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Sucht

Aus Langeweile abhängig

24.10.2009  21:22 Uhr

Sucht

Aus Langeweile abhängig

von Klaus Widerström

Bei Sucht denken die meisten Menschen an Alkohol, Nikotin, Drogen oder Tabletten. Wie auch Langeweile süchtiges Verhalten fördert, war Thema einer Tagung der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft.

Bekanntermaßen lösen psychotrope Substanzen eine Reaktion im Zentralnervensystem aus. Bei Nikotin dauert dies im Durchschnitt nur etwa 4 Sekunden. Die Wirkung psychotroper Substanzen auf das Gehirn ist unterschiedlich: Manche entspannen, erzeugen ein starkes Wohlgefühl, lösen sogar Euphorie aus, rufen Trance- und Rauschzustände hervor, andere reduzieren die Schmerzwahrnehmung oder versetzen den Menschen in die Lage, zwei Tage lang ohne Schlaf auszukommen und trotzdem leistungsfähig zu bleiben, beispielsweise durchzutanzen. Doch eines ist allen Mitteln gemeinsam: Ihre Wirkung verliert sich nach kurzer Zeit. Danach »verlangt« der Körper eine möglichst baldige Wiederholung des als angenehm empfundenen Zustandes. Spätestens dann tritt ein weiteres Problem auf: Der Körper entwickelt Toleranzen gegenüber den Substanzen. Daher sind immer kürzere Abstände und oft auch größere Mengen erforderlich, um die gewünschten Effekte hervorzurufen. Die Sucht nimmt ihren Lauf.

Spielsucht in Form des Glücksspiels oder auch der PC-Spielsucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Geldsucht, Machtsucht oder Magersucht sind nicht stoffliche Süchte. Auf das Gehirn wirken sie jedoch ganz ähnlich wie psychotrope Substanzen. Im Unterschied zu Alkoholkranken oder Drogenabhängigen fallen nicht stofflich Abhängige im Alltag eine Zeitlang nicht auf, weil sie den Süchtigen zunächst nicht körperlich kennzeichnen. Wenn PC-Spielsüchtige viele Stunden des Tages und oft auch in der Nacht vor ihren Computern zubringen, vermissen ihre Freunde sie zu Anfang noch nicht. Arbeitssüchtige wirken zwar ständig gestresst und nahezu rund um die Uhr beschäftigt, doch fallen sie erst auf, wenn die Familie und Freunde sie kaum noch zu sehen bekommen.

Für die Wirkung psychotroper Subs-tanzen wie Alkohol oder Ecstasy spielen die Neurotransmitter Dopamin und Serotonin eine wesentliche Rolle. Diese Botenstoffe werden durch Suchtmittel aktiviert und erzeugen sehr angenehme Emotionen, die zur Wiederholung drängen. Bei nicht stofflichen Süchten machen die Abhängigen ähnliche Erfahrungen. Allerdings werden diese durch andere biochemische Prozesse im Gehirn hervorgerufen. Süchtig machende Substanzen oder Verhaltensweisen unterscheiden sich zwar graduell, doch enden beide Wege in einem ganz ähnlichen Wiederholungszwang und beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen auf Dauer gravierend.

Die Frage »Warum werden Menschen überhaupt süchtig?« beschäftigt unter anderem die Psychologen. Diese sind davon überzeugt, dass neben vielen Ursachen psychologische Faktoren eine große Rolle spielen. Unbewältigte Konflikte, permanente Angst, zum Beispiel im Stich gelassen zu werden, ständige Unruhe und unerträgliche Verlusterlebnisse zählen Psychologen zu den Gründen, warum Menschen zu Drogen oder Medikamenten greifen oder von bestimmten Verhaltensweisen abhängig werden. Manchmal steht am Beginn einer Sucht auch nur ganz naive Neugier nach einer neuen Erfahrung. Von großer Bedeutung für die Entstehung einer Sucht, vor allem bei Jugendlichen, sind das psychosoziale Umfeld, die Vorbildwirkung von Eltern oder Idolen sowie der Einfluss von Freunden und Mitschülern. Menschen mit einer Familie und Freunden, die sie mögen und so akzeptieren, wie sie sind, ihnen Trost spenden, wenn es nötig ist, sind fast immer vor den Verlockungen der Sucht geschützt.

Der bekannte Sozialpsychologe Erich Fromm hat in zahlreichen Schriften zu erklären versucht, warum sich Menschen irrational oder sogar krankhaft verhalten. In seinem Buch »Haben oder Sein« aus dem Jahr 1976 beschrieb er, wie sich Menschen in einer konsumorientierten Gesellschaft immer mehr von ihrem materiellen Besitz her definieren statt von ihren eigenen Kräften. Fromm ist der Auffassung, dass die Menschen deshalb zu Süchten neigen, weil sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf fremde Kräfte setzen. Wer nicht in der Lage sei, aus seinen Eigenkräften zu leben, fühle sich innerlich leer, antriebslos und verhalte sich passiv. Wer sich auf seine eigenen körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte verlasse, der fühle sich energiegeladen und sei zu produktiver Tätigkeit und Liebe fähig.

