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Interferone

Boten der Entzündung

19.11.2010  18:11 Uhr

Interferone

Boten der Entzündung

Von Birgit Masekowitz / Relativ schnell nach ihrer Entdeckung weckten die Interferone das Interesse der Wissenschaftler. Heute sind sie bei zahl­reichen Erkrankungen ein unverzichtbarer Bestandteil der Therapie. Ihre Nebenwirkungen erfordern allerdings eine intensive Beratung.

Simone N. kennt inzwischen den Ablauf. Vor etwa einer Stunde hat sie ihre Fertigspritze aus dem Kühlschrank genommen und bereitgelegt. Die Injektion führt sie seit einigen Monaten allein durch und hat dadurch viel Selbstständigkeit zurück gewonnen. Vor acht Monaten diagnostizierten Ärzte bei der Patientin Multiple Sklerose (MS) und empfahlen ihr eine Therapie mit Interferon-β. Den Wirkstoff muss sie seitdem einmal wöchentlich spritzen.

Interferone gehören zu den Zytokinen, den körpereigenen Zellhormonen. Sie spielen als Signalstoffe bei verschiedenen Ab­wehrmechanismen eine Rolle und können Immunreaktionen verstärken, aber auch verringern. Wenn Viren oder andere Antige­ne, beispielsweise Oberflächenbestand­teile von Bakterien, in den Körper gelan­gen, werden verschiedene Zellen des Immunsystems aktiv. Diese regen die Bildung und Ausschüttung der Interferone in weißen Blutkörperchen, Bindegewebs­zellen oder T-Lymphozyten an.

Seit etwa 15 Jahren werden Interferone zur Therapie der Multiplen Sklerose eingesetzt, doch ihre Geschichte reicht in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurück. Im Jahr 1957 entdeckten der britische Bakteriologe Alick Isaacs und der schweizerische Mikrobiol­oge Jean Lindenmann gemeinsam in London, dass von Viren befallene Zellen Substanzen freisetzen, die gesundes Gewebe vor der Infektion schützen. Diese nannten sie Interferone (IFN).

Einige Jahre später sorgten Interferone für Schlagzeilen: Versuche mit Mäusen hatten gezeigt, dass diese Substanzen auch das Wachstum von Tumorzellen unterdrückten. Experten erhofften sich einen Durchbruch in der Krebstherapie. Das Problem schien nur in der mangelnden Verfügbarkeit zu liegen. Denn um 400 mg der kostbaren Substanz zu gewinnen, mussten 50 000 Liter Spenderblut aufbereitet werden. Ende des Jahres 1979 gelang Wissenschaftlern im Labor von Charles Weissmann in Zürich der entscheidende Schritt. Sie konnten ein menschliches Interferon-Gen in das Genom des Bakteriums Escherichia coli (E. coli) einbauen, also einen Bakterien-Klon herstellen. Solche rekombinant hergestellten Interferone entsprechen in ihrer Aminosäuresequenz den menschlichen Interferonen. Damit war es möglich, diese Substanzen in beliebig großen Mengen herzustellen und ihre Eignung als Medikamente zu testen.

Bereits im Jahr 1983 erhielt die Firma Rentschler weltweit die erste Zulassung für ein Präparat mit β-Interferon zur Behandlung schwerer Virusinfektionen. Fiblaferon® wurde allerdings aus Fibroblastenkulturen gewonnen. Dazu werden humane Bindegewebszellen in Fermentern vermehrt und so das Interferon hergestellt. Gentechnisch veränderte Mikroorganismen nutzte hingegen die Firma Roche und brachte mit Roferon A® im Jahr 1987 das erste rekombinant hergestellte Interferon auf den Markt.

Hoffnungen nur teils erfüllt

Von da an ging es Schlag auf Schlag. Viele weitere Interferonpräparate erhielten ihre Zulassungen, so auch 1995 das erste zur Behandlung der Multiplen Sklerose. Heute sind Interferone für die Therapie verschiedener Krankheiten unverzichtbar geworden. Die Hoffnungen der Wissenschaftler auf ein universelles Heilmittel gegen Krebs haben sich jedoch nicht erfüllt.

Drei Gruppen

Mittlerweile kennen Forscher über 20 verschiedene Interferone. Alle gehören zur Gruppe der Proteine und sind zum größten Teil glykosyliert, das heißt, es hängen Zuckermoleküle daran. Aufgrund ihrer Struktur und ihrer Herkunft werden sie in verschiedene Klassen unterteilt. Neben den Interferonen vom Typ I (IFN-α, IFN-β) und vom Typ II (IFN-γ) ist seit kurzem eine weitere Untergruppe bekannt, die Typ-III-Interferone (IFN-λ) mit drei Isoformen.

