Akrobaten wider Willen |
19.11.2010 18:17 Uhr |
Akrobaten wider Willen
Von Iris Priebe / Wer seinen Körper verbiegen kann wie ein »Schlangenmensch«, ohne dafür üben zu müssen, oder seine Haut hochziehen kann, als sei sie eine dehnbare Strumpfhose, der leidet möglicherweise am Ehlers-Danlos-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine Gruppe seltener Erkrankungen des Bindegewebes. Zugrunde liegen dem Syndrom Gendefekte, die die Biosynthese und Vernetzung des Kollagens beeinflussen.
In Deutschland gibt es rund 600 Menschen, bei denen das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) diagnostiziert wurde. Vermutlich ist die Dunkelziffer aber höher und schwankt zwischen 2000 und 3000 Patienten. Die Erbkrankheit EDS führt zu Schäden an verschiedenen Körperteilen, unter anderem an der Haut, den Bändern und Gelenken, Augen, Blutgefäßen sowie inneren Organen. Je nach Patient sind die Beschwerden unterschiedlich stark ausgeprägt. Weil aber stets der Aufbau des Bindegewebes gestört ist, ähneln sich die Symptome jedoch: Die Haut ist extrem schlaff, leicht verletzbar und lässt sich stark dehnen.
Der Daumen einer Betroffenen lässt sich problemlos gegen den Unterarm drücken.
Foto: www.ortho-uni-luebeck.de
Daher können einige EDS-Patienten ihre Haut bis zu acht Zentimetern und mehr von ihrem Körper wegziehen. Gesunde Menschen erreichen nur einige Millimeter. Manche Patienten können außerdem ihre Gelenke so stark überstrecken, dass sich beispielsweise ihr Zeigefinger um mehr als 90 Grad nach hinten biegen lässt oder der Daumen den Unterarm erreicht. Ursache für diese abnorme Beweglichkeit ist eine Störung der Kollagen-Biosynthese. Die dabei gebildeten Kollagen-Fibrillen sind ungewöhnlich schwach. Wenn innere Organe oder Blutgefäße befallen sind, können diese schlimmstenfalls reißen.
Aktuell unterscheiden Mediziner sechs Typen des Ehlers-Danlos-Syndroms (siehe Kasten), von denen einige so selten sind, dass sich die Zahl der Betroffenen nur schätzen lässt.
Viele EDS-Patienten leiden unter starken bis sehr starken Schmerzen. Weil die Muskulatur der Patienten häufig nur schwach ausgeprägt ist, ermüden sie körperlich recht schnell. Oft stellen sich nach Operationen oder Zahnextraktionen starke Nachblutungen ein.
Eine Prognose zum Krankheitsverlauf ist kaum möglich. Etliche Betroffene entwickeln aufgrund der Überbeweglichkeit ihrer Gelenke früher eine Arthrose als gesunde Menschen gleichen Alters. Häufig haben schon junge Patienten Arthrose in den großen oder kleinen Gelenken, beispielsweise in den Fingern, Händen, Schultern oder Hüften. Um die Schmerzen einzudämmen, müssen manchmal die befallenen Gelenke operativ versteift werden. Dadurch werden sie wieder fester und lassen sich nicht mehr so leicht ausrenken.
Klassischer Typ
Hauptsymptom dieses Typs ist die stark dehnbare und leicht verletzbare Haut. Wunden heilen nur langsam und hinterlassen oft breite Narben. Bereits nach leichten Stößen entwickeln die Betroffenen große Blutergüsse (Hämatome). Zudem sind die kleinen und großen Gelenke extrem flexibel. Beim Klassischen Typ können auch innere Organe betroffen sein.
Hypermobiler Typ
Hier wirkt sich der Gendefekt vor allem auf die großen Gelenke aus. Weil sie instabil werden, renken sich Betroffene häufig einzelne Gelenke aus. Manchmal entzünden sie sich und schwellen an. Außerdem verformen sich bei manchen Patienten mit der Zeit die Wirbelsäule und die Extremitäten, beispielsweise die Füße. Dagegen ist die Haut fast nicht betroffen.
