Alle Behandlungsmöglichkeiten nutzen |
03.12.2007 10:05 Uhr |
Alle Behandlungsmöglichkeiten nutzen
Birgit Masekowitz, Berlin
Bei der Therapie der Harninkontinenz hat die Medizin in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Über 90 Prozent aller Betroffenen können derzeit erfolgreich behandelt werden. Vorlagen oder Windeln sollten im Idealfall Patienten nur über die Zeit hinweghelfen, bis Medikamente oder andere Maßnahmen wirken.
Obwohl die Harninkontinenz als Erkrankung mit erheblichem Leidensdruck anerkannt ist, scheuen sich viele Betroffene, ihr Problem mit einem Arzt zu besprechen. Stattdessen versuchen sie, ihren Alltag trotz der Schwierigkeiten zu bewältigen. Dennoch verändert Blasenschwäche langfristig ihr Leben: Viele verlassen nur ungern ihr Zuhause, die Gedanken kreisen ständig um die nächste erreichbare Toilette, und sie befürchten, in der Öffentlichkeit Urin zu verlieren. Oft führt das über kurz oder lang zu sozialer Isolation. Auch Angehörige sind schnell überfordert, wenn ältere Menschen ihre Blase nicht mehr kontrollieren können. Inkontinenz ist einer der Hauptgründe für die Einweisung in ein Pflegeheim.
Eine gesunde Blase funktioniert durch das Zusammenspiel mehrerer Muskelgruppen. Wichtig sind der innere Blasenschließmuskel am Blasenausgang (interner Sphincter urethrae) und der Blasenmuskel (Detrusor). Gesteuert werden diese Muskeln durch das unwillkürliche Nervensystem. Impulse des Sympathikus bewirken, dass sich der Detrusor entspannt, so dass sich die Blase ausdehnen und Urin sammeln kann. Gleichzeitig sorgt der Sympathikus dafür, dass die Schließmuskeln den Blasenausgang abdichten. Ab einer Urinmenge von 200 bis 400 ml meldet die Blase den Harndrang an das Gehirn. Dann veranlasst der Parasympathikus, dass der Detrusor kontrahiert, die Schließmuskeln sich entspannen und die Blase entleert werden kann.
Auch der Beckenboden mit seinen verschiedenen trichterförmig nach unten gewölbten Skelettmuskeln hat für die Kontinenz eine entscheidende Funktion. Er muss kräftig genug sein, um die Lage der Bauch- und Beckenorgane zu sichern und die Schließmuskulatur von Harnröhre und After zu unterstützen.
Muskelkraft lässt nach
Die beiden häufigsten Formen der Harninkontinenz, die Drang- und die Belastungsinkontinenz, haben verschiedene Ursachen und werden daher auch anders therapiert. Bei der Belastungsinkontinenz ist der Schließmuskel am Blasenausgang zu schwach. Daher können schon kleine Belastungen wie Heben, Niesen, Husten oder Treppensteigen dazu führen, dass Urin ausläuft. Als wesentliche Ursache hierfür sehen Mediziner die durch Geburten, Alterung und Überlastung geschwächte Muskulatur des Beckenbodens und das Bindegewebe, das Blase, Gebärmutter, Scheide und Enddarm an ihrem Platz hält. Infolgedessen senken sich die Organe nach unten ab, und die Harnröhre wird stärker gekrümmt, so dass die Verschlussmechanismen nicht mehr richtig funktionieren. Wegen dieser Zusammenhänge ist das Beckenbodentraining ein wichtiges Instrument der Therapie der Belastungsinkontinenz.
Besonders nach den Wechseljahren kann auch der Estrogenmangel die Inkontinenz bei Frauen verursachen. Denn das Hormon und seine Metabolite wirken festigend auf das Bindegewebe und das Harnröhrenepithel. Ärzte verordnen den betroffenen Frauen daher Estrogencremes oder -zäpfchen, die sie zwei- bis dreimal pro Woche in die Scheide einbringen. Allerdings ist noch nicht geklärt, wie sich eine topische Estrogentherapie auf die Brustkrebsrate auswirkt. Daher sollten Frauen mit einem Mammakarzinom mit ihrem Arzt Nutzen und Risiken einer solchen Therapie sorgfältig abwägen. Auch über die Zunahme des Thrombose- oder Embolierisikos liegen keine abschließenden Daten vor.