Die α-Interferone bestehen aus 166 Aminosäuren, die im Körper vor allem in Monozyten gebildet werden, unter anderem von weißen Blutkörperchen, den Leukozyten. Von ihnen sind heute 23 Subtypen bekannt, darunter IFN-α-2-a und -α-2-b. Ihre rekombinanten Abbilder werden seit mehreren Jahren als sehr wirksame Therapeutika gegen die chronische Hepatitis B- und die akute und chronische Hepatitis C-Infektion eingesetzt. β-Interferon wird im Körper von ­T-Lymphozyten gebildet, gewonnen wird es ebenfalls in rekombinanten Bakterienkulturen.

IFN-γ ist ein Glykoprotein aus 143 Aminosäuren. Es kann als einziges Interferon gezielt weiße Blutkörperchen, die Phagozyten, aktivieren, die unter anderem bei der Bekämpfung bakterieller Infektionen wichtig sind.

Interferon-α und -b binden an denselben Rezeptoren und haben daher ähnliche Wirkungen: immunmodulierend, antiproliferativ (wachstumshemmend) und antiviral. Dagegen bindet Interferon-γ an einen anderen Rezeptor und hat vor allem immunmodulierende Eigenschaften

Außer den genannten sind noch weitere Interferone bekannt, unter anderem bei Tieren. Sie spielen aber bisher in der Medizin keine Rolle.

Hilferuf an das Immunsystem

Der Wirkmechanismus der Interferone ist komplex und teilweise noch unbekannt. Die antivirale Wirkung von IFN-α und -β kommt indirekt zustande, das heißt, nicht die Interferone selbst töten Viren, vielmehr alarmieren sie das Immunsystem. Ihre gemeinsame Wirkung besteht darin, noch »gesunde« Zellen vor einer Infektion mit Viren zu schützen.

Tabelle 1: Übersicht über die Anwendungsgebiete einzelner Interferon-Präparate

Handelsname Internationaler Freiname Hersteller Zulassung Indikationen
Roferon A® IFN-α-2a Roche 04/1987 Haarzell-Leukämie, Hepatitis B und C, malignes Melanom, chronisch-myeloische Leukämie, kutanes T-Zell-Lymphom, Nierenzellkarzinom, follikuläres Non-Hodgkin-Lymphom, Kaposi-Sarkom
Intron A IFN-α-2b Essex Pharma 03/2000 chronische Hepatitis B und C, chronisch-myeloische Leukämie, follikuläre Lymphome, Karzinoid, malignes Melanom, multiples Myelom, Haarzell-Leukämie
Pegasys® pegyliertes IFN-α-2a Roche 06/2002 chronische Hepatitis B und C
PegIntron pegyliertes IFN-α-2b Essex Pharma 02/2002 chronische Hepatitis C
Fiblaferon® IFN-β-human Rentschler 1983 Virusenzephalitis, Herpes Zoster, virale Innenohrinfekte mit Gehörverlust, undifferenziertes Nasopharynxkarzinom
Avonex® IFN-β-1a Biogen 03/1997 schubförmige Multiple Sklerose
Rebif® IFN-β-1a Merck Serono 05/1998 schubförmige Multiple Sklerose
Betaferon® IFN-β-1b Bayer Schering Pharma 11/1995 schubförmige und sekundär progrediente Multiple Sklerose
Extavia® IFN-β-1b Novartis 06/2008 schubförmige und sekundär progrediente Multiple Sklerose
Imukin® IFN-γ-1b Boehringer Ingelheim 12/1992 chronische Granulomatose

Mit Ausnahme von Interferon-β-human werden alle Interferone rekombinant hergestellt.

Diese Schutzwirkung der Interferone beruht auf mehreren Mechanismen. Durch Viren infizierte Zellen bilden Interferone und geben diese nach außen ab. Dort besetzen die freigesetzten Interferone die Oberflächenrezeptoren noch »gesunder« Zellen. Daraufhin bilden diese Zellen Enzyme, die einerseits die virale Proteinsynthese in den »gesunden« Zellen hemmen und andererseits den Abbau von viraler und zellulärer RNA bewirken. Letztlich werden Nachbarzellen vor dem Virusbefall geschützt, und bereits infizierte Zellen gehen zugrunde, wodurch die Virusausbreitung eingeschränkt wird.

Zellteilung gehemmt

Darüber hinaus besitzen α- und β-Inter­ferone antiproliferative Eigenschaften, das heißt, sie verlangsamen oder hemmen die Zellteilung. Die erhoffte selektive Wirkung auf Tumorzellen hat sich jedoch nur teilweise erfüllt. Alle Interferone wirken immunmodulierend und aktivieren natürliche Killerzellen (NK-Zellen) sowie cytotoxische T-Lymphozyten. γ-Interferone aktivieren zudem Makrophagen. Dadurch kann das Immunsystem fremde Zellen besser erkennen. Da Interferone vielfältige Mechanismen steuern, die sowohl bei schweren Virusinfektionen als auch bei der Entstehung bestimmter Tumoren eine Rolle spielen, werden sie bei verschiedenen Krankheiten eingesetzt.