Passiv machende Gesellschaft

Jeder kennt sicher die Stimmung nach einem langweiligen Kinofilm. Man hat das Gefühl, die vergangenen zwei Stunden totgeschlagen zu haben. Ist etwas langweilig, vergeht die Zeit quälend langsam. Gelangweilte Menschen haben Mühe, Interesse aufzubringen, fühlen sich müde und leblos. Der unangenehmen Langeweile wollen Menschen nach Möglichkeit schnellstens entkommen. Als »Langweiler« eingeschätzt zu werden, ist für viele ein niederschmetterndes Urteil. 

In eine ganz andere Stimmung versetzt hingegen die Beschäftigung mit einem Hobby. Anschließend fragt man sich oft, wo die ganze Zeit nur geblieben ist. Sie ist wie im Fluge vergangen. Warum? Während dieser Zeit sind die Menschen innerlich aktiv und lebendig, interessiert und produktiv. 

Hochindustrialisierte Gesellschaften sind wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass die meisten Menschen die Güter aus der Massenfertigung kaufen. Zusätzlich suggeriert ihnen die Werbebranche mit großem Aufwand, dass sie die Produkte dringend brauchen. Daher wird die Bevölkerung in einer konsumorientierten Gesellschaft zu passiven Verbrauchern erzogen. Während die Menschen die ihnen zugewiesene Rolle erfüllen, sollen sie ihre eigene Passivität nicht bemerken. Sie sollen die vielfältigen Angebote nutzen, damit sie sich ihrer fehlenden inneren Produktivität nicht bewusst werden. Außerdem sind heute viele Menschen in ihrem Beruf in einem Ausmaß beschäftigt, dass sie kaum noch zum Luftholen kommen. Die nötige Muße, in der arbeitsfreien Zeit einmal innezuhalten und über das eigene Verhalten nachzudenken, nehmen sich nur wenige. Die meisten nutzen sofort wieder eines der vielen Unterhaltungs- und Erlebnisangebote. Denn wer rund um die Uhr beschäftigt ist, hat keine Zeit, Langeweile zu empfinden!

Es lässt sich sehr wohl ein Zusammenhang zwischen Langeweile und Suchtverhalten herstellen. Ein Mensch, dem es nicht gelingt, sein Leben aktiv und kreativ selbst zu gestalten, wird diesen Mangel unbewusst empfinden und zu kompensieren suchen. Er braucht Stimulanzien, Reize von außen. Diese sorgen dafür, dass er sich dieses Mangels nicht bewusst wird. Genau hier kommen die verschiedenen Süchte ins Spiel. Wer sich tief im Inneren als leblos, ausgelaugt, antriebslos und passiv empfindet, wer an mangelndem Selbstwertgefühl leidet, von anderen missachtet wird, kann diese unerträgliche Situation abmildern: Er raucht einen Joint, »gönnt« sich ein paar Gläser, bringt sich mit Tabletten »gut drauf« oder loggt sich in sein PC-Spiel ein. Manche Menschen versuchen der potenziellen Langeweile auf andere Weise zu entkommen. Sie suchen den Nervenkitzel in immer neuen Extremsportarten, treiben Körperkult im Fitnessstudio, setzen auf Gewinnchancen beim Glücksspiel oder arbeiten rund um die Uhr, damit sie immer reicher und mächtiger werden oder mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Auswege aus dem Dilemma

Die Möglichkeiten zur Zerstreuung sind vielfältig. Alle sorgen auf angenehme Weise dafür, dass keine Zeit bleibt, sein Handeln und seine Gewohnheiten zu überdenken. Doch genau das sollte jeder einmal tun und sich fragen: Treibe ich nur auf einer Woge von Gewohnheitsimpulsen durchs Leben und werde von anderen bewegt? Oder bin ich ein Mensch, der innerlich lebendig und aktiv ist und aus seinen Eigenkräften lebt? Bin ich eingebettet in soziale Bezüge, die mich bereichern? Menschen, die bereit sind, sich für ihre Mitmenschen zu engagieren, wird es nur selten langweilig sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind diese Menschen auch nicht suchtgefährdet.

Haben oder Sein

Der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm stellt hier die Frage nach den seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Durch seine Lesbarkeit und Prägnanz ist das Buch besonders geeignet, in Fromms Gedankenwelt einzutauschen. Das Buch ist eines seiner berühmtesten Werke.

Erich Fromm, Funk, Rainer (Hrsg.), Überarbeitet von Rainer Funk, 272 Seiten, dtv, ISBN 978-3-423-34234-6, 7,90 Euro

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