Gene womöglich mitschuldig |
18.05.2018 16:12 Uhr |
Von Elke Wolf / Der plötzliche Kindstod wird mit äußeren Faktoren wie der Bauchlage des Säuglings, Wärmestress oder mit dem Rauchen der Eltern in Verbindung gebracht. Doch er hat vermutlich auch innere genetische Ursachen. Laut britischen und US-amerikanischen Forschern könnte ein genetisch bedingtes Versagen der Atemmuskulatur für den stillen Tod verantwortlich sein.
Der plötzliche Kindstod ist keine Krankheit, sondern lediglich eine Diagnose oder Bezeichnung, wenn ein scheinbar gesundes Baby plötzlich und unerwartet ohne erkennbare Anzeichen verstirbt. Die Gefahr ist zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat am höchsten. Die 1970 eingeführte Bezeichnung »Sudden Infant Death Syndrom« (SIDS) ist nach wie vor gültig und beschreibt nicht im eigentlichen Sinn ein Syndrom, sondern steht für eine Gruppe von Todesfällen, deren Ursache sich mit den heutigen diagnostischen Mitteln nicht klären lässt.
Sicher in den Schlaf: Säuglinge sollten zum Schlafen auf den Rücken gelegt werden. Das senkt das SIDS-Risiko.
Foto: iStock/Halfpoint
Weitgehend Einigkeit herrscht in der Fachwelt jedoch über Faktoren, die den plötzlichen Kindstod begünstigen können. Nach der Triple-risk-Hypothese müssen folgende drei Parameter zusammentreffen: eine kritische Entwicklungsphase während des ersten Lebensjahrs, exogene Belastungen (wie Schlafen in Bauchlage, eine Atemwegsinfektion oder Überwärmung beim Schlafen) und ein vulnerables Kind (wie durch rauchende Mutter, genetische Vorbelastung). Das führe im Zusammenspiel dazu, dass die Säuglinge auf eine akut einsetzende Hypoxie nicht adäquat reagieren können, sie also letztlich an einem Atemversagen versterben.
Besonders der Faktor der genetischen Vorbelastung beschäftigt seit Jahren die Wissenschaftler. So ist eine familiäre Häufung augenscheinlich. Das Risiko in Familien, in denen es bereits einen plötzlichen Kindstod gegeben hat, ist für nachgeborene Kinder erhöht. Das bestätigt erneut eine aktuelle Registerstudie aus Dänemark. Das Risiko war für Kinder, deren Geschwister im Kinderbettchen verstorben waren, viermal höher als für andere. Dr. Charlotte Glinge und Kollegen haben dazu 2373 Kinder nachverfolgt, bei denen ein älteres Geschwisterkind plötzlich verstorben war.
Auch Zwillingskinder sind vermutlich stärker im SID-Visier. Wirklich bedrohlich wird es für ein Zwillingskind, wenn sein gleich altes Geschwisterchen stirbt. Es gibt eine Reihe von Veröffentlichungen über fast gleichzeitige Todesfälle bei Zwillingen. Daher raten heute viele Ärzte, nach dem Tod eines Zwillingskindes das Überlebende sofort für eine gewisse Zeit stationär aufzunehmen, damit es intensiv überwacht werden kann. Welche Gene konkret am stillen Tod der Kinder verantwortlich sein könnten und warum, hat man bislang nicht herausgefunden.
Atmung geschwächt
Wissenschaftler um Dr. Roope Männikkö vom University College London vermuten nun, dass eine Gefährdung des Kindes auch von einer Veränderung im SCN4A-Gen ausgehen könnte. Ihre Untersuchungen haben sie im Fachjournal »The Lancet« veröffentlicht. Das Gen codiert für einen spannungsabhängigen Natriumkanal (NaV1.4), der für die Generierung von Aktionspotenzialen in der Skelettmuskulatur verantwortlich ist. Funktioniert er nicht optimal, verlieren die Muskeln an Kraft.