Da es sich um Proteine handelt, würden sie nach oraler Gabe von der Magensäure zerstört und müssen daher subcutan oder intramuskulär gespritzt werden. Für Patienten, die eine längere Therapie brauchen, stehen Fertigspritzen und Injektionshilfen für zu Hause zur Verfügung.

Die Schattenseite

Obwohl Interferone körpereigene Substanzen sind, verursachen sie als Therapeutika erhebliche Nebenwirkungen. Viele Patienten berichten über Symptome, die denen eines grippalen Infektes ähneln, zum Beispiel Fieber, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schüttelfrost, Abgeschlagenheit, Kopf- oder Gliederschmerzen. Aus diesem Grund empfehlen viele Ärzte den Patienten, eine halbe Stunde vor der Injektion des Interferons ein Schmerzmittel einzunehmen. Oder die Patienten spritzen das Interferon abends, sodass sie in der Nacht einen Teil der Beschwerden »verschlafen«.

Die genannten Symptome treten vor allem während der ersten Behandlungsmonate auf, lassen dann aber meist nach. Ein dauerhaftes Problem ist dagegen, dass sich die Einstichstelle entzünden, verfärben oder verhärten kann. Wichtig ist es daher, diese bei jeder Injektion zu wechseln.

Seltener verändert sich die Haut, sie wird trockener oder anfälliger für Herpes-Infektionen. Die Patienten sind meist dankbar, wenn PTA oder Apotheker ihnen eine gute Hautpflege empfehlen.

Interferone beeinflussen zudem das Blutbild, so dass bei einigen Patienten die Zahl der Leukozyten und Thrombozyten stark sinkt (Leuko- und Thrombozytope­nie). Außerdem können sie Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen und Selbstmordgedanken verursachen und sind deshalb kontraindiziert bei Patienten, die bereits an Depressionen leiden. Die Nebenwirkungen der Interferone sind reversibel, verschwinden also nach dem Absetzen vollständig. Viele Patienten, die über längere Zeit Interferone angewendet haben, beobachten eine gewisse Gewöhnung. Dennoch belasten die unerwünschten Wirkungen einige Betroffene so sehr, dass sie deshalb die Therapie abbrechen.

Pegyliertes Interferon-α

Aus diesem Grund versuchen Wissenschaftler, besser verträgliche Zubereitungen zu entwickeln. Sie arbeiten zum Beispiel an Inhalationssystemen oder Nasensprays. Bisher sind solche Präparate allerdings noch nicht auf dem Markt. Mehr Erfolg hatte der Versuch, die Moleküle der Interferone zu verändern. Dazu nutzten Forscher die Tatsache, dass Proteine langsamer abgebaut werden, wenn sie mit langen Polyethylenglycol-Molekülen verknüpft sind. Polyethylenglycol, kurz PEG, ähnelt in seiner Struktur mehrfach aneinander gereihten Alkoholmolekülen und ist nicht toxisch. Seit 2002 sind pegylierte Interferon-α-Präparate im Handel. Diese Arzneimittel müssen nur noch einmal in der Woche, statt dreimal wöchentlich, injiziert werden. Dadurch sind sie auch besser verträglich. Die beiden Präparate PegIntron® und Pegasys® sind allerdings nur zur Behandlung der Hepatitis B und C zugelassen. Ihre Anwendung als Krebstherapeutika wird noch in Studien geprüft.

Gegen Schübe bei Multipler Sklerose

Im Apothekenalltag spielen die Interferon-β-Präparate zur Behandlung der Multiplen Sklerose die größte Rolle. Neben dem Wirkstoff Glatirameracetat gehören sie zur Therapie der ersten Wahl. Die Interferone reduzieren die Schubfrequenz, die Schwere der Schübe und die im MRT (Magnetresonanztomographie) nachweisbare Krankheitsaktivität. Werden sie bereits nach dem ersten Schub verabreicht, können sie das Auftreten weiterer Schübe hinaus­zögern.