Zur medikamentösen Behandlung der Belastungsinkontinenz werden Arzneisubstanzen eingesetzt, die den Schließmechanismus der Blase kräftigen. Seit 2004 steht hierfür der Wirkstoff Duloxetin (Yentreve®) zur Verfügung. Duloxetin ist ein zentral wirksamer Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und wurde ursprünglich als Antidepressivum entwickelt. Er erhöht die Konzentration der beiden Neurotransmitter und verstärkt so die Wirkung des Sympathikus auf den Blasenschließmuskel. Eine Dosis von zweimal täglich 40 mg verringerte in Studien signifikant die Zahl der Harninkontinenz-Episoden, allerdings traten häufig Übelkeit und Schwäche als Nebenwirkungen auf. Duloxetin wurde ausschließlich an Frauen getestet und erhielt deshalb auch nur für diese Zielgruppe eine Zulassung. Duloxetin wird hauptsächlich über die Cytochrom-P450-Enzyme der Leber metabolisiert und darf daher nicht bei Patientinnen mit Leberinsuffizienz eingesetzt werden.
Ferner ist Vorsicht geboten, wenn der Arzneistoff zusammen mit Substanzen eingenommen werden soll, die diese Enzyme hemmen wie Ciprofloxacin oder Enoxacin.
Operation erwägen
Bleibt trotz Arzneimitteltherapie und Beckenbodengymnastik der Behandlungserfolg aus, können sich die Patientinnen für eine Operation entscheiden. Als Methode der Wahl gilt heute die Tension-free Vaginal Tape Operation (TVT-Operation). Hierbei legt der Arzt eine Kunststoffschlinge locker um die Harnröhre und zieht beide Enden in die Bauchdecke, wo sie mit dem Gewebe verwachsen. Die Schlinge stützt die Harnröhre und verhindert, dass sie sich absenkt. Der Eingriff erfolgt meist mit lokaler Betäubung und dauert etwa 20 bis 30 Minuten. Die TVT-Operation führt in rund 90 Prozent der Fälle zu Kontinenz.
Als Alternative kommt noch die Kolposuspension in Frage. Bei diesem Verfahren befestigt der Arzt die Vorderwand der Scheide mit Kunststofffäden hinter dem Schambein, sodass Harnröhre und Blase ihre ursprüngliche Position einnehmen. Auch für diesen Eingriff benötigen geübte Chirurgen maximal eine halbe Stunde unter lokaler Anästhesie. Die Erfolgsquote liegt bei 75 Prozent. Da durch die Operation ausschließlich die Bindegewebsstrukturen stabilisert werden, nicht aber die Muskeln, müssen die Frauen auch danach ihre Beckenbodenmuskulatur durch gezielte Übungen kräftigen.
Der Dranginkontinenz liegt eine hyperaktive Blasenmuskulatur zugrunde. Bei den Betroffenen ist der Detrusor, der eigentlich entspannt sein muss, damit sich die Blase ausdehnen kann, zu leicht erregbar. Schon kleine Urinmengen lösen deshalb Harndrang aus. Als Ursachen kommen zum Beispiel eine chronische Blasenentzündung, Blasensteine oder ein Blasentumor in Frage. Daher steht die Therapie der Grunderkrankung im Vordergrund. Falls die Inkontinenz durch andere Arzneimittel, beispielsweise Diuretika, Sedativa, Hypnotika oder b-Rezeptorblocker, bedingt ist, muss der Arzt die Dosis reduzieren oder einen Wirkstoff aus einer anderen Gruppe verordnen.
