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Chronopharmakologie

Therapie nach Tageszeit

11.05.2015  13:36 Uhr

Von Inga Richter / Morgens arbeitet der menschliche Körper anders als abends. Der biologische Rhythmus bestimmt, wann wir wach oder müde sind und auch, wann Medikamente besser wirken und vertragen werden. Mit der Erforschung chrono­pharma­kologischer Zusammenhänge erarbeiten Wissenschaftler Stück für Stück, wie sich die Arzneimitteltherapie optimieren lässt.

Der Wechsel von Tag und Nacht beeinflusst nahezu alle physiologischen Funktionen von Lebewesen. Jede einzelne Zelle ist mit Genen ausgestattet, welche diese zirkadianen Rhythmen steuern. Der äußere Taktgeber ist das Sonnenlicht. Wenn am Morgen die ersten Strahlen auf die Netzhaut der Augen treffen und retinale Ganglienzellen diese Information an das Gehirn weiterleiten, verebbt die Produktion des Schlafhormons Melatonin. Stattdessen werden vermehrt Stresshormone ausgeschüttet. Cortisol und Adrenalin regulieren den Stoffwechsel, setzen Reserven frei und stellen so die Energie für den Tag. Herzschlag und Atemfrequenz nehmen zu. Herzkranzgefäße und Bronchiolen erweitern sich und die Blutgefäße ziehen sich zusammen. Der Blutdruck steigt. So bereitet sich der Körper auf »Fight or Flight« vor: Kampf oder Flucht, eine evolutionär bedingte Anpassung an potenzielle Gefahren­situationen.

Im Gegenzug werden die Funktionen gehemmt, die für Leistung und Aktivität unnötig oder gar hinderlich sind, die Darmtätigkeit etwa und die Durchblutung von Haut und Nieren. Nimmt die Lichtintensität am Abend ab, kehren sich die verschiedenen Vorgänge allmählich um. Licht und Dunkelheit dirigieren aber nicht nur, wann wir körperlich fit oder müde sind, Nahrung benötigen oder besser nicht essen sollten. Auch haben sie Einfluss darauf, wann Medikamente am besten wirken.

Nachtaktive Nagetiere

Seit einigen Jahrzehnten befassen sich Wissenschaftler mit der Chronopharmakologie, der Beziehung zwischen Arzneistoffen und der Tageszeit. In Deutschland war Professor Dr. Björn Lemmer vom Institut für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie in Mannheim maßgeblich daran beteiligt, diesen Forschungszweig zu etablieren. 1973 erschien seine erste Arbeit zu dem Thema, erzählt der Mediziner und Pharmakologe. Damals hatte er Untersuchungen über Neurotransmitter an Ratten durchgeführt: »Die Ergebnisse waren fürchterlich.« Dann wurde ihm klar, dass Ratten im Gegensatz zu Menschen nachtaktiv sind und ihr Stoffwechsel auf Hochtouren läuft, wenn wir eigentlich schlafen. Resultate an nachtaktiven Nagetieren liefern demnach nur Hinweise auf physiologische Vorgänge beim Menschen, wenn sie nachts gewonnen werden.

Tabelle: Günstige Tageszeiten für die Einnahme von Arzneimitteln (Beispiele).