Vaskulärer Typ
Charakteristisch für diesen Typ sind dünne Haut, bei der die Blutgefäße sichtbar durchscheinen, eine abnorm verzögerte Wundheilung, die ausgeprägte Neigung zu Blutergüssen sowie die Überbeweglichkeit der kleinen Gelenke. Betroffen sind außerdem Blutgefäße und innere Organe wie der Darm.
Kyphoskoliotischer Typ
Für diese Form ist die angeborene seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule, eine sogenannte Skoliose, typisch. Weiterhin ist die Haut sehr empfindlich und dehnbar. Wunden heilen schlecht und hinterlassen breite Narben. Neben inneren Organen sind auch die Augen betroffen.
Arthrochalasischer Typ
Die Gelenke der Patienten sind so elastisch, dass sie sich oft und immer wieder ihre Hüften ausrenken. Häufig ist die Muskulatur sehr schwach. Die Haut kann sehr elastisch und dünn sein.
Dermatosparaxis Typ
Für diesen sehr seltenen Typ ist die extreme Flexibilität der Gelenke charakteristisch, auch die inneren Organe sind geschädigt und die Haut ist so extrem schlaff, dass sie teilweise am Körper herunterhängt.
Viele Patienten haben zudem einen Senk-Spreiz-Knick-Fuß, der zu Problemen mit der Wirbelsäule führt oder diese verstärkt. Durch die Instabilität der Gelenke stürzen einige Patienten leicht und verletzen sich regelmäßig.
EDS wird fast immer autosomal dominant vererbt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachkommen ebenfalls erkranken, liegt bei 50 Prozent. Beim kyphoskoliotischen und dermatosparaktischen Typ wird der Gendefekt allerdings autosomal rezessiv vererbt, sodass ihn rund 25 Prozent der Nachkommen tragen. Forscher haben festgestellt, dass aber auch immer wieder Spontanmutationen auftreten, also bei den Vorfahren nie eine familiäre Veranlagung bestand.
Punktesystem zur Diagnose
Um EDS nachzuweisen, verwenden Mediziner ein spezielles Punkte-Verfahren mit dem Namen Beigthon Score. Diese Untersuchung hat vier Schwerpunkte. Zunächst prüft der Arzt mithilfe einer Apparatur die Dehnbarkeit der Gelenke und der Haut. Lassen sich Zeigefinger, Daumen, Ellebogen und Knie über eine bestimmte Gradzahl hinaus dehnen und sich die Haut in der Mitte der Innenseite des Unterarms um eine definierte Länge abheben, notiert der Arzt dafür eine Anzahl an Punkten. Dann überprüft er die Haut auf Narben an Ellenbogen, Unterarmen und Knien sowie der Stirn. Weitere Punkte vergibt er für Hämatome, die er nach ihrer Stärke und Ausprägung beurteilt. Mit 99-prozentiger Sicherheit ist der Patient an EDS erkrankt, wenn die Addition am Ende sieben oder mehr Punkte ergibt.
Eine Biopsie der Haut und Untersuchung des Gewebes unter dem Elektronenmikroskop untermauert die Diagnose. Beim klassischen Typ fällt dabei auf, dass die Architektur des Bindegewebes und das Aussehen der einzelnen Kollagen-Fibrillen charakteristisch verändert sind. Außerdem kann der Arzt noch die Hautdicke und -elastizität per Ultraschall begutachten oder eine DNA-Sequenzierung der Kollagene durchführen lassen.
Bandagen schützen
Den Wissenschaftlern ist es bislang nicht gelungen, die genauen Zusammenhänge der gestörten Biosynthese und den Verlauf des ED-Syndroms im Detail zu erforschen. Aus diesem Grund existiert derzeit keine kausale Therapie. Behandelt werden die Patienten bei Bedarf rein symptomatisch mit Schmerzmitteln.