Bewährte Arzneimittel
Die Dranginkontinenz ist sehr gut behandelbar. Das Ziel der medikamentösen Therapie ist es, den parasympathisch gesteigerten Tonus der Blasenmuskulatur zu senken, sodass die Patienten nicht mehr so häufig zur Toilette gehen müssen. Hier haben sich seit vielen Jahren die Anticholinergika (Muscarinrezeptor-Antagonisten) bewährt. Dazu gehören die unselektiv wirkenden Substanzen Tolterodin (Detrusitol®), Propiverin (wie Mictonorm®), Trospiumchlorid (wie Spasmo-Urgenin®, Spasmex®, Spasmolyt®) und Oxybutynin (wie Dridase®, Lyrinel®Uno und als Pflaster Kentera®). Als Nebenwirkungen treten Mundtrockenheit, schneller und unregelmäßiger Pulsschlag, Magenbeschwerden, Obstipation und Sehbeeinträchtigung auf.
Da viele Anticholinergika als Retard-Präparate auf dem Markt sind und nur noch einmal am Tag eingenommen werden müssen, sind die Nebenwirkungen deutlich schwächer. Das Gleiche lässt sich erreichen, wenn der Wirkstoff Oxybutynin als Pflaster verabreicht wird. Durch diese Applikationsform fallen erheblich geringere Mengen des Metaboliten an, der die Nebenwirkung verursacht.
Besseres Nebenwirkungsprofil
Die neueren Anticholinergika Solifenacin (Vesikur®) und Darifenacin (Emselex®) wirken weitgehend selektiv an den Muscarinrezeptoren der Blasenwand und zeichnen sich durch ein besseres Nebenwirkungsprofil aus.
Zwar haben zahlreiche Studien die gute Wirksamkeit der Anticholinergika bei Dranginkontinenz belegt, dennoch ist die Therapietreue der Patienten ausgesprochen schlecht. Viele nehmen die Medikamente nicht regelmäßig, weil sie diese schlecht vertragen. Hier können PTA oder Apotheker zum Therapieerfolg beitragen, indem sie die Patienten diskret fragen, ob sie mit der Behandlung zufrieden sind. Berichtet der Patient dann über Probleme, sollte er darauf hingewiesen werden, dass sein Arzt die Dosis anpassen oder ein anderes Medikament verordnen kann.
Immer häufiger setzen Urologen Botulinum-Toxin zur Therapie der Dranginkontinenz ein. Dabei injiziert der Arzt das Toxin direkt in den Detrusormuskel, wo es die Kontraktion hemmt und damit die überaktive Blase beruhigt. Eine einzige Injektion lindert die Symptome für mindestens sechs Monate. Die Substanz ist in Deutschland allerdings für diese Indikation nicht zugelassen. Die deutschen Urologen schätzen die Anwendung aber als sicher ein, konnten sich bislang jedoch weder über die optimale Dosis noch über eine optimale Injektionstechnik einigen.
Es darf ein bisschen mehr sein
Ist der Einsatz von saugenden Inkontinenzprodukten wie Vorlagen oder Windelhosen unvermeidbar, sollten PTA oder Apotheker den Patienten oder den Angehörigen auf die großen Qualitätsunterschiede aufmerksam machen. In diesem Marktsegment hat sich eine rasante Entwicklung hin zu wahren Hightech-Produkten vollzogen, die sowohl große Mengen Urin aufnehmen als auch den Geruch binden. Die Produkte sind prinzipiell ähnlich aufgebaut: Die Außenfolie ist wasserundurchlässig, knisterfrei und hautfreundlich, eine spezielle Zellulosefaser ist der Körperseite zugewandt und dazwischen eingebettet befindet sich der kräftige Saugkörper.
Dieser besteht aus einem Gemisch von Zellstoff und SuperAbsorbierendemPolymer (SAP), das in der Lage ist, ein Vielfaches seines Eigengewichtes an Flüssigkeit zu speichern und diese auch unter der Druckeinwirkung nicht abzugeben. Benutzer von Markenprodukten müssen daher nicht befüchten, dass Uringeruch ihre Inkontinenz verrät, denn der Saugkörper enthält zusätzlich spezielle Geruchsbinder wie Cyclodextrin. Außerdem verhindert ein optimaler pH-Wert, dass beim Abbau von Urin Ammoniak entsteht. Die körperzugewandte Zellulosefaser leitet die Flüssigkeit durch spezielle tunnelartige Hohlräume schnell zum Saugkörper weiter. Dadurch bleibt die Haut angenehm trocken.