Im Erwachsenenalter manifestiert sich eine solche Mutation in Form neuromuskulärer Störungen, beispielsweise einer Myasthenie oder Myopathie. Das geschieht allerdings selten, bei einer von 100 000 Personen. Da der dysfunktionale Natriumkanal auch auf der Atemmuskulatur exprimiert wird, kommt es bei den Mutationsträgern häufig auch zu respiratorischen Beschwerden bis hin zu lebensbedrohlichen Apnoen.
Um zu klären, ob SCN4A-Genmutationen ein Risikofaktor für den plötzlichen Kindstod darstellen, sequenzierten die Forscher die DNA von 278 verstorbenen Kindern kaukasischer Abstammung. In allen Fällen war die Todesursache trotz umfangreicher Untersuchungen nicht eindeutig nachzuweisen. Zum Vergleich zogen die Wissenschaftler 729 gesunde Erwachsene gleicher Ethnie heran, die weder an kardialen noch an neurologischen oder respiratorischen Vorerkrankungen litten. Bei vier der verstorbenen Kinder (1,4 Prozent), aber bei keinem der Kontrollprobanden konnten die Wissenschaftler eine dysfunktionale SCN4A-Genvariante nachweisen.
»Der plötzliche Kindstod hat möglicherweise eine genetische Basis, auch wenn die Zusammenhänge noch nicht vollends verstanden sind«, schlussfolgern die Pädiater um Männikkö. Sie betonen aber auch, dass die von ihnen entdeckten Genvarianten nicht die alleinige Ursache des plötzlichen Kindstods sein können. Der damit einhergehende Funktionsverlust des Ionenkanals reiche wahrscheinlich nicht aus, um ein Atemversagen zu induzieren.
Die Experten äußern die Vermutung, dass die Atmung der betroffenen Kinder bei der Geburt noch normal funktioniert hat. Doch die bei den verstorbenen Babys überproportional häufig nachgewiesenen Natriumkanal-Mutationen haben die Vulnerabilität der Kinder für exogene respiratorische Stressoren in einer kritischen Entwicklungsphase erhöht, meinen die Experten. Aufgrund dieser geschwächten Atemmuskulatur sind die Kinder dann in Risikosituationen – beispielsweise bei Rauchexposition, einer ungünstigen Schlafposition oder bei einem Infekt – unfähig, mit raschen und kraftvollen Kontraktionen auf eine Hypoxie zu reagieren, also ihre Atmung zu beschleunigen, zu husten oder den Atem kurzzeitig anzuhalten, so die Hypothese.
Die Erkenntnisse lassen auf medikamentöse Interventionsmöglichkeiten hoffen. Laut der Autoren deutet etwa ein Fallbericht darauf hin, dass der Carboanhydrasehemmer Acetazolamid, der unter anderem zur Prophylaxe der Höhenkrankheit eingesetzt wird, auch bei SCN4A-Mutation die Atmungseffektivität erhöht. Möglicherweise könnten Geschwister eines am plötzlichen Kindstod verstorbenen Kindes von einer prophylaktischen Gabe profitieren.
Nach wie vor zu viel
Die Inzidenz des plötzlichen Kindstodes ist zwar seit den 1990er-Jahren stetig zurückgegangen. Der Tod im Kinderbett ist in reicheren Ländern jedoch noch immer eine der häufigsten Todesursachen im Säuglingsalter. In Deutschland verstarben 2015 127 Kinder auf diese mysteriöse Weise. Zehn Jahre zuvor waren es noch 350 Kinder. Eine intensivierte Aufklärungsarbeit bei Schwangeren und jungen Eltern macht man für diese Erfolge verantwortlich. Eine sichere Schlafumgebung, wie im Kasten beschrieben, ist nach wie vor essenziell, um das Schicksal nicht herauszufordern. /
Einige einfache Maßnahmen helfen, das SIDS-Risiko fürs Kind auf ein Minimum zu senken. Die folgenden Empfehlungen sind wissenschaftlich belegt und haben sich in der Praxis bewährt: