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Arzneimitteltherapie

Neue Arzneistoffe im September 2011

23.09.2011  12:46 Uhr

Von Sven Siebenand / Drei neue Wirkstoffe bereichern seit September das Spektrum der deutschen Fertigarzneimittel. Boceprevir zeigte in Studien Erfolge bei Hepatitis-C-Patienten, Fampridin überzeugte bei MS-Patienten mit Gehbehinderungen. Neuling Nummer drei ist Pirfenidon, ein Mittel gegen eine seltene Lungenerkrankung.

Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge sind weltweit etwa 170 Millionen Menschen mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) infiziert. In Deutschland sind schätzungsweise 400 000 bis 800 000 Menschen betroffen. Häufig wird die Infektion erst spät erkannt, denn die Blutuntersuchung auf HCV gehört nicht zur normalen Routine, und die Symptome (siehe Kasten) sind manchmal nicht eindeutig.

Neuer Hepatitis-C-Wirkstoff

Seit Kurzem gibt es mit Boceprevir (Victrelis® 200 mg Hartkapseln, MSD) eine weitere Therapiemöglichkeit für Patienten mit chronischer Hepatitis C vom Genotyp 1. Diese Virusvariante verursacht in Deutschland etwa 70 Prozent der Hepatitis-C-Infektionen. Boceprevir wird mit zwei anderen Wirkstoffen kombiniert: Peginterferon alfa und Ribavirin. Studien haben gezeigt, dass mit dieser Dreifachkombination signifikant mehr Patienten geheilt werden als mit den beiden bisher bekannten Wirkstoffen alleine.

Boceprevir ist für die Anwendung bei Patienten bestimmt, deren Leber zwar geschädigt ist, aber noch normal arbeitet. Der Arzt kann Patienten den neuen Wirkstoff verordnen, wenn

  • diese bisher unbehandelt waren oder
  • auf eine vorangegangene Therapie nicht angesprochen haben oder
  • einen Rückfall erlitten haben.

Vor dem Therapiestart mit Boceprevir müssen die Patienten zunächst vier Wochen lang Peginterferon alfa und Ribavirin einnehmen und danach zusätzlich etwa bis zu 44 Wochen dreimal täglich vier 200-mg-Kapseln Boceprevir.

Symptome einer Hepatitis-C- Infektion

Viele Infizierte fühlen sich nicht krank. Nur bei einigen Betroffenen treten kurz nach der Infektion mit den Viren leichte bis schwere Symptome auf. Dazu gehören:

  • Fieber,
  • Müdigkeit,
  • Konzentrationsschwierigkeiten,
  • Angst und Depressionen,
  • Appetitverlust,
  • Magenschmerzen,
  • Muskel- und Gelenkschmerzen,
  • dunkler Urin,
  • Gelbfärbung der Haut und/oder Augen (Ikterus),
  • Übelkeit und Erbrechen.

PTA oder Apotheker sollten die Patienten darauf hinweisen, die zwölf Kapseln immer zu einer Mahlzeit einzunehmen, denn sonst wirkt Boceprevir möglicherweise schlechter. Falls ein Patient eine Dosis vergessen hat und die nächste Dosis in weniger als zwei Stunden erfolgen muss, soll er die vergessenen Kapseln weglassen. Ist der Zeitraum bis zur nächsten Dosis länger, sollte der Patient die vergessenen Kapseln zusammen mit Nahrung einnehmen und das übliche Dosierungsschema fortführen.

 

Der Protease-Inhibitor Boceprevir blockiert das Enzym HCV-NS3-Protease, das Hepatitis-C-Viren vom Genotyp 1 für die Vermehrung benötigen. Wird das Enzym gehemmt, verlangsamt das die Vermehrungsrate, und der Körper kann die Viren schneller eliminieren.

Als häufigste Nebenwirkungen von Boceprevir traten Erschöpfung, Anämie, Übelkeit, Kopfschmerz und Veränderungen des Geschmacksinns auf. Patienten mit autoimmuner Hepatitis (von einer Immunerkrankung hervorgerufene Leberentzündung) und Schwangere dürfen kein Boceprevir erhalten. Da Boceprevir ein starker CYP3A4/5-Inhibitor ist, müssen laut Fachinformation etliche Wechselwirkungen beachtet werden. Die gleichzeitige Einnahme von Boceprevir kann bei Arzneimitteln, die ebenfalls durch CYP3A4/5 metabolisiert werden, dazu führen, dass die anderen Arzneimittel stärker beziehungsweise länger wirken. Das gilt sowohl für die erwünschten als auch für die unerwünschten Wirkungen. Aus diesem Grund ist beispielsweise die gleichzeitige orale Anwendung von Midazolam und Triazolam, Bepridil, Pimozid, Lumefantrin, Halofantrin, Tyrosin-Kinase-Inhibitoren (Medikamente gegen Tumore) und Ergotderivaten verboten. Die Behandlung mit Boceprevir zusammen mit Rifampicin oder Antiepileptika, zum Beispiel Phenytoin, Phenobarbital oder Carbamazepin, kann den Blutspiegel des neuen Wirkstoffs signifikant senken. Zudem sind Arzneimittel mit Vorsicht anzuwenden, die das sogenannte QT-Intervall verlängern, etwa Amiodaron, Chinidin, Methadon, Pentamidin und einige Neuroleptika.

Neues Medikament für MS-Patienten

Zur Verbesserung der Gehfähigkeit von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) ist das neue Fampridin-haltige Retardpräparat Fampyra® von Biogen Idec seit Anfang September verfügbar. Das besondere Charakteristikum des neuen Präparates ist die konstante verzögerte Wirkstofffreigabe, sodass die Einnahme nur alle 12 Stunden erfolgen muss. Die Ärzte können Fampyra bei allen Formen von MS einsetzen und auch mit anderen Therapeutika kombinieren, zum Beispiel mit immunmodulatorischen Arzneimitteln.

Im Regelfall nehmen die Patienten je eine Tablette nüchtern im Abstand von zwölf Stunden über zwei Wochen hinweg ein. Danach beurteilt der Arzt den Behandlungserfolg und entscheidet, ob er die Therapie fortsetzt. Der Anteil der Patienten, die auf die Therapie mit Fampyra ansprachen, lag in zwei Studien bei 35 beziehungsweise bei 43 Prozent. Die Gehgeschwindigkeit dieser Patienten verbesserte sich im Durchschnitt um 25 Prozent.

Als Kaliumkanalblocker wirkt Fampridin auf geschädigte Nerven, indem er verhindert, dass Kaliumionen aus den Nervenzellen entweichen. Es wird angenommen, dass dadurch die elektrischen Impulse weiter an den Nerven entlang wandern können und die Muskeln stimulieren, sodass den Patienten das Gehen leichter fällt.

In Studien traten Harnwegsinfekte bei etwa jedem achten Patienten auf. Weitere Nebenwirkungen von Fampridin sind vor allem neurologischer Natur, zum Beispiel Krämpfe, Schlafstörungen, Angststörung, Gleichgewichtsprobleme, Schwindel, Zittern, Kopfschmerz und Schwäche. Wichtig zu wissen: Fampridin darf nicht mit Arzneimitteln kombiniert werden, die den organischen Kationentransporter 2 inhibieren wie Cimetidin. Zudem dürfen Patienten mit akuten oder in der Vergangenheit aufgetretenen Krampfanfällen den Wirkstoff nicht erhalten. Gleiches gilt für Patienten mit Nierenproblemen.

Fampridin wurde »unter Auflagen« zugelassen, da weitere Nachweise für den Nutzen des Arzneimittels erwartet werden, insbesondere wie sich das Arzneimittel langfristig auf andere Aspekte der Gehbehinderung auswirkt. Der Hersteller von Fampridin wird noch eine Langzeitstudie zur Wirksamkeit und Sicherheit des neuen Medikamentes durchführen.

Neues Orphan Drug

Die idiopathische Lungenfibrose (IPF) ist eine seltene und tödlich verlaufende Erkrankung, an der in Deutschland ungefähr 12 000 bis 22 000 Patienten leiden. Charakteristisch für IPF ist eine Entzündung und Vernarbung (Fibrose) in der Lunge. Dies verursacht hartnäckigen Husten, häufige Lungeninfektionen und starke Kurzatmigkeit. Die meisten Betroffenen erkranken im Alter zwischen 40 und 70 Jahren und leben nach der Diagnose nur noch zwei bis fünf Jahre.

Seit dem 15. September 2011 ist Pirfenidon (Esbriet® 267 mg Hartkapseln, InterMune) als erstes Medikament für die Therapie dieser chronischen Atemwegserkrankung auf dem deutschen Markt verfügbar. Pirfenidon ist ein relativ kleines Molekül. Die Substanz hemmt die Produktion des Transformierenden Wachstumsfaktors TGF-beta (TGF = Transforming Growth Factor), der bei der Entstehung der Fibrose eine Schlüsselrolle spielt. Zudem hemmt Pirfenidon die Synthese des Tumornekrosefaktors TNF-alpha, der aktiv an Entzündungsprozessen beteiligt ist.

IPF-Patienten nehmen Pirfenidon dreimal täglich zu den Mahlzeiten ein, in der ersten Woche dreimal eine Kapsel, in der zweiten Woche dreimal zwei Kapseln und ab der dritten Woche dann dreimal drei Kapseln.

Der Arzt muss vor und während der Behandlung regelmäßig die Leberfunktion des Patienten kontrollieren. Ändern sich zum Beispiel bestimmte Enzymwerte, dann kann es erforderlich werden, die Dosis (vorübergehend) zu verringern. Auch wenn der Patient über Magenbeschwerden oder Hautreaktionen aufgrund erhöhter Lichtempfindlichkeit klagt, kann eine Dosisreduktion notwendig werden. Denn Photosensibilitätsreaktionen, gastrointestinale Beschwerden und Müdigkeit zählen zu den häufigsten unerwünschten Wirkungen von Pirfenidon. PTA und Apotheker sollten Patienten auf diese Nebenwirkungen der Substanz hinweisen und ihnen in diesem Zusammenhang folgende Ratschläge geben:

  • Aufenthalt im direkten Sonnenlicht oder auch im Solarium vermeiden beziehungsweise auf ein Minimum beschränken,
  • täglich ein Sonnenschutzmittel verwenden und vor Sonnenlicht schützende Kleidung tragen,
  • gleichzeitig keine anderen photosensibilisierenden Arzneimittel einnehmen.

Patienten mit schweren Leber- oder Nierenerkrankungen dürfen Pirfenidon nicht erhalten. Nehmen Patienten das Antidepressivum Fluvoxamin ein, verbietet sich ebenfalls die Verordnung von Pirfenidon, denn der Arzneistoff wird überwiegend durch CYP1A2 metabolisiert. Wie Fluvoxamin hemmt außerdem noch Grapefruitsaft CYP1A2. Diesen Zusammenhang sollten die Patienten kennen und besser auf dieses Getränk verzichten. Auch Zigaretten bleiben besser unangezündet, weil Rauchen ebenfalls die Produktion der Leberenzyme CYP1A2 induziert. Untersuchungen zeigten, dass bei Rauchern im Vergleich zu Nichtrauchern die wirksame Substanzmenge von Pirfenidon um 50 Prozent reduziert war. /

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siebenand(at)govi.de