Präventive Maßnahmen gibt es nicht. Die Patienten sollten ihre Gelenke und Haut schonen. Bandagen aus Neopren schützen Schienenbeine, Knie und Ellenbögen sowie die Haut vor Hämatomen und Läsionen. Renken sich Patienten häufig ihre Gelenke aus, können sie Orthesen mit weicher Polsterung tragen. Orthesen sind orthopädische Prothesen, die speziell auf die Bedürfnisse einzelner Patienten angepasst werden und die Gelenke an Ort und Stelle fixieren. Auch Stützverbände schränken die enorme Flexibilität der Gelenke ein. Beschwerden unter den Füßen durch einen Senk-Spreiz-Knick-Fuß lassen sich mit Schuheinlagen lindern.
Muskeln kräftigen
Weil die Muskulatur die Gelenke stabilisiert, ist ein behutsamer Muskelaufbau für die Betroffenen sinnvoll. Daher empfehlen viele Mediziner den Patienten Krankengymnastik, sanftes Muskelaufbautraining ohne Geräte oder Gewichte und leichtes Ausdauertraining wie Nordic-Walking oder Warmwassergymnastik – alles aber ohne Dehnübungen. Der Sport darf die Bänder, das Binde- und Stützgewebe nicht belasten. Generell gilt: Welche Sportart die Patienten betreiben dürfen, kommt auf ihren EDS-Typ an. Sehr körperbetonte Sportarten, die stark auf die Gelenke wirken, sollten Betroffene besser meiden wie Judo, Karate, Fuß-, Hand- Volley- oder Basketball sowie Hockey, aber auch Snowboarden, Inlineskaten, Freeclimbing, Mountainbiken, Squash oder Tennis. Krafttraining im Fitnessstudio und Aerobic können zu Beschwerden führen. Unproblematisch sind meist Schwimmen, Radfahren und Wandern sowie Taijiquan (Tai Chi), Qui Gong, Feldenkrais und Pilates. Auch die klassischen Entspannungstechniken wie die progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Biofeedback und Yoga können Betroffene einmal ausprobieren. Wichtig: Alle Aktivitäten müssen sie langsam beginnen und allmählich steigern. Regelmäßiges Üben ist zudem effektiver als seltene lange Trainingseinheiten; daher besser täglich zehn Minuten trainieren als einmal wöchentlich eine Stunde.
Im Jahre 1892 beschrieb der russische Dermatologe A. N. Tschernogubow erstmals ein Krankheitsbild, das in die osteuropäische Literatur unter der Bezeichnung Tschernogubow-Syndrom einging. Da vermutlich auch der Violinist Nicolai Paganini an EDS erkrankt war, ist unter Medizinern auch die Bezeichnung Paganini- Syndrom geläufig. Allgemein bekannt wurde die Erkrankung jedoch erst, als der dänische Dermatologe E. Ehlers über einen Patienten mit schlaffer Haut, Blutstürzen und Gelenkstörungen berichtete. Im Jahr 1908 befasste sich dann der französische Arzt H. A. Danlos mit einem Patienten, der ihm durch hyperelastische und dünne Haut auffiel. 1932 schließlich verständigten sich Wissenschaftler darauf, dieses Krankheitsbild Ehlers-Danlos-Syndrom zu nennen.
Ein sensibles Thema ist Sex und EDS. Weil beim ED-Syndrom oft die Gefäßwände wenig stabil sind, leiden einige Patienten unter Krampfadern (Varizen) und Schwellungen (Ödemen) – auch am Penis. Der Geschlechtsverkehr bereitet betroffenen Männern dann unter Umständen Schmerzen. Bei Frauen mit EDS kann die Bindegewebsschwäche dazu führen, dass die Gebärmutter in die Scheide absinkt. Auch dies verursacht manchmal Schmerzen beim Verkehr. Damit keine Risse oder Hämatome in der Vagina entstehen, sollten die Frauen ein Gleitgel benutzen.
Viele Paare, bei denen einer oder beide EDS haben, entscheiden sich nach einer genetischen Beratung für ein Kind. Schwangere EDS-Patientinnen dürfen sich nicht überlasten und sollten nie schwer heben oder tragen. Sie sollten sich zu Hause und am Arbeitsplatz helfen lassen und viele Ruhepausen einlegen. Schwangerschaftsgymnastik ist eher tabu. /