Medikament Indikation Einnahme- Empfehlung Begründung
Blutdruckpräparate
ACE-Hemmer Betablocker
Primärer
Bluthochdruck
morgens Chronotherapie nach individuellem 24-Stunden-Blutdruckprofil. Morgens kommt es häufiger zu kardialen Ereignissen.
Medikamente mit verzögerter Freisetzung abends
ACE-Hemmer
Calciumkanalblocker
(u. a. Amlodipin)
Sekundärer Bluthochdruck abends Zur nächtlichen Blutdrucksenkung
Propranolol Angina pectoris Einmalgabe gegen 8 Uhr empfohlen Morgens kommt es häufiger zu kardialen Ereignissen
Thrombozyten-
aggregationshemmer (ASS)
Infarkt-Prophylaxe morgens
Statine Erhöhter Cholesterolspiegel abends Nachts steigt der Cholesterolspiegel
Antikoagulanzien
Standardheparin
Hemmung der Blutgerinnung Subkutane Injektionen um 4 Uhr und 16 Uhr effektiv
Antiasthmatika Theophyllin (retardiert) Prednison; Prednisolon Terbutalin Beta-2-Sympathomimetika (Formoterol, Salbutamol) Anticholinergika Asthma 2/3 der Dosis abends (21 Uhr), 1/3 morgens Bronchien sind in der Nacht verengt, Lunge reagiert empfindlicher auf verengende Substanzen wie Histamin, Acetyl­cholin und Allergene; kaum Produktion von körper­eigenem Cortisol.
Glucocorticoide (inhalativ) Asthma 2/3 der Dosis bis 8 Uhr, 1/3 nachmittags Die körpereigene Cortisolproduktion ist zwischen 6 und 8 Uhr am höchsten. Die Therapie soll an den natürlichen Rhythmus angepasst werden. Gefahr der Suppression der Nebennierenrinde geringer, wenn körper­eigene Konzentration hoch ist.
Analgetika Indometacin (Retardform) Rheuma 20 Uhr Besser verträglich und wirksam, wenn die Gelenksteifigkeit am Morgen auftritt
Ketoprofen (Retardform) abends Besser verträglich
Lokalanästhetika wie Lidocain Zahnbehandlung 15 Uhr Wirkt nachmittags dreimal länger als morgens.
Protonenpumpenhemmer (z. B. Omeprazol, Pantoprazol) Refluxösophagitis, Magen-, Zwölffinger-
darmgeschwür
Morgens (auch abends möglich) Wird abends schneller zersetzt
H2-Antagonisten (Cimetidin, Famotidin, Ranitidin) Ulkusleiden Einmalgabe zum Abendessen Nachts erhöhte Produktion von Magen­säure
H1-Antagonisten Allergische Rhinitis Einmalgabe abends Milderung der morgendlichen allergischen Reaktion, Vorteil: sedierende Nebenwirkung

Modifiziert nach H. J. Koch, Regensburg, und Christoph Raschka, Petersberg: »Grundlagen und praktische Anwendung der Chronopharmakologie«. Die Tabelle erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

 

Inzwischen ist für viele Wirkstoffe belegt, dass die erwünschten und unerwünschten Wirkungen tageszeitliche Variationen aufweisen. Verantwortlich dafür ist einerseits die wechselnde Empfindlichkeit des Zielorgans oder -gewebes und andererseits die zeitabhängig variierende Pharmakokinetik der Substanzen. Je nach Aktivität der beteiligten Gewebe oder Organe werden sie unterschiedlich schnell oder vollständig vom Körper aufgenommen, verteilt, umgewandelt und ausgeschieden. Wirkstoffe in Tabletten, Kapseln oder Säften beispielsweise gelangen über die Schleimhäute von Magen und Darm in den Blutkreislauf und somit zum Zielorgan. Dabei spielt es eine wichtige Rolle, dass sich der Magen morgens rascher entleert als am Abend und der Magen- und Darmtrakt in der Nacht und am frühen Morgen stärker durchblutet wird als am Tag.

Somit wirken manche Arzneistoffe bei morgendlicher Einnahme stärker –damit steigt allerdings auch das Risiko für Nebenwirkungen. Auch die Leber als Hauptort der Metabolisierung wird zu verschiedenen Tageszeiten mal mehr oder weniger durchblutet und die Nieren als Ausscheidungsorgane produzieren unterschiedliche Mengen an Urin. Auch die Zusammensetzung des Urins verändert sich im Tages­verlauf.

»Pathophysiologische Ereignisse, wie Herzinfarkt, Angina pectoris, Asthmaanfälle, und Magen-Darm-Ulzera, treten nicht gleichmäßig verteilt über 24 Stunden auf, sondern haben ein tagesrhythmisches Muster«, sagt Lemmer. Dieses Wissen kann man nutzen: Die Gabe von Arzneimitteln zum richtigen Zeitpunkt kann deren Wirkungen optimieren und/oder Nebenwirkungen reduzieren. Mehr noch: In tierexperimentellen Untersuchungen mit Zyto­statika wie Cyclophosphamid oder Cytosin-Arabinosid konnten die Wirkstoffe aufgrund der besseren Verträglichkeit zu bestimmten Zeiten höher dosiert und damit die Heilungsquote verbessert werden. Bei anderen Medikamenten ist es manches Mal möglich, die Dosierungen zu verringern. Dadurch wird sowohl der Körper der Betroffenen weniger belastet als auch das Budget des Gesundheitssystems.