In modernen Windeln für Erwachsene verhindern in den Saugkörper eingearbeitete Bündchen, dass die gespeicherte Flüssigkeit seitlich ausläuft. Außerdem signalisiert ein Nässeindikator in der Außenfolie, wann die Windel gewechselt werden muss. Im Vergleich dazu bieten die meisten No-Name-Produkte nur wenig Komfort. Der SAP-Anteil ist geringer, und oft fehlen Geruchsbinder oder Innenbündchen. Zum Teil sind die Nähte auch härter oder die Außenfolie knistert beim Laufen.
Inkontinenzprodukte auf Rezept
Der Arzt darf Vorlagen und Windeln verordnen, wenn er es für medizinisch notwendig hält. Sein Arzneimittelbudget wird davon nicht berührt. Wie alle Hilfsmittel darf er Inkontinenzprodukte nicht gemeinsam mit Arzneimitteln auf einem Rezept verordnen, und er muss das Feld 7 (rechts oben) ankreuzen. Für die reibungslose Kostenübernahme durch die Krankenkasse sollte der Arzt die genaue Größe, die Stückzahl und den Versorgungszeitraum vermerken. Als Begündung für die medizinische Notwendigkeit muss er eine der folgenden Indikationen mit angeben:
Eine Dauerverordnung für mehrere Monate muss von den meisten Krankenkassen vorab genehmigt werden. Dann erhält der Patient monatlich die vom Arzt festgelegte Menge eines gewünschten Artikels.
Je nach Schweregrad der Inkontinenz unterscheiden sich die Produkte in Saugstärke und Form. Bei leichter Blasenschwäche kommen Vorlagen für Urininkontinenz zum Einsatz. Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Inkontinenz erhalten anatomisch geformte Vorlagen, die je nach Saugleistung in Kategorie 1 bis 3 unterteilt werden. Inkontinenzhosen sind für schwer Inkontinente gedacht. Damit größere Vorlagen optimal sitzen, ist eine Netzhose erforderlich. Über dem Slip getragen verhindert sie, dass die Vorlage verrutscht.
PTA oder Apotheker sollten die Betroffenen bei der Beratung darauf hinweisen, dass sie die Nähte der Hose ausnahmsweise nach außen tragen, um Druckstellen zu vermeiden. Auch Netzhosen kann der Arzt auf Rezept verordnen.
Als »zum Verbrauch bestimmte Hilfsmittel« gilt für Inkontinenzprodukte eine Zuzahlungsregelung von 10 Prozent, maximal jedoch 10 Euro pro Monat. Entscheidet sich der Patient für ein hochwertigeres Produkt, muss er möglicherweise die Mehrkosten zahlen.
Blick in die Zukunft
Das Wettbewerbsstärkungsgesetz im Gesundheitswesen wird die Hilfsmittelversorgung beträchtlich verändern. Denn es ermöglicht den Krankenkassen auf der Grundlage von Ausschreibungen, Verträge mit einzelnen Leistungserbringern abzuschließen und darin niedrige Preise zu vereinbaren.
In einigen Bundesländern haben die Krankenkassen bereits solche Ausschreibungen für Inkontinenzartikel durchgeführt. Andere Bundesländer werden folgen. In der Konsequenz werden nach einer Übergangsfrist, die am 31.12.2008 ausläuft, nur noch die Gewinner einer solchen Ausschreibung die entsprechenden Hilfsmittel zu Lasten der Krankenkassen abgeben dürfen. Für die einzelne Apotheke wird es dann sehr schwierig, in diesem neuen Markt zu bestehen.
E-Mail-Adresse der Verfasserin:
birgit.masekowitz(at)gmx.de