Tabelle 2: Dosierung und Applikation der Interferon-Präparate

Interferon-Gruppe Handelspräparat Dosis Applikation
Interferon-β-1b Betaferon® Extavia® 250 µg jeden 2. Tag 50 µg jeden 2. Tag subcutan subcutan
Interferon-β-1a Avonex® Rebif® 30 µg einmal pro Woche 22 µg oder 44 µg dreimal pro Woche intramuskulär subcutan

Obwohl alle derzeit verfügbaren Präparate Avonex®, Rebif®, Betaferon® und Extavia® Interferon-β enthalten, unterscheiden sie sich in der Verträglichkeit sowie in der Dosierung und Applikation (siehe Tabelle 2). Der Grund hierfür liegt in der unterschiedlichen Herstellungsweise. Avonex® und Rebif® enthalten Interferon-β-1a, Betaferon® und das identische Extavia® dagegen Interferon-β-1b.

Bakterienprotein geringfügig anders

Interferon-β-1b wird von E. coli produziert. Diese Bakterien können recht preiswert in Massenkultur gehalten werden und liefern große Mengen des rekombinanten Proteins. Ein Nachteil ist, dass Escherichia coli-Bakterien als Prokaryonten keine Proteine glykosylieren können. Das menschliche Interferon-β ist allerdings ein Glykopro­tein. Demzufolge unterscheidet sich das mit E. coli hergestellte Interferon-β geringfügig vom humanen.

Alternativ ließe sich das Interferon mit der Zelllinie aus Ovarien des Chinesischen Hamsters (kurz CHO-Zellen) herstellen. Als Säugetierzellen sind CHO-Zellen in der Lage, Proteine dem menschlichen Organismus annähernd authentisch zu glykosylieren. Auch bei diesem Verfahren kann vereinzelt eine Aminosäure hinzugefügt oder ausgetauscht sein.

Tatsächlich scheint ein fehlender Zuckerrest am Interferon im Organismus der Patienten deutlich antigener zu wirken, als ein etwas veränderter. Denn bei den Interferon-β-1b-Präparaten kommt es signifikant häufiger zur Bildung so genannter Neutralisierender Antikörper. Diese treten bei manchen Patienten nach 24-monatiger Behandlung auf und führen dazu, dass die Wirkung der Therapie nachlässt.

Im Januar 2009 brachte Novartis als Konkurrenzpräparat zu Betaferon® das identische Extavia® auf den Markt. Die Firma hatte mit mehreren Krankenkassen Rabattverträge ausgehandelt, die ab dem 1. Februar galten. Viele MS-Patienten waren nun mit dem Problem konfrontiert, dass ihr Arzt ihnen nicht mehr das gewohnte Medikament verordnete, manche erfuhren erst in der Apotheke, dass sie von nun an das wirkstoffgleiche Extavia® erhalten sollten.

Austauschbarkeit der Präparate

Die beiden Präparate gelten als Bioidenticals. Dieser Begriff bezeichnet Nachfolgepräparate von biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln, die völlig identisch mit dem Originalwirkstoff sind. Davon abzugrenzen sind Biosimilars, die zwar in Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit mit dem Original zu vergleichen sind, aber Unterschiede in der Struktur, zum Beispiel bei der Glykosylierung, aufweisen. Da Biosimilars nicht wirkstoffgleich sind, unterliegen sie nicht der Aut-idem-Regelung. Anders ist das bei den Bioidenticals, beispielsweise bei Betaferon® und Extavia®. Aus pharmazeutischer Sicht spricht nichts gegen einen Austausch beider Präparate, denn Wirkstoff, Dosierung und Herstellungsprozess sind gleich. Aber die zugehörigen Injektionssysteme werden anders gehandhabt. Die Patienten mussten umlernen, was viele verunsicherte.

Vom Patienten abhängig machen

Gemäß der Leitlinien zur guten Substitu­tionspraxis der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG) sollte auf einen Austausch verzichtet werden, wenn es sich um ängstliche oder agitierte Patienten handelt, bei denen ein Präparateaustausch zur Verschlechterung der Compliance führen würde. Auch wenn die Patienten befürchten, ihre Erkrankung könne sich durch den Austausch verschlechtern, solle nicht substituiert werden. Dabei sei es unerheblich, ob die Ängste rational begründet sind oder nicht, so die DPhG.

Die Diskussionen hatten ein Ende, als Bayer Schering im Juli 2009 Betaferon® mit 14 und 3 x 14 Fertigspritzen auf den Markt brachte. Somit enthielten die Packungen eine Fertigspritze weniger als das Konkurrenzpräparat. Damit war ein Austausch der beiden Medikamente ausgeschlossen. Zudem hat der Hersteller inzwischen auch für Betaferon® mit zahlreichen Krankenkassen Rabattverträge abgeschlossen, sodass die Patienten ihr gewohntes Präparat erhalten. Allerdings laufen demnächst für weitere Interferon-­Präparate die Patente aus. Die Firmen, die preiswerte Nachfolger herstellen, stehen daher jetzt schon in den Startlöchern. /

E-Mail-Adresse der Verfasserin

birgit.masekowitz(at)gmx.de