Schwankender Blutdruck

»Sehr stark durch die Tagesrhythmik beeinflusst wird die Blutdruckregula­tion«, sagt Lemmer. Das gelte auch für Folgeerkrankungen wie Schlaganfall oder Durchblutungsstörungen des Herzens. Bluthochdruck ist tagsüber in der Regel stärker ausgeprägt. Bei der primären Hypertonie verengen sich die Gefäße am Morgen besonders und erhöhen so die Gefahr kardialer Ereignisse. Daher empfehlen Ärzte in der Regel, blutverdünnende Arzneimittel, Betablocker und ACE-Hemmer am besten morgens einzunehmen. Blutdrucksenkende Arzneimittel mit verzögerter Wirkung sollten dagegen am Abend eingenommen werden. Seltener kommt der sekundäre Bluthochdruck als Folge anderer Erkrankungen vor. Hierbei sinkt der Druck auch in der Nacht nicht ab, sodass zur abendlichen Einnahme der Medikamente geraten wird.

Allerdings: Blutdruckschwankungen hängen von vielen Faktoren ab, wie Aufregung und Stress. Um die individuelle Tageseinteilung der Dosierung genau zu bestimmen, empfehlen Mediziner ein 24-Stunden-Blutdruckprotokoll. »Der Blutdruck schwankt nicht nur im Laufe eines Tages, sondern auch im Verlauf der Jahreszeiten«, so Lemmer: »Im Winter ist er deutlich höher und damit auch das Risiko für schwere Komplikationen.« Warum das so ist, weiß man nicht. Wohl aber, dass in der kalten Jahreszeit 20 bis 50 mal mehr Menschen an Herz-Kreislauf-bedingten Vorfällen sterben als im Sommer.

In der Praxis umgesetzt

Die Chronopharmakologie als Forschungszweig ist vergleichsweise jung. Noch sind längst nicht alle Wechselbeziehungen aufgedeckt. Einige der Erkenntnisse und die darauf basierenden Empfehlungen wurden allerdings bereits in die Arzneimittelverordnung aufgenommen. Asthmatiker beispielsweise erleiden meistens Anfälle in der Nacht. Die Lungengefäße sind verengt und reagieren empfindlicher auf bronchienverengende Substanzen wie Histamin oder Allergene. Cortisol, das die Bronchien erweitert, wird in der ersten Nachthälfte kaum produziert. Bei nächtlichen Asthmaanfällen empfehlen Ärzte daher, die Hauptdosis lang wirksamer Beta-2-Sympathomimetika oder eine Theophyllin-Einmaldosis abends einzunehmen. Die Anwendung von Cortisonpräparaten dagegen ist frühmorgens günstiger, wenn die körpereigene Cortisolproduktion auf Hochtouren läuft und durch den zusätzlichen Wirkstoff weniger beeinflusst wird.

H2-Antihistaminika, die die Produk­tion von Magensäure hemmen, nimmt man am besten abends, da der Magen in der Nacht viel Säure produziert. Auch Antirheumatika sind – abends eingenommen – besser wirksam, wenn die Patienten morgens unter steifen Gelenken leiden. Und wer eine Zahnbehandlung braucht, lässt sich den Termin besser auf den Nachmittag legen. Nachgewiesenermaßen wirken Lokal­anästhetika wie Lidocain gegen 15 Uhr dreimal länger als morgens. /

Buchtipp:

Chronopharmakologie
Biologische Rhythmen und Arzneimittelwirkung

Björn Lemmer (Autor),
4., überarbeitete und erweiterte Auflage, 2011,
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft

ISBN: 978-3-8047-2786-1, EUR 34,90