Sauer macht nicht immer lustig |
04.12.2007 08:25 Uhr |
Sauer macht nicht immer lustig
Sabine Schellerer, Hongkong
Alle lebenserhaltenden Prozesse sind an ein wässriges Milieu gebunden. Wenn der pH-Wert stimmt, funktioniert der Organismus, wie er soll. Doch leider ernähren sich derzeit viele Menschen zu sauer und betreiben damit latenten Raubbau an ihrer Gesundheit. Dabei ist es gar nicht so schwer, mit mehr Balance zu essen.
Enzymgesteuerte Reaktionen, DNA-Synthese oder Zellteilung brauchen ein einwandfreies Milieu, damit sie störungsfrei ablaufen. Unter idealen Bedingungen bindet Hämoglobin die exakte Menge Sauerstoff, Plasmaproteine dissoziieren richtig, und die Arteriolen erweitern sich perfekt. Ist der pH-Wert jedoch latent in Richtung sauer verschoben, werden zerstörerische Prozesse in Gang gesetzt: Knochenmasse beginnt sich zu zersetzen, da sich Mineralstoffe von der Matrix ablösen und die Osteoblasten immer träger werden, während sich im Gegenzug die zerstörerischen Osteoklasten umso aktiver gebärden – die Osteoporose setzt ein. Bei einer Übersäuerung, auch Azidose genannt, ist die Rückresorption von Citrat aus dem Primärharn erhöht, dadurch wird weniger Calcium gebunden und das Risiko für Nierensteine steigt. Außerdem reagieren Proteoglykane, die stark verzweigten Einzelbausteine von Bindegewebe und Knorpel, äußerst empfindlich auf geringste Verschiebungen des umgebenden Milieus. So binden sie im Sauren weniger Wasser, büßen dadurch an Elastizität und Flexibilität ein. Dies bekommen insbesondere Patienten mit rheumatoider Arthritis bitter zu spüren. Auch das Herz-Kreislauf-System, der Magen-Darm-Trakt und die Haut reagieren, wenn die Protonenlast überhand nimmt. Und dass latente pH-Verschiebungen bei Gicht und Diabetes mellitus eine wichtige Rolle spielen, leugnet heute keiner mehr. Potentiell lebensbedrohlich wird es, wenn das Gleichgewicht von Säuren und Basen ernsthaft aus dem Lot gerät, das heißt, der pH-Wert unter 7,1 oder über 7,6 liegt.
Nicht entgleisen lassen
Den pH-Wert in den einzelnen Kompartimenten konstant zu halten, ist kein leichtes Unterfangen. Täglich beeinflussen Säuren und Basen das empfindliche Gleichgewicht. Zum einen entstehen im körpereigenen Stoffwechsel saure und basische Verbindungen, zum anderen führt sich jeder einen erheblichen Anteil dieser Substanzen mit der Nahrung zu.
Experten unterteilen die sauren Verbindungen in metabolisierende und nicht metabolisierende Säuren und räumen der Kohlensäure einen extra Platz ein. Ohne tatkräftige Helfer wäre der Körper auf recht verlorenem Posten: Puffer wie der Bicarbonat-, Protein- und der Phosphatpuffer sowie das Hämoglobin helfen, das Milieu des Blutes exakt zwischen 7,37 und 7,43 zu halten. Auf überschüssige Säuren reagieren die Lungen besonders rasch. Bei zu hohen Protonen-Konzentrationen im Blut beginnen sie zu hyperventilieren und entsorgen die Störenfriede als CO2 in die Luft. Im Unterschied zum Atemorgan agieren die Nieren zwar leicht verzögert, aber dafür besonders effektiv. Sie entfernen überschüssige Protonen vor allem in Form von primärem Phosphat (45%) und auch als Ammoniumionen. Die schlechte Nachricht: Mit dem Alter verlieren die Nieren zunehmend ihre Fähigkeit, unerwünschte Säuren zu eliminieren.
Wer sich für die eigene Stoffwechsellage interessiert, kann eine Übersäuerung beim Arzt messen lassen. Obwohl das Verfahren leider noch immer weit verbreitet ist, sind sich die Experten einig, dass es keinen Sinn macht, lediglich einen Streifen Lackmuspapier in den Urin zu hängen. Denn der Harn-pH gibt nur Auskunft über die Menge an freien Protonen, erlaubt aber keinerlei Rückschluss auf den Zustand, der im Plasma herrscht. Der Fachmann setzt auf die Messung nach Jörgensen, das heißt, auf eine Titration des Blutes mit 0,1 normaler Salzsäure. Aus dem Verhältnis Vollblut zu Serum errechnet sich dann die intrazelluläre Basenreserve. Diese Kenngröße gibt Auskunft darüber, wie schlagkräftig der Körper auf eine mögliche Säurebelastung reagieren kann.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, welch starker Wandel sich im Laufe der Jahrtausende vollzogen hat: Sorgte die Ernährungsweise der Steinzeitmenschen im Körper noch für eine negative Säurebilanz, so belastet heute der Durchschnittsbürger seinen Organismus mit einem täglichen Säureüberschuss von 48 Milliäquivalent. Damit erzeugt er zwar nur eine geringe metabolische Azidose, die jedoch pathogenetisch äußerst bedeutsam ist. Der Grund: Die moderne Ernährung besteht zu einem Großteil aus Lebensmitteln mit einer hohen Energie- und Nährstoffdichte. Noch »saurer« wird der Organismus während einer Fastenkur. Der Fettsäureabbau überschwemmt den Körper förmlich mit einer Flut an Ketosäuren. Als Folge eines Trainings fällt noch zusätzlich Milchsäure an, die bei der Glykolyse im anaeroben Stoffwechselbereich entsteht.
Säuernd oder basisch
Fachleute unterscheiden säuernde (also säurezuführende) Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, Industriekost und -getränke, Käse, Getreide, Hülsenfrüchte und saure Südfrüchte. Im Unterschied dazu entstehen aus Fabrikzucker, Auszugsmehlen und deren Produkten die Säuren erst durch den körpereigenen Stoffwechsel. Zu den basischen Nahrungsmitteln gehören beispielswiese die Gemüse und reifes mineralstoffreiches, heimisches Obst sowie kaltgepresste Pflanzenöle. Auf den Punkt gebracht: Basische Lebensmittel helfen, Natriumcarbonat im Stoffwechsel einzusparen. Saure Nahrungsmittel ziehen dagegen Basen aus den Speichern und schaffen eine saure Stoffwechsellage. Eine sinnvolle Basentherapie bringt den sauren Stoffwechsel wieder ins Lot. Allen voran heißt es, die Ernährung grundlegend umzukrempeln hin zu langfristig basenbetonten Mahlzeiten mit einem Basen-Säuren-Verhältnis von 2:1. Nicht zu vergessen: für ausreichende Bewegung im aeroben Bereich sorgen. Wer sinnvoll trainiert, regt die Atmung an und eliminiert CO2 und flüchtige Säuren über die Lunge. An dritter Stelle steht eine ausreichende Trinkmenge, am besten stilles Mineralwasser, Kräutertee oder Gemüsebrühe, und gleichzeitig der Verzicht auf industriell gefertigte Getränke, Milch, sogenannte Soft Drinks und Alkoholika.
Fertigpräparate aus der orthomolekularen Medizin sollen basische Substanzen substituieren und damit die Pufferkapazität des Blutes verbessern. Ein altes Hausmittel ist das Natriumbicarbonat, das auch als Speisesoda bekannt ist. Besser ist ein definiertes Basenpulver, das neben dem Hauptbestandteil Soda noch andere Säure-Basen-regulierende Salze enthält. Bei der Dissoziation setzen die Salze organische Anionen wie Citrat und Glukonat frei, die als Protonenfänger wirken. Die gebildeten organischen Säuren baut der Organismus schließlich zu Wasser und Kohlendioxid ab. Verbleibende Kationen werden im Tausch gegen Protonen aus dem Primärharn rückresorbiert und tragen damit ebenfalls dazu bei, Säuren auszuschleusen. Anhänger der Naturheilkunde setzen auf andere Maßnahmen wie Auslauge- oder Basenbäder, die die Haut als Ausscheidungsorgan nutzen, daneben auf Saunabesuche, Infrarotlicht und Hyperthermie.
Schon seit Jahrhunderten wissen Heilkundige um die Wirksamkeit von Kräutern. Zu den ausscheidungsstimulierenden Pflanzen, im Fachjargon Antidyskratika genannt, zählen das Brennnesselkraut, Löwenzahnwurzel und -kraut, Wacholderbeeren und Goldrutenkraut. Die Pflanzen eignen sich allerdings nicht für den Dauergebrauch. Nach sechs bis acht Wochen kontinuierlicher Anwendung sollte man dem Körper vier Wochen Pause gönnen. Besonders in der Anfangsphase kann es sinnvoll sein, Antidyskratika gemeinsam mit einem Abführtee oder einem Karminativum anzuwenden. Alle Ausleitungsverfahren der traditionellen chinesischen Medizin, der Homöopathie oder der Ayurvedischen Lehre streben danach, dem Körper die Balance zurückzugeben, die er verloren hat.
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