Muskelrelaxanzien, zum Beispiel Rocuronium und Vecuronium, die Muskeln der Patienten entspannen, die chirurgischen Bedingungen verbessern und die künstliche Beatmung erleichtern. Mit Sugammadex (Bridion® 100 mg/ml Injektionslösung, N.V. Organon) kam Anfang Oktober ein Präparat auf den Markt, das zur routinemäßigen Umkehr der neuro-muskulären Blockade am Ende der Operation beiträgt.

 

Damit normalisiert sich die Muskelfunktion der Patienten schneller, und sie können rascher wieder selbstständig atmen. Bei Erwachsenen kann das Mittel auch in kritischen Situationen während der Operation eingesetzt werden, wenn eine sofortige Umkehr der Wirkung von Rocuronium erforderlich ist. Indem es die Muskelrelaxanzien Rocuronium und Vecuronium einkapselt, hebt Sugammadex deren Wirkung auf. Im Gegensatz zu den bereits bekannten Umkehrwirkstoffen ist das ein vollkommen neuer Wirkmechanismus.

 

Sugammadex sollte nicht zum Einsatz kommen, wenn andere als die oben genannten Muskelrelaxanzien, beispielsweise Succinylcholin, eingesetzt werden. Die gleichzeitige Gabe mit den Arzneistoffen Toremifen, Flucloxacillin oder Fusidinsäure kann möglicherweise die Wirksamkeit von Sugammadex beeinflussen. Andersherum kann die Substanz die Wirksamkeit anderer Medikamente abschwächen. So ist es denkbar, dass der neue Arzneistoff auch hormonelle Kontrazeptiva einkapselt. 

 

Die empfohlene Dosierung von Sugammadex hängt von der Tiefe der aufzuhebenden neuromuskulären Blockade ab und nicht von der Art der Anästhesie. Das Mittel wird einmalig in die Vene injiziert.

 

Sugammadex kann das Geschmacksempfinden beeinträchtigen. So klagten Patienten sehr häufig über einen metallischen oder bitteren Geschmack. Auch traten häufig Narkosekomplikationen auf, beispielsweise husteten oder bewegten sich die Patienten während der Narkose oder Operation.

 

E-Mail-Adresse des Verfassers:
siebenand@govi